Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MarieOn

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 28.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Britta lebt jetzt mit ihren Kindern, Marscha und Ben und ihrem Mann Philipp in den Marschlanden, einem Bezirk in Hamburg Bergendorf. Sie liebt die Reetdachhäuser von denen sie umgeben sind, Philipp jedoch bevorzugte ein größeres Haus im Neubaugebiet, viel Beton, viele Fenster. Im Gegensatz zu Britta ist Philipp angekommen, sie glaubt noch etwas Zeit zu brauchen. Statt die restlichen Kartons auszupacken, streift sie durch die Gegend, versucht sich die Deichlandschaft zu erschließen.

Als sie mit Marscha schwanger war, verzichtete sie auf eine Karriere als erfolgreiche Geologin. Philipp arbeitete mehr und brachte ein gutes Einkommen nach Hause. Sicher, sie hatte sich schon etwas mehr Einsatz von ihm gewünscht, um auch einmal Freiräume für sich zu schaffen, es dann aber hingenommen, wie es war. Jetzt ist er so eingespannt, dass er ihr abends nicht mehr zuhört, fast beschleicht sie das Gefühl, dass er sich nicht mehr für sie interessiert.

Britta fühlt sich in ihrer Umgebung wie eine Fremde, bleibt nirgends zu lange stehen, versucht keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, ein Gefühl beschleicht sie. Ein Gefühl, das sie kennt, als wäre es in ihre Genetik gebrannt. Sie liest den Namen eines Straßenschildes: Abelke Bleken – Straße und der Name geht ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Britta forscht nach, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die im fünfzehnten Jahrhundert hier lebte und entdeckt allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten. Während sie in die Geschichte Abelkes eindringt findet sie Parallelen zu ihrem jetzigen Leben und ihrem Dasein als Frau. Als ihre Tochter durch sexistische Stimmen ihrer neuen MitschülerInnen gemobbt wird schließt sich der Kreis des kaum Aushaltbaren.

Es reichte eine Frau zu sein, ein Mädchen, das reichte schon, um in Gefahr zu sein, eine Zielscheibe zu sein, erst recht, wenn man sich vorwagte, mit etwas herausragte, aus der Rolle fiel, die falschen Wege betrat oder zur falschen Zeit. S. 166

Fazit: Wow, was für eine Geschichte, geistreich, kreativ und so gut recherchiert. Jarka Kubsova hat eine Botschaft. Sie vermittelt uns, was ich auch so oft gespürt habe, was es heißt eine Frau zu sein. Es ist als wäre unsere Amygdala (Sitz der Angst unterhalb der Hypophyse) epigenetisch vergrößert, was uns zu vermehrter Angst, Sorge und Vorsicht bringt. Allein wegen unserem Geschlecht, sind wir manigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Wenn dann noch patriarchales Machtdenken oder strukturelle Ungerechtigkeiten hinzukommen, werden wir aus der Bahn geworfen.

Die Technik der Autorin ist große Erzählkunst. Jedes Kapitel wird zu einem Cliffhanger, sie widmet ein Kapitel Britta und unserer Gegenwart, im nächsten schaut sie in Abelkes Vergangenheit. Sie lässt sich Zeit diese Geschichten zu erzählen, mich jedoch nicht ungeduldig zappelnd zurück, sondern hält mir einen interessanten anderen Erzählstrang hin, den ich dankbar annehme. Selten hat mich ein Buch, durch seine bildhafte Sprache so sehr bewegt, wie Marschlande. Danke, Jarka Kubsova, dass ich etwas so mitreißendes, schönes lesen durfte. Chapeau.

Bewertung vom 27.11.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Nilufars Vater Khosrow kommt aus Iran, ihre Mutter aus Deutschland. Sie leben in Gießen in einer Plattenbauwohnung. In Khosrows iranischer Familie sind nahezu alle Ingenieure geworden, deshalb ist Khosrow sehr ambitioniert zu studieren. Sein letzter Versuch zur Nachprüfung steht an, aber an dem Tag kommt Professor Fenner einfach nicht.

