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Ingrid von buchsichten.de
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Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 309 Bewertungen
Bewertung vom 12.09.2023
Spiel auf Leben und Tod / Fräulein vom Amt Bd.3
Blum, Charlotte

Spiel auf Leben und Tod / Fräulein vom Amt Bd.3


ausgezeichnet

Im Jahr 1925 erstickt unweit der Spielstätte des Internationalen Schachturniers in Baden-Baden die noch jugendliche Wäscherin Gertrude in einer Wäschetrommel der Dampfwaschanstalt. Im dritten Band der Reihe über das Fräulein vom Amt mit dem Untertitel „Spiel auf Leben und Tod“ von Charlotte Blum bemüht sich Alma Täuber, die titelgebende Protagonistin, um die Aufklärung der Umstände unter denen die Angestellte der Wäscherei ums Leben kam. Eine Kollegin hat sie um ihre Mithilfe gebeten, denn die Verstorbene ist eine Cousine und Mitbewohnerin von ihr.

Alma zögert zwar zu helfen, aber es ärgert sie, dass die Kollegen von Kriminalkommissar Ludwig Schiller, mit dem sie bereits seit längerem fest befreundet ist, den Tod der Wäscherin als Selbstmord oder Unfall zu den Akten heften. Schnell erkennt sie Ungereimtheiten und überlegt gemeinsam mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin Emmi und ihrem Cousin Walter, der beruflich in der Stadt ist, wie sie an nähere Informationen über die Verstorbene und deren privates Tun und Lassen gelangen kann.

Am Schachturnier hat sie zunächst wenig Interesse, begleitet ihren am Spiel interessierten Freund aber zu einer Veranstaltung und erfreut sich an der Atmosphäre der Veranstaltung. Später erfährt sie davon, dass während der Spiele Langfinger unterwegs sind. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Alma weiß, dass es weit hergeholt ist zu überlegen, ob der Tod von Gertrude in Verbindung mit den Diebstählen steht, bis sie in eine für ihr eigenes Leben bedrohliche Situation gerät.

Erneut verbindet das Autorinnenduo, das unter dem Pseudonym Charlotte Blum schreibt, einen fiktiven Kriminalfall mit historischen Fakten, zu denen das Schachturnier gehört, das von der Stadtverwaltung der Kur- und Bäderstadt damals veranstaltet wurde. Es gelingt ihnen, durch zahlreiche Beschreibungen der Umgebung, kulturellen Begebenheiten und politischen Hintergründen ein vorstellbares Bild der damaligen Zeit entstehen zu lassen. In einem Glossar am Ende des Buchs erhält man kurze Erläuterungen zu damals wichtigen Persönlichkeiten, zu Literatur, Musik und verschiedenen zeitgeschichtlichen Begrifflichkeiten.

Die Entwicklungen im Fernmeldewesen in Form der technischen Neuerung des Selbstwählapparats bringen Alma zum Grübeln über ihre berufliche Zukunft. Mit den neun Kolleginnen ihrer Schicht kommt sie gut zurecht. Man hilft einander oder lästert gemeinsam. Ihren Heiratswunsch hat die Protagonistin bisher aufgeschogen, weil sie dann ihre Arbeitsstelle aufgeben müsste. Täglich wartet sie darauf, dass es Entlassungen geben wird.

Bei den Ermittlungen sorgen die Verbindungen zu Bekanntschaften der lebenslustigen Emmi für AnsprechpartnerInnen, die Alma dazu nutzt, weiterführende Informationen zu erhalten. Aufgrund ihrer vergangenen Erfahrungen machte sie diesmal auf mich einen forscheren Eindruck, wenn es darum ging, sich unbekannten Situationen auszusetzen wie beispielsweise dem Besuch eines als verwerflich angesehenen Lokals.

Mit dem dritten Band „Spiel auf Leben und Tod“ der Serie um Alma Täuber, dem „Fräulein von Amt“ knüpft Charlotte Blum nahtlos an die erfolgreichen ersten beiden Bände an. Der zu ermittelnde Fall ist ansprechend gewählt und ungewöhnlich, so dass er Anreiz zum Miträtseln bietet. Die Verknüpfung mit dem tatsächlich stattgefundenen Schachturnier des Jahrs 1925 in Baden-Baden ist geschickt gesetzt und in der Umsetzung gelungen. Das Buch ist ein Must-Read für alle Fans der Serie und sehr gerne empfehle ich das Buch an alle Freunde historischer Kriminalromane weiter.