Manchmal, wenn er nicht zum Fußballspielen mit den anderen Iranern ging, fuhr er extra mit dem Bus eine Dreiviertelstunde zum Bahnhof, um sich eine persische Zeitung zu kaufen. Dann atmete er für einen Moment die Luft aus der Siedlung aus, seine Augen waren zwei rot geschwollene offene Wunden. S. 43

Sie ziehen nach Rabenau, weil Khosrow glaubt, dort die besseren Geschäfte machen zu können. Er findet einen Platz in der Kommunalpolitik und vertreibt Oettinger alkoholfrei nach Iran, aber wegen des Embargos laufen die Geschäfte schlecht.

Nilufar fühlt sich in Deutschland falsch, in Iran fremd. Als alle Stricke reißen, verlässt ihre Mutter Khosrow und geht mit Nilufar zurück nach Gießen, dort ist für Nilufar alles aussichtslos.

Wir kannten die ganze Welt, und sie war grau, feuchtkalt und neblig, ein feiner Nieselregen in unseren Köpfen. Wir lehnten wie Statisten an einer Waschbetonwand, bliesen perfekte Rauchkringel in die Nacht und warteten ab. Unsere Väter waren weg, tot oder unbrauchbar. Wir waren Gespenster. S. 115

Als sie ihren Vater viele Jahre später endlich in Iran besucht, versucht sie sich ihr Land zu erschließen. Nilufar trägt Kopftuch, hat aber ansonsten Schwierigkeiten mit dem Kleidercodex. Ihre Cousine Narges berät sie. Enge Hose, langes weites Oberteil, keine Sandalen auf dem Basar, im Norden Teherans schon. Frauen leben für die Familie, sie kochen Essen und Tee, erziehen die Kinder, führen den Haushalt. Ob, wann und wohin sie vor die Tür gehen, bestimmt ihr Vater, oder Mann. Nilufar befindet sich in einer Matrix aus gesellschaftlichen Konventionen und Benimmregeln Die Familie spricht nicht mehr mit Hassan, Khosrows Bruder, weil der konservativ ist. Während Familienfesten redet Nilufar nur, wenn sie gefragt wird, und dann in angemessener Wortzahl. Die Frauen schneiden ihr Aprikosenstückchen und legen sie vor sie. Begrüßungen sind voller Floskeln.

Friede sei mit dir, du bist mein Bruder, mögest du nicht müde sein, entschuldige, meine Tochter ist zu Besuch, ich möchte ihr zu Ehren gerne ein Lamm schlachten. S. 196

Fazit: Die Autorin hat sich für eine Ich-Erzählung im Präsens entschieden, die Protagonistin ist sie Selbst. Sie fand die richtigen Worte, um mir die beklemmende Beziehung zu ihrem distanzierten Vater zu vermitteln, der sich lieber hinter einer Zeitung versteckt, als sich den schwierigen Fragen zu stellen. Ich spüre die Zerrissenheit aller Beteiligten, die Mentalität, die so anders ist als die kühle Deutsche, die voll von Paragrafen und Regeln ist. Nilufars Vater ist nie hier angekommen, obwohl er sich wirklich bemüht hat. Nilufar selbst ist völlig entwurzelt. Der Klang der Geschichte ist melancholisch. Es ist kein leichter Wohlfühlroman, ich musste mich sehr konzentrieren, um immer wieder rein zu kommen. Ich hatte meine Probleme mitzufühlen und dadurch die Geschichte mitzuerleben und weiß nicht woran es lag.

Bewertung vom 23.11.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Léa führt eine kleine Patisserie mitten in München. Sie verlässt ihre Freundin Toni, weil die kein Interessa mehr an ihrer Beziehung zu haben scheint, Léa ist ihr zu wenig geworden. Um dem Schmerz zu entfliehen renoviert sie ihr Café in einem wilden Dschungel-Look, aber das reicht nicht. Deshalb fährt sie in ihr altes Familiendomizil an der Cote d`Azur, um sich zu sammeln und zu vergessen.

Als erstes trifft sie Claire wieder, die alte Freundin ihrer Mutter. Sie essen, trinken und reden über die Vergangenheit des Hauses. Ihr Großvater, Biologe und Lebemann, der diesen Ort nutzte, um Partys zu feiern. Seine Frau, auch Biologin, die sich dem Nachwuchs, ihrer Tochter Brigitte verschrieb. Brigitte, die jung schwanger wurde und Léa allein gebar, denn erst da, war Léas Vater klar, dass er sich zu jung fühlte für ein Kind. Und so starben auch Brigittes Visionen an eine glorreiche Zukunft. Doch sie ließ sie gerne ziehen, im Tausch gegen das charmanteste, schönste Wesen auf dieser Welt, Léa.

An Léas zweitem Abend hört sie Geräusche. Aus dem Gebüsch tritt eine junge Frau, sie ist vielleicht sechzehn. Sie kommen ins Gespräch, lernen sich ein wenig kennen. Léa genießt die Anwesenheit von Alice und sie verabreden sich für den nächsten Tag. Doch als Léa die Zutaten für den Pain un chocolat besorgt, den sie versprach zu backen, da war Alice schon tot, ertrunken in der Badewanne ihrer Eltern, das Kind, das sie trug acht Wochen alt.

Fazit: Ich mag die Geschichte sehr. Die Autorin hat mich auf verschiedene Arten bewegt. Anika Landsteiner ist eine spannende Liebesgeschichte gelungen. Ich habe mit den beiden ProatagonistInnen mitgefiebert, wollte unbedingt, dass sie, trotz aller Ängste zusammenkommen. Ich mag auch die Seite des Romans, der auf die Probleme von Frauen hinweist, die alleinige Macht über ihren Körper zu behalten. Es geht um den Umgang mit Abtreibung und den gesellschaftlichen Druck. Und es geht um Frauen, die ihre Karriere zugunsten ihrer Kinder an den Nagel hängen, was so selbstverständlich zu sein scheint. Ebenso um Frauen, die nach der Geburt von den Vätern ihrer Kinder verlassen werden. Und um Frauen, die Frauen lieben. Insofern ist es ein feministisches Buch, interessant zu lesen, durch einen intelligenten, attraktiven, feinsinnigen jungen Mann, der Léa begleitet und gefährlich nah kommt. Was kann man noch wollen, von einem perfekten Buch.

Ich war selbst an der Cote d´Azur, in Nizza, Monaco, Cannes und St. Tropés, während ich in der kleinen mitteralterlichen Stadt Éze gewohnt habe. Deshalb hat mich die Stimmung des Buches so gut abgeholt, der Duft der Orangen, des weichen warmen Brotes. Das weiche Wasser, das die Haut umschmeichelt. Es ist auch ein sinnliches Buch, weil die Autorin die richtigen Worte findet diese Eindrücke wiederzugeben. Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 20.11.2023
Der Liebende
Ehrenhauser, Martin

Der Liebende


sehr gut

Monsieur Haslinger, pensionierter Geistlicher, gibt im Hopital Saint-Pierre in Brüssel, ehrenamtlich Beistand. Schon so lange allein lebend, weiß er was ihm gut tut, daher nimmt er kleine Portionen zu sich, immer voran ein kleines Gebet des Dankes. Er geht am frühen Abend zu Bett und lebt bescheiden in einem Ein-Zimmer-Appartement. Sein kleiner Balkon wird geziert von einem Blumenmeer, denn er versteht sich gut darin und weiß ihnen zu geben was sie brauchen.

An einem Abend liegt er noch lange wach, weil die neue Nachbarin Gäste hat. Es ist ein warmer Abend, daher geht er zum Fenster und schaut dem Treiben ein Weilchen zu. Nachdem die Gäste sich verabschiedet haben, räumt Madame Janssen Gläser und Flaschen ins Haus. Sie spürt, dass sie beobachtet wird und spricht in die Dunkelheit, fragt ihn, ob sie zu laut waren. Nach dem ersten Schreck des Ertappt werdens, beginnt Monsieur sich in ihrer Anwesenheit wohl zu fühlen.

Er lädt seinen besten Freund, den Docteur zu einer Runde Schach ein. Diesesmal untermalen sie das Spiel mit einer Flasche Champagner, denn Monsieur Haslinger will Madame Janssen zeigen, dass auch er voller Lebenslust steckt. Der Dokteur bemerkt, dass Monsieur, unruig immer wieder auf die untere Terasse schaut, sagt jedoch nichts.

Monsieur Haslingers Interesse für Madame wächst. Plötzlich sieht er sie aus dem Fenster einer Bücherei vorbeilaufen, oder den Marktülatz überqueren. Er bleibt versunken vor ihrer Haustüre stehen, weil er wissen will wie sie heißt. Elise steht auf ihrem Klingelschild. Elise.