Bewertung vom 11.09.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Zwei Frauen und 500 Jahre, die sie voneinander trennen und dennoch findet Jarka Kubsova in ihrem Roman „Marschlande“ verbindende Elemente in deren Suche nach einem eigenständigen Leben. Abelke Bleken lebte im 16. Jahrhundert und ist eine historisch verbürgte Person, die die Autorin mit Leben füllt. Die im Südosten Hamburgs ansässige Britta Stoever ist dagegen eine rein fiktive Figur, in deren Charakter sich manche Leserin sicher wiederfinden wird. Der Alltag der beiden ist sehr verschieden in eben jener, als Marschlande bezeichneten Gegend, stellt aber die zwei Frauen in ihrer jeweiligen Zeit vor besondere Herausforderungen.

Abelke bewirtschaftet den großen geerbten Hufnerhof ganz allein, nachdem ihr Personal nach einem Deichbruch sie verlassen hat, um andernorts mehr zu verdienen. Sie steht in der Verantwortung, die Schäden am Deich in kurzer Zeit ausbessern zu müssen. Ihre Hoffnung auf Hilfe schwindet immer mehr und sie erkennt, dass ihre Rolle als Frau damit in Zusammenhang steht, denn die meisten ihrer Zeitgenossen und -genossinnen sehen das weibliche Geschlecht als Versorgerin von Küche und Kindern. Aber Abelke ist ohne Partner*in.

Auch Brittas Mann sieht Jahrhunderte später seine Frau am liebsten am Herd und in der Umsorgung der Tochter und des Sohns. Er selbst ist im Beruf erheblich eingespannt und stolz darauf, mit seinem Gehalt den kürzlichen Hauskauf finanzieren zu können. Britta erhält in ihrem Halbtagsjob, dessen Anforderungen hinter ihren Kenntnissen zurückbleiben, kaum Anerkennung.

Bei beiden Frauen nährt sich die Wut darüber, dass sie nicht gleichberechtigt behandelt werden. Abelke fühlt sich im Vergleich mit anderen Hufbauern zurückgesetzt und Britta spürt das Ungleichgewicht, wenn es um die Aufgabenverteilung in ihrer Ehe geht. Dabei nutzt auch Reden nichts, denn diejenigen, die ihren Vorrang erworben haben und damit auch eigene Vorteile, werden von ihrer Position kaum weichen. Wenn sie aus ihrem Umfeld heraus unterstützt werden, kann es sein, dass sie gleicher als gleich werden; Orwell lässt grüßen. Währenddessen staut sich bei den Frauen der Frust an.

Britta beschäftigt sich mit dem Schicksal Abelkes, nach der in Hamburg eine Ringstraße benannt ist, und wird sich dabei umso mehr ihrer eigenen Probleme bewusst. Anders als früher findet sie heute offene Ohren für ihre Sorgen und vermag es, Konsequenzen zu ziehen.

Jarka Kubsova bindet die von ihr geschilderten Lebensabschnitte der Frauen in eine Umgebung ein, die häufiger extremen Wetterkapriolen ausgesetzt ist. Stürme und Überschwemmungen fordern den Bewirtschaftern der Böden einiges ab. Dank der schnörkellosen Beschreibungen konnte ich mir die Gegend beim Lesen gut vorstellen und empfand sowohl die Härte der damaligen Bestellungsarbeiten wie auch die Schönheit der malerischen Landschaft, wie sie sich bis heute darstellt.

In ihrem Roman „Marschlande“ beschreibt Jarka Kubsova einfühlsam zwei Frauenleben, die durch viele Jahrhunderte getrennt sind und in denen sich dennoch Gemeinsamkeiten in ihrem Streben nach Selbstbestimmung finden. Wie in ihrem Buch „Bergland“ setzt sie auch hier eine Akzentuierung auf das Ansehen der Arbeit von Frauen und zeigt im Vergleich von damals und heute, wie klein der Fortschritt auf dem Gebiet der Gleichberechtigung ist. Für mich ist das Buch erneut ein Lesehighlight und darum empfehle ich es gerne weiter.

Bewertung vom 10.09.2023
Tausend und ein Morgen
Trojanow, Ilija

Tausend und ein Morgen


ausgezeichnet

In der utopischen Welt ohne Kriege, in der Ilija Trojanows Roman „Tausend und ein Morgen“ spielt, hat die Menschheit es geschafft, einige ihrer heute größten Probleme zu lösen. Der Klimawandel, die Armut und der Hunger gehören dazu. Die Protagonistin Cya beendet gerade ihre Ausbildung zur Chronautin, einer Berufsgruppe, die in die Vergangenheit zu Zeitpunkten reist, von denen sie sich erhoffen, dass sie dort eine kleine Änderung vornehmen können, die dann zu mehr Friedlichkeit führt. Eine Einmischung in den Handlungsablauf ist nicht einfach und scheitert öfters als erwünscht. Folgen durch die Änderung für ihre eigene Welt befürchten die Chronautin nicht, weil sich das Universum sowieso unentwegt verzweigt. Darauf nimmt der Titel Bezug, der auf die vielen Möglichkeiten hinweisen möchte, die der Menschheit zur Verfügung stehen, ein Leben zu gestalten und dabei sein Potential einzusetzen.

Bei der Zeitreise ist die Begleitung durch eine künstliche Intelligenz sinnvoll. Ilija Trojanow nutzt sie dazu, um Cya Erklärungshilfen in einer ihr weitgehend unbekannten Umgebung zu geben und dadurch auch dem Lesenden. Die KI entwickelt sich aufgrund des zugewonnenen Wissens weiter, was aber zu der Gefahr führt, dass ihr Algorithmus zusammenbricht. Auch ein Buddy steht jedem Chronistin zur Seite. Außerdem ist die Reisezeit beschränkt. Dabei hat Cya anfangs das Problem, sich der Situation von Anwesenden im Damalsdort, wie sie die Vergangenheit nennen, unbemerkt zu entziehen, um in ihre Gegenwart zurückzukehren. Obwohl die Chronistin bei ihren Reisen über körperliches Empfinden und Gefühle verfügt, stirbt sie bei einem dabei eintretenden Tod nicht in ihrer utopischen Welt. Durch die Erfahrungen können sich die Eindrücke verändern. Bisher waren Chronistin nicht so erfolgreich wie gewünscht, aber sie machen Fortschritte.

Ihre Raumzeitreisen führen Cya ins 18. Jahrhundert zu Piraten in der Karibik, in unserer Gegenwart nach Indien zu religiösen Fanatikern, ins Jahr 1984 zu den Olympischen Spielen und schließlich in die Zeit der russischen Revolution. Derweil kommt es auch in der utopischen Gegenwart zu Konflikten. Es steht die Frage im Raum, was passiert, wenn Jemand durch die Einwirkung eines anderen stirbt. Ebenso zeigt der Autorbeispielhaft einen möglichen Umgang der zukünftigen Gesellschaft mit einem Andersdenkenden.

Ilija Trojanow spielt in seinem Buch mit der Präsentation des Geschriebenen. Allgemeine Handlungsabläufe sind im Blocksatz gedruckt. Die reichlichen Dialoge sind linksbündig gesetzt, wenn sie in der Zukunft geführt werden, solche im Damalsdort sind rechtsbündig und die Hinweise der Künstlichen Intelligenz immer kursiv. Übergänge werden mit einer fettgedruckten Phrase angedeutet. Ich gebe zu, dass der Schriftsatz auf mich auf den ersten Blick einen ansprechenden Eindruck machte. Zu Beginn des Lesens war ich kurz irritiert, aber eine Orientierung mit Zuordnung gelang mit nach wenigen Seiten.

Der Autor taucht in die verschiedenen Gesellschaften der Vergangenheit tief ein. Cya betritt bei jeder Reise eine unbekannte Situation. Durch ihre Beschreibungen konnte ich mich als Leserin gut einfinden. Die Dialoge kommen in der Regel ohne zusätzliche Ergänzungen von Bewegung und Lautmalerei aus. Neue Figuren stellen sich dabei meist selbst vor und erzählen aus ihrem Leben. Ilija Trojanow lässt die Personen mit unerschöpflichen Aspekten von einer Welt voller Missständen, Gewalt und Machtansprüchen erzählen. Die Freude an der Formulierung ist den geschilderten Geschehnissen anzumerken. Für die Protagonistin ist es nicht einfach, als friedfertiger Mensch in einer raubeinigen oder oft barbarischen Umgebung authentisch zu erscheinen und nicht aufzufallen. Auch wenn ihr dabei die künstliche Intelligenz zur Seite steht, muss sie immer bedenken, dass diese nur ihre Aufgaben zu erfüllen hat und ihr nicht gefühlsmäßig nahe rücken darf. Jede Zeit, in die der Autor den Lesenden eintauchen lässt, hat Themen, die er mühelos am Rande ausformuliert, darüber sinniert und dadurch zum Nachdenken anregt.