Eines Tages kümmert sich Elise nicht um ihre Blumen. Tagelang trocknen die Pflanze in der Sommersonne vor sich hin und Monsieur Haslinger gerät in Sorge.

Fazit: Eine fein inszenierte Geschichte, die in aller Ruhe beginnt. Ein katholischer Geistlicher, der bekanntermaßen dem Zölibat verpflichtet ist, verliebt sich in eine souverän erscheinende, überaus weiblich wirkende Frau und ist hin und hergerissen. Seine Angst vor dem Gerede der Leute ist zuerst größer, als die Angst seinem Amt nicht gerecht zu werden. Er weiß, dass viele seiner Kollegen sich heimlich zwischenmenschlichen Gefühlen hingeben, doch deswegen muss er es ihnen nicht gleichtun. Der Autor hat beide Charaktere fein herausgearbeitet und so werden sie glaubhaft. Am Ende geht es um romantische Liebe, eigene Wertvorstellungen, den Lebensherbst und das Loslassen. Eine zärtliche berührende Geschichte, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 16.11.2023
Jahrhundertsommer (eBook, ePUB)
Grünfelder, Alice

Jahrhundertsommer (eBook, ePUB)


sehr gut

Als die dumme Kuh, Magda steckt, dass ihr Alter sich mit ner anderen trifft, ist er auch schon auf und davon. Das Geld von ihren Eltern hat sie ihm in den Rachen geworfen, für seine Weiterbildung. Sie selbst hat keine Ausbildung, wäre Zeitverschwendung gewesen. Ihr Weg war vorprogrammiert. Heiraten, Kinder, Haushalt. Jetzt geht sie Putzen, hat einen schlecht bezahlten Knochenjob gefunden. Die Leute im Dorf wechseln die Straßenseite, wenn sie sie sehen. Die Nachbarn tuscheln über sie.

Den Johnny lernt sie auf einem Dorffest kennen, kommt aus Amerika, ist hier stationiert und fährt die Pershings durch die Gegend. Dann ist er auf einmal weg, Vietnam sagen sie ihr. Jetzt reden die Leute erst recht blöd, weil plötzlich ein kleines Mädchen bei ihr lebt. Die Ellen, die sie heimlich zur Welt gebracht hat.

Jetzt traut Magda wirklich keiner glücklichen Fügung mehr. Die Enttäuschung wäre am Ende zu groß.

Fazit: Jahrhundertsommer ist eine solide Geschichte über das Nachkriegsdeutschland. Die Gesellschaft, eine einzige Wunde, aus Wut, Scham und Neid. Die Männer bestimmen, dass Frauen wertlos sind, einzig gut, um zu putzen und den Nachwuchs zu zügeln.

Die Autorin vermittelt gekonnt, wie das Pech an Magdas Nachkommen klebt, wie sich jeder von ihnen immer wieder durch harte Arbeit vor dem Untergang retten muss. Nichts gibt es umsonst, selbst das Unglück nicht. Sprachlich überzeugt die Autorin durch einfache kurze, teils abgebrochene Sätze und gibt damit ein exaktes Bild wieder, wie Menschen, mangels Bildung sprechen.

Auf den letzten Seite läuft Alice Grünfelder zur Hochform auf, schildert die Unerträglichkeit eines schweren Verlustes, lässt mich mitfühlen, mittrauern. Und am Ende schließt sich der Kreis, nichts ist leicht und schon gar nicht umsonst. Jahrhundertsommer (schöner Titel) habe ich gerne gelesen.

Bewertung vom 13.11.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


sehr gut

Sara ist 14 Jahre. Ihre Mutter starb an Heroin, das der Vater ihr besorgt hat. Seitdem kümmert Sara sich um ihren jüngeren Bruder. Sie verliebt sich in die Klassenkameradin Annie, die ihre Annäherungen erwiedert. Als Annie nach ihrem letzten heimlichen Treffen leblos aus dem Fluss gezogen wird, ändert sich für Sara alles. Sie lernt den mittellosen Grant kennen, der nach Los Angeles will.