Im Roman „Tausend und ein Morgen“ führt Ilija Trojanow uns vor Augen, dass unsere Welt von uns gemacht wird. Jede unserer Entscheidungen führt zu weitreichenden Folgen, nicht nur für uns, sondern auch für andere. Allerdings moralisiert er nicht, sondern stößt beim Lesenden manchen Gedankengang an mit der Frage, was denn wäre, wenn anders entschieden und gehandelt würde. Ich bin der Chronistin gerne auf ihren Wegen gefolgt. Das Buch ist für Lesende geeignet, die fantastische Ausflüge und grenzüberschreitendes Schreiben mögen.

Bewertung vom 10.09.2023
Gittersee
Gneuß, Charlotte

Gittersee


ausgezeichnet

Gittersee liegt im Südwesten von Dresden und ist Handlungsort des gleichnamigen Romans von Charlotte Gneuß. Nicht nur das Foto auf dem Umschlag, sondern auch die Erzählung gab mir als Leserin einen Einblick in das Leben einer Familie, Mitte der 1970er Jahre. In einem kurzen Prolog, in dem geschildert wird, das einer Person etwas zugestoßen ist, wurde ich neugierig darauf, um wen es sich handelt und wie es geschehen ist, was eine gewisse Hintergrundspannung während des gesamten Lesens erzeugt.

Die Protagonistin Karin ist 16 Jahre alt und geht noch zur Schule. Ihre Mutter war noch jung, als sie mit ihr schwanger wurde und sie hat vor zwei Jahren nochmals Nachwuchs bekommen. Der Haushalt wird von der hinfälligen Mutter des Vaters geführt, während die Eltern beide in Vollzeit arbeiten. Karin hilft mit Selbstverständlichkeit überall, wo die Familie sie braucht. Ihr Alltag wird gestört, als ihr Freund Paul eines Tages von einem Ausflug nicht wiederkehrt. Daraufhin steht die Polizei vor der Tür ihres Zuhauses und hat eindringliche Fragen an sie, ob sie von Pauls Plänen gewusst hat, der vermutlich aus der Republik geflohen ist.

Karins Leben lief in geordneten Bahnen. Der Kapitalismus im Westen wurde zwar immer wieder, meist in der Schule beschimpft, aber die Teilung Deutschlands hatte für sie persönlich keine Wichtigkeit. Von ihrer Mutter erfährt Karin, dass es Personen gibt, die raus wollen aus dem biederen Umfeld, das eingesponnen ist in die sozialistischen Ideen des Staats. Sie bemerkt es außerdem an den fliegenden Ideen ihrer besten Freundin Marie. Charlotte Gneuß flicht in die Freundschaft der beiden Mädchen Eifersucht ein.

Immer wieder wendet sich der Polizist mit weiteren Fragen an die Protagonistin und untergräbt damit die Leichtigkeit, mit der sie ihren Alltag meistert. Sie beginnt über Vergangenes nachzudenken und darüber, ob liebgewonnene Menschen ihr tatsächlich stets wohlgesonnen waren und sind. Der Verlust von Paul nagt an ihr und die Umstände seines Verschwindens werden für sie zunehmend zu einem Puzzle mit vielen Teilen ohne Hoffnung darauf, es zusammenfügen zu können. Erst allmählich wird ihr bewusst, dass ihre Aussagen Konsequenzen für andere Personen haben.

Beim Lesen fühlte ich mich kulturell zurückversetzt in die 1970er Jahre. Obwohl ich im Westen aufgewachsen bin, wusste ich durch einen langjährigen Briefwechsel mit einer Freundin im Osten unseres Landes unmittelbar um die ideologischen Unterschiede und empfand die Schilderungen der Autorin als authentisch. Die Autorin beschreibt Träume und Wünsche, nicht nur von Jugendlichen und den Willen dazu, diese zu verwirklichen, aber genauso die eingeschränkten Möglichkeiten der Realität, sie zu erreichen. Sie lässt ihre Figuren auf verschiedene Weise mit Frust umgehen und stellt manches geschickte Taktieren dar, um Ziele zu erreichen.

In ihrem Roman „Gittersee“ erzählt Charlotte Gneuß vom Erwachsenwerden im Osten Deutschlands während der 1970er Jahre. Sie zeigt anhand ihrer 16-jährigen Protagonisten den Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Situation und Schritte der psychosozialen Reifung auf. Ich habe die Geschichte mit Interesse gelesen und empfehle sie daher gerne weiter.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2023
Das Licht zwischen den Schatten
Beck, Michaela

Das Licht zwischen den Schatten


ausgezeichnet

In ihrem ersten belletristischen Roman „Das Licht zwischen den Schatten“ verknüpft Michaela Beck drei individuelle Schicksale mit der Geschichte Deutschlands in den Jahren von 1919 bis 1989. Gemäß dem Titel schaut sie auch auf einige unrühmliche Ereignisse der Vergangenheit, in denen sich aber wie ein Silberstreif am Horizont ebenfalls verschiedene Formen von Widerstand zeigten. Die Autorin stellt der Erzählung ein Gedicht voran, von dem später ein oder zwei Sätze einen der fünf Teile des Buchs eröffnen. Dadurch wurde ich neugierig auf den nächsten Abschnitt, denn darin wird angedeutet, worauf im Folgenden der Fokus liegt. Es geht darum, im Leben seinen Platz zu finden, geliebt zu werden als Kind oder Partner, um Selbstverwirklichung und Reflexion.

Eine der drei Hauptfiguren ist Konrad, dem ich im ersten Kapitel erstmalig im Jahr 1919 als Zehnjährigem begegnete. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder lebt er in Berlin in einer Hinterhofwohnung. Sein Vater hat im ersten Weltkrieg sein Leben gelassen, während er seinen Vorgesetzten gerettet hat. Der wohlhabende Gerettete nimmt die kleine Familie auf und gibt der Mutter Arbeit. Später verliebt sich Konrad in eine der beiden Töchter, die ihn dazu veranlasst, Medizin zu studieren.

Das nächste Kapitel schwenkt hin ins Jahr 1950. Zu dieser Zeit lebt die elfjährige Brigitte mit ihren Eltern und dem älteren Bruder im Dorf Mecklenburg und hängt durch die Beeinflussung eines Bekannten immer noch dem alten nationalsozialistischem Gedankengut an. Im Laufe der Jahre wechselt zwar ihre Gesinnung, jedoch nicht die Hartnäckigkeit mit der sie ihre Ansichten verteidigt. Als letzten Protagonisten lernte ich den verwaisten André kennen, der als Zehnjähriger 1976 in Ostberlin wohnt. Ein erfolgreicher ehemaliger Olympionik im Kunstspringen hat ihn adoptiert und ist gleichzeitig sein Trainer. Aber in seinen Gedanken blitzen immer wieder Gedanken an seine Kindheit auf über die er nicht müde wird, Fragen zu stellen.

Das Leben der drei Hauptfiguren wird im Folgenden von Michaela Beck kontinuierlich weiter betrachtet. Dabei springen die Kapitel zwischen den Personen hin und her und nehmen jeweils einen die betreffende Hauptfigur prägenden Lebensabschnitt ins Visier. Ich bemerkte als Leserin bald, dass es Verzahnungen zwischen ihren Schicksalen geben muss. Dadurch entstand eine hintergründige Spannung. Kleine eingestreute Hinweise fügten sich zum Ende zu einem zusammenhängenden Bild. Bis dahin steuerte die Autorin ihre Hauptfiguren über manche Höhen und Tiefen.

Während Konrad ein ruhiges Erscheinungsbild zeigt und sich aufgrund seiner Unentschlossenheit gerne von anderen Versprechungen leiten lässt, ist Brigitte ein trotziger Charakter, der viel zu oft unüberlegt handelt, aber mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattet ist. André dagegen fühlt unverstanden und wird aufgerieben von seinen Zweifeln am System und seiner Ohnmacht wirksam dagegen aufzubegehren.