In L.A. lebt Emilie, die sich für keinen ihrer Studiengänge entscheiden kann. Sie fängt an in einem Blumenladen zu jobben und entwickelt ein sicheres Auge für die schönsten Blumenarrangements. Einige feste Kunden in der Gastronomie sichern ihren Lebensunterhalt. Während sie das angesagte Lokal Yerba Buena dekoriert, kommt ihr der Inhaber näher.

Es ist schwierig die Handlung zu beschreiben ohne zu spoilern, deshalb ende ich hier.

Fazit: Zuerst erschienen mir in der Geschichte zu viele Namen. Zwei junge Frauen mit eigenen Familien und Freundschaften erschwerten mir das Folgen. Der Anfang von Saras Geschichte ist erschütternd drastisch und mir ist klar warum sie mit fünfzehn Jahren weg will. Emilies Geschichte unterscheidet sich von Saras dadurch, dass ihre Schwester drogensüchtig ist und mehrere Klinikaufenthalte, aber auch einen Suizid hinter sich hat. Beide haben traumatische Erfahrungen gemacht, die sich bei jeder anders zeigen. Während Sara nach außen sehr taff wirkt, ist sie im Inneren gebrochen und verletzlich. Emilie ist die gute Zuhörerin, die immer alles zu verstehen versucht. Das Buch hat von vielem etwas, ein bisschen Queerness, etwas Erotik, Vernachlässigung, Erwachsen werden, Selbstbestimmtheit, Verantwortung und Mut. Die Autorin hat alle diese Themen unter einen Hut gebracht, ohne belanglos oder trivial zu wirken. Es ist eine technisch gut gemachte Wohlfühlgeschichte, so angenehm und entspannend, wie ein warmes Bad an einem verregneten Herbstnachmittag.

Bewertung vom 09.11.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin Mila Meyring, 34 Jahre, promovierte Kulturwissenschaftlerin wünscht sich ein Real Life Reset.

Als mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nicht einhielt. S. 13

Trotz Tinder, Okcupid und Co. hat Mila sich schon länger nicht mehr daten lassen, seit Nicki und sie nicht mehr zusammen sind. Ihre Accounts bei Facebook, Instagram und TicTok hat sie längst gelöscht. Sie entwickelt die Angst in einem digitalen Inferno gelyncht zu werden. Ebenso hat sie Angst die Kontrolle zu verlieren, in ihrer Real Time Life Balance zu kurz zu kommen und auch das Urteil anderer fürchtet sie zunehmend. Nach und nach schaltet Mila alles ab, was sie beeinflussen könnte. Das Fenster zur Welt schließt sich. Es erstaunt sie, dass sie scheinbar nicht vermisst wird. Einzig zu vier Menschen hält sie noch Kontakt. Sie schreiben sich SMS, oder Email, um sich zu verabreden, telefonieren aber selten.

Ein wenig verunsichert ist Mila schon, dass sie von Putin und der Ukraine kaum etwas mitbekommt, Einen atomaren Krieg kann sie sich vorstellen. Die Anbieter von Satellitenfernsehen hat sie gekündigt, einen Blick in den viralen Äther erlaubt sie sich nur noch selten. Die Erhöhung der Nebenkosten lässt sie schier verzweifeln, denn sie hat ihren Job gekündigt, weil die ihr Mitarbeiterinnenprofil ins Netz gestellt haben.

Mila versucht ihre digitalen Fußabdrücke zu löschen und stresst sich dabei zunehmend. Ihre Befürchtungen nehmen schizoide Züge an und führen zu irrationalen Vermeidungsstrategien. Sie steigert sich rein, alles dreht sich nur noch um sie, Selbstbezogenheit breitet sich aus. Die Kontrolle, die sie glaubte im viralen Dasein zu verlieren, verliert sie jetzt offline über sich selbst, ihren Körper, ihren Geist. Mila wird zum einsamen mentalen Wrack.

Fazit: Eine intelligent geschriebene Geschichte über unsere digitale Gegenwart, mit erfrischenden Abstechern in die Popkultur Berlins, in der Mila aufgewachsen ist.

Ich kam mir vor wie die Protagonistin eines Drop-out-Channels oder das verhüllte Gesicht eines NosurfPRStunts. S 170

Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wärend derer, Milas Obsession sich der Welt zu entziehen sich steigert. Die Wahrnehmung der Protagonistin hat mich mitgerissen. Milas Selbstbezogenheit war zwischenzeitlich nervig, aber das liegt eher daran, dass ich das von mir selbst kenne und tut der Intention der Geschichte keinen Abbruch.