Ich habe den Einfallsreichtum von Michaela Beck bewundert und ihren Mut, auch vor der Einbindung großer Schlagzeilen der deutschen Geschichte nicht zurückzuschrecken, sondern Konrad, Brigitte und André darin authentisch agieren zu lassen. Der Umgang mit Juden und Behinderten im Nationalsozialismus, die Frage nach der Mitschuld, der Mauerbau, Flucht in den Westen, Sozialkritik terroristische Vereinigung, Hausbesetzung, Stasi und Mauerfall sind nur größere Themen neben denen es noch viele weitere gibt.

Durchgehend beschreibt die Autorin dank bester Recherche ihre Schauplätze. Konrad, Brigitte und André agieren in einem Umfeld, das ich mir gut vorstellen konnte. Sie offenbart dem Lesenden die Gefühle der Hauptfiguren und lässt ihn teilhaben daran, wie diese zu ihren Meinungen und Entscheidungen finden. Kulturelle Gegebenheiten und geschichtliche Fakten lässt sie mühelos in die Erzählung einfließen.

Der Roman „Licht zwischen den Schatten“ von Michaela Beck besticht durch eine durchdachte Konstruktion des Lebens dreier Personen, das man ab deren Kindheit bis hin zum Mauerfall begleitet. Deren Lebensweg ist nicht nur miteinander, sondern auch mit der wechselhaften deutschen Geschichte verbunden und zeigt, wie der Staat Einfluss auf unsere Geschicke hat und uns Kinder unserer Zeit sein lässt. Das Buch hat einen angenehmen leicht zu lesenden Schreibstil und hohen Unterhaltungswert, so dass ich es gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 28.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


ausgezeichnet

Eine kleine Erbschaft hat es der 24-jährigen Britin Cleo ermöglicht nach New York zu ziehen, um dort Kunst zu studieren. Am Silvestertag begegnet sie dem zwanzig Jahre älteren Frank im Aufzug, nachdem beide eine Party vor Mitternacht verlassen haben. Während sie sich in der Stadt mühsam über Wasser hält und noch nicht weiß, wie es für sie weitergehen soll, wenn ihr Studienvisum in absehbarer Zeit abläuft, betätigt Frank sich erfolgreich als Werbetexter mit eigener Agentur. Die ungleichen Charaktere sind die titelgebenden Figuren und Protagonisten des Romans Cleopatra und Frankenstein – als Verballhornung der Vornamen gedacht - von Coco Mellors in einer gelungenen Übersetzung von Lisa Kögeböhn.

Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen springt ein Funken bei Cleo und Frank über, den ich auch als Leserin wahrnehmen konnte. Die beiden liefern sich zu Beginn ihrer neuen Freundschaft einen amüsanten Schlagabtausch, bei dem sie zugibt, dass sie sich gefühlsmäßig in Liebesdingen zurückhält, vermutlich um sich nicht zu binden und bald nicht nur das Land, sondern auch jemand Geliebtes zurückzulassen. Auch später war es für mich als Lesende nicht immer einfach, Cleos Gefühle nachzuvollziehen.

Die Protagonistin versteht es, sich mit wenigen Mitteln passend und auffallend zu kleiden, jedoch zurückhaltend aufzutreten. Aufgrund ihrer Heirat mit Frank nach nur einem halben Jahr Beziehung erhält sie eine Greencard. Sie genießt es, sich ganz ihrer Kunst hingeben zu können, Beziehungen sind für sie nachrangig. Cleo und Frank haben schwachen Seiten, respektieren aber einander. Jedoch beginnt Cleo an ihrer Liebe zu zweifeln, als Frank immer wieder über die Strenge schlägt, obwohl beide sich gerne einem ausschweifenden Lebensstil hingeben.

Coco Mellors erzählt in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren hinweg. In den Kapiteln stellt sie jeweils eine andere Person in den Fokus, einerseits Verwandte, andererseits auch Freunde, was die Geschichte abwechslungsreich gestaltet. Beispielsweise gerät Quentin, der seit langer Zeit Cleos bester Freund ist, in die Gefahr, sich mit mehr als einem Joint zu berauschen. Einige Kapitel gehören dem Koch Santiago mit dem beide Protagonisten befreundet sind und der noch nach Jahren seiner verstorbenen Frau nachtrauert. Auch Franks deutlich jünger Halbschwester Zoe steht hin und wieder im Mittelpunkt, vor allem wenn sie erneut Mittel für ihren Lebensunterhalt benötigt, den er größtenteils bezahlt.

Die Kapitel werden aus einer auktorialen Erzählperspektive heraus geschildert. Eine Ausnahme macht die Autorin bei Eleanor, der neuen Angestellten im Büro von Frank. In einer Art Flash Fiktion erzählt sie in der Ich-Form. In schneller Abfolge der geschilderten Szenen entstand bei mir beim Lesen ihr Leben, aus dem sie viele Details preisgibt.

Ich mochte den abwechslungsreich gestalteten Schreibstil gern und verfolgte gespannt die Entwicklung jeden Charakters über die Zeit hinweg. Coco Mellors schildert Liebe in vielen Variationen und lässt ihre Figuren dabei emotionale Höhen und Tiefen überwinden, die deren Handeln meist nachvollziehbar machen. Die Autorin verschweigt nicht die Schattenseiten, die ein Leben mit Rauschmitteln verschiedener Art nach sich zieht. Ich fragte mich beim Lesen, wie viel von dem Geschilderten sie selbst erlebt hat.

Im Buch „Cleopatra und Frankenstein“ lässt Coco Mellors die Lesenden hinter die Fassade einer Gesellschaftsschicht New Yorks schauen, die sich gerne selbst verwöhnt. Die Geschichte ist dialoglastig, wodurch genauso traurig stimmende, berührende wie auch humorvolle Szenen kreiert werden, die die Figuren mit all ihren Facetten offenbaren. Ein ergreifender Debütroman, voller Liebe und Verlangen, den ich gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 22.08.2023
Die Bücherjägerin
Beer, Elisabeth

Die Bücherjägerin


ausgezeichnet

Die Suche nach dem verschwundenen wertvollen Teil einer alten kartografischen Darstellung wirbelt das Leben von Sarah von Richtershofen, der Protagonistin des Romans „Die Bücherjägerin“ von Elisabeth Beer, ordentlich durcheinander. Sie restauriert Bücher und handelt mit Antiquitäten, genauso wie ihre Tante Amalia es immer gemacht hat. Mit zehn Jahren wurden sie und ihre jüngere Schwester Milena zu Waisen. Amalia nahm beide damals bei sich auf und wurde ihnen zur Mutter.

Sarah trat später beruflich in die Fußstapfen ihrer Tante. Für sie wird es zu einer emotionalen Herausforderung als Amalia plötzlich stirbt. Einerseits waren die beiden ein eingespieltes Team, persönlich wie auch beim An- und Verkauf der Antiquitäten. Andererseits wirkte Amalia beruhigend auf Sarah ein, wenn dieser mal wieder in ihrem Umfeld alles zu viel wurde. Die Protagonistin hat ihre Eigenarten, vor allem bereiten ihr soziale Interaktionen Schwierigkeiten. Als der englische Bibliothekar Benjamin Ballantyne sie aufsucht und ihr davon erzählt, dass Amalia ihn wegen einer alten Karte kontaktiert hat, lässt sie sich darauf ein, ihm beim Auffinden derselben behilflich zu sein.

Die Autorin hat ihrer Protagonistin einen interessanten, weniger üblichen Beruf gegeben und mich auf die Tabula Peutingeriana, um die es im Buch immer wieder geht, aufmerksam gemacht. Dazu vermittelte sie mir einiges an Hintergrundwissen zu dieser Karte. Doch die Suche an sich drängt sich bei der Geschichte nicht in den Vordergrund, sondern das bisherige Leben von Sarah und ihr Umgang mit dem Tod ihrer Tante.

Die Hauptfigur erzählt das Geschehen in der Ich-Form. Um einen Eindruck von ihren besonderen Wesenszügen zu erhalten, fügt Elisabeth Beer mehrfach Kapitel ein, in denen die Handlung nicht fortgesetzt wird, sondern Sarah beispielsweise Listen aufführt, in denen sie ihre Gedanken zu einem bestimmten Thema festhält oder ihre Arbeitsweise erklärt. Immer wieder lässt die Autorin die Protagonistin zurückschauen und dadurch erfuhr ich zunehmend mehr über die Probleme, mit denen Sarah bereits in der Schule mit den MitschülerInnen zurechtkommen musste. Auch in Liebesdingen entwickelte sie eine eigene Art, um Nähe zu erfahren. Nachdem ihr Benjamin immer sympathischer wird, nutzt sie ihre bisher gewonnenen Erfahrungen, um sein Verhalten ihr gegenüber zu deuten.