Der Haupttenor der Geschichte war für mich: “Sobald du dich dafür interessierst was andere über dich denken, fangen deine Probleme an.”

Bewertung vom 02.11.2023
No Regrets
Falk, Dietlind

No Regrets


ausgezeichnet

Der schroffe abgefuckte Hänk und Muddy, der nicht genug Zähne im Maul hat, weil er Zahnärzte fürchtet, sind Tätowierer in Muddys Studio. Es ist kein Studio, wie man sich im allgemeinen ein solches Studio vorstellt, sondern eins, das Muddy und Hänk widerspiegelt.

Jemand mit Zwangsstörung hätte es hier jedenfalls keine drei Sekunden ausgehalten. S. 21

So denkt Luz, die mit den bunten Haaren, als sie sich im Tattoostudio No Regrets vorstellt und den Job bekommt. Mit ins Boot, steigt der junge schwule Rudolf, dessen Eltern das nicht wissen dürfen, also das mit dem Schwulsein und, dass er sein Studium geschmissen hat.

Seit Hänk von seiner Freundin verlassen wurde, kurz bevor seine Mutter starb, ist er grießgrämig. Sein Vater war ein unterkühlter Typ, zu dem er keine feste Beziehung aufbauen konnte, was ihn insgesamt ein bisschen steif wirken lässt, im Umgang mit Gefühlen.

Tja und Luz hat auch ihre Probleme, ist aber richtig gut im hineinfühlen und erkennen …

Sie fragte sich, ob es einen Ort gab, an dem er sich wohlfühlte (Rudolf), an dem er freier atmen konnte und sich der Boden unter seinen Füßen nicht anfühlte wie eine morsche Hängebrücke. Es musste schrecklich sein, dachte sie, so jung zu sein und so talentiert, ohne sich aufgehoben zu fühlen in der Welt. S. 187

Fazit: Was für eine geniale Geschichte, die fast durchgängig urkomisch ist. Allerdings ohne trivial zu sein. Der ernste Hintergrund ist, dass alle vier Menschen unter mangelndem Selbstwert leiden, wie wir fast alle. Sie haben nicht gelernt sich anzunehmen, wie sie sind. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten finden sie aber im jeweils anderen, jemanden, der sie akzeptiert und sogar liebt, mit all ihren Ängsten, Verschrobenheiten und Eigenarten. Es ist eine Geschichte von Freundschaft und Zusammenhalt, gemalt von Dietlinde Falk, die genau die richtigen Worte findet, in mir die schrillsten Bilder entstehen zu lassen und mich zutiefst mitfühlen lässt. Das ist große Kunst.

Ich bin auch deswegen so begeistert, weil ich selbst aus diesem Metier komme und bestätigen kann, dass es genau solche Typen real gibt.

Bewertung vom 01.11.2023
Wo die Geister tanzen
Osman, Joana

Wo die Geister tanzen


ausgezeichnet

Die Autorin macht sich auf die Suche, hofft die Geschichte ihrer Familie zu verstehen und, warum sie sich so zu Israel, diesem fruchtbaren Land hingezogen fühlt.

1948 verlassen die Briten desillusioniert das Gebiet und geben an die UNO ab. Zwischen Israel und Palästina bricht Krieg aus, bei dem 170.000 Palästinenser vertrieben werden. Die Juden riegeln Jaffa ab und umzäunen das ganze Gebiet mit Stacheldraht und erklären ihre Unabhängigkeit. Einen palästinensischen Staat hatte es nie gegeben. An Nakbah (arabisch) = Die Katastrophe ist Dreh- und Angelpunkt des israel-palästinensischen Gesamtproblems.

Die Ahnen von Joana Osman gehen nach Beirut, aber dort findet ihr Großvater Ahmed keine Arbeit, weil er keinen Pass hat. Ahmed irrt im weiteren Verlauf der Geschichte , mit seiner Familie, die wächst, in die Türkei, wo er für kurze Zeit Arbeit findet.

In der Hauptsache waren alle arm, vor allem in der Diaspora. Von März bis Oktober stand die Hitze in den Gassen von Beirut, ballte sich heiß und drückend an Hausecken und über Abfallhaufen zusammen um die letzten Sauerstoffmoleküle aus der Luft zu saugen, bis einem das Denken so schwerfiel wie das Atmen. S. 33

Im Grunde ist die Geschichte aller Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, eine traurige, weil sie überall nur geduldet werden und nirgends ankommen können. Und alle tragen die Geister derer in sich, über die nicht gesprochen wird, weil das darüber sprechen ihre Körper durchschüttelt und beben lässt. So ziehen die Verstorbenen, die ausnahmslos Opfer eines verrückten Kriegs waren, durch ihre Leben und manifestieren sich durch Traurigkeit, Schlaflosigkeit und quälende Scham.

Das Trauma ist sichtbar in unserer Art uns zu bewegen – mühevoll, als fehlte uns der innere Schwerpunkt. Das Trauma ist spürbar in der Art, wie wir uns immer ein wenig verloren und verlassen fühlen und stets nach einem Mittelpunkt suchen, nach einer Heimat, einem Zuhause, nach Geborgenheit. S. 185

Fazit: Eine erschütternde Geschichte über den schwelenden und immer aufs Neue eskalierenden Nahostkonflikt, die mit großer Leichtigkeit erzählt und an den richtigen Stellen großzügig mit Humor gewürzt wurde. Das Buch passt so ungeheuer gut in diese Zeit, weil es mir, als außenstehende Europäerin das ganze Ausmaß von An Nakbah (die Katastrophe) nachebringt. Die Autorin klagt niemanden an, sondern zeigt, wie sich die Dinge so entwickeln konnten und erlaubt sich, ein Mahnmal zu setzen, das für Vernunft und den Willen zum Frieden plädiert. Ich möchte dieses Buch nicht empfehlen, ich möchte Euch bitten, es zu lesen.

Bewertung vom 01.11.2023
Risse
Klüssendorf, Angelika

Risse


sehr gut

Die namenlose Ich-Erzählerin hat einen Vater, den schönen Egon, der ist 27 Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter und malt Ölbilder vom Meer. Die Mutter ist schwer alkoholabhängig und 17 Jahre alt, als sie das Mädchen bekommt. Indem Elternhaus des Mädchens herrscht die Gewalt vor. Der schöne Egon versäuft das Geld, das die Mutter beim Kellnern erwirtschaftet. Sie bunkert es im Küchenschrank, doch er findet es und haut ab, macht Urlaub auf Usedom und hält Frauen aus, bis das Geld aus ist.

Die ersten Lebensjahre des Mädchens verbringen die Eltern im Gefängnis, weil sie sich angeblich der Spionage schuldig gemacht hatten. Irgendjemand vom Staatssicherheitsdienst im Osten Deutschlands hat sie angeschwärzt.

Der Vater heiratet wieder und macht sich auf Usedom mit einem Tanzlokal selbständig. Er erhält das Sorgerecht für das Mädchen. Ihre neuen Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, das Mädchen bleibt sich die meiste Zeit selbst überlassen und baut keine Beziehung zum schönen Egon auf. Sie findet eine Freundin, die 14 ist, drei Jahre älter als sie selbst, mit der will der Vater allein sein, deshalb wartet das Mädchen draußen.

Fazit: Ich will über die Geschichte gar nicht mehr verraten. Eines ist sicher, sie zu lesen tut weh. Was die Protagonistin mit ansehen muss, wie abartig die Erwachsenen sich um sie herum benehmen, ist für mich, als Außenstehende schwer zu ertragen. Es geht um Co-Abhängigkeit, Narzissmus, Gewalt, Vernachlässigung und emotionalen Missbrauch. Wieder lese ich eine Geschichte, die vom Osten Deutschlands handelt und wieder stolpere ich über diese emotionale Kälte, die pathologisch ist. Erwachsene schaden minderjährigen Schutzbefohlenen (ihren eigenen Kindern) und es macht ihnen nicht das geringste aus, sie haben keinerlei Unrechtsbewusstsein.

Zum Ende der Geschichte kann ich nicht mehr so recht folgen. Die Autorin lässt ihre Protagonistin etwas erzählen, das erfunden ist, ich verstehe nicht warum und bin raus. Mir wird dennoch klar, warum Risse auf die Longlist des deutschen Buchpreises kam. Die Geschichte hat es absolut verdient, sie sollte gelesen werden.