Bei all ihren Sorgen weiß die Protagonistin jedoch, dass sie sich nicht nur auf Amalia, sondern auch auf ihre Schwester verlassen kann, was ihr Halt im Leben gibt. Amalia hat den Schwestern immer das Gefühl gegeben, dass sich für jedes Problem eine Lösung bieten wird. Routinen erleichtern Sarah den Tagesablauf. Sie denkt eher rational und löst Konflikte gerne dadurch, indem sie ihren Gesprächspartner auf direktem Weg darauf anspricht, was einige Male ihr Gegenüber verwundert, für mich als Leserin aber manchmal erheiternd war.

Die Autorin lässt Sarah in einer Kölner Villa wohnen, die ein passendes Ambiente bietet. Die dort lagernden Antiquitäten in Papierform riefen mir den Duft alter Bücher in die Nase. Auf der Reise nach Frankreich, wohin die Suche die Protagonistin führt, erhält sie Unterkunft bei einem Freund, der in einem schlossartigen Gebäude lebt. Vor meinen Augen entstand eine friedvolle Idylle. Der englische Landsitz, den sie später besucht, fügte sich in das Ensemble markanter Orte gelungen ein.

Der Roman „Die Bücherjägerin“ von Elisabeth Beer erzählt von der Suche nach einem verschwundenen Teil einer alten Landkarte. Die mir sympathische Titelgeberin Sarah, die sich ihrer Einzigartigkeit bewusst ist, und ihre bewegte Vergangenheit stehen dabei im Mittelpunkt. Die Restauratorin entdeckt auf ihrem Weg, das verschollene Stück aufzustöbern, das, was für sie wichtig im Leben ist. Gerne empfehle ich dieses einfühlsam und warmherzig erzählte Buch weiter.

Bewertung vom 16.08.2023
All die ungesagten Dinge
Lien, Tracey

All die ungesagten Dinge


ausgezeichnet

Der Titel des Romans „All die ungesagten Dinge“ der Australierin Tracey Lien nimmt Bezug darauf, dass alle Zeugen des Mords an dem siebzehnjährigen Denny in einem Restaurant sich über den Hergang der Tötung ausschweigen. Aber unter der Oberfläche der vietnamesischen Gemeinschaft von Cabramatta, einem Ort im Südwesten von Sydney, verbirgt sich noch weitaus mehr, was unausgesprochen bleibt. Dennys Schwester Ky kehrt zur Beerdigung ihres Bruders aus Melbourne heim und hört nicht damit auf, Fragen zu stellen. Während sie unter den bei der Tat Anwesenden nach Antworten sucht, wird sie innerlich von eigener Schuld aufgerieben.

Kys Eltern sind vor dem kommunistischen Regime in Vietnam nach Australien geflüchtet. Dabei haben sie einige Zeit in einem Auffanglager verbracht. Dabei trafen sie Gleichgesinnte, die sich ebenfalls in Cabramatta niedergelassen haben. Der Roman ist weit mehr als die Aufklärung einer kriminellen Handlung. Tracey Lien, deren Namen eigene vietnamesische Vorfahren vermuten lässt und die in Cabramatta aufgewachsen ist, beschreibt die Lebensumstände in der Kleinstadt in den 1990er Jahren als sich das Drogenproblem verschärft hatte.

Die Autorin zeigt in verschiedenen Szenen, meist in Auseinandersetzung von Ky mit ihren Eltern, die sich von den Australiern unterscheidenden Lebenseinstellungen der gebürtigen Vietnamesen. Kys Eltern leben zwar bereits seit etwa zwanzig Jahren in der Wahlheimat, verbringen aber fast ihre gesamte Zeit unter Einwanderern aus dem gleichen Kulturkreis. Dabei bleibt für Kys Eltern die Verständigung auf Englisch schwierig. Obwohl sie die Sprache durchaus verstehen, fühlen sie sich beim Sprechen aufgrund ihres Akzents sofort auffällig. Sie fürchten den ihnen immer wieder entgegengebrachten Rassismus in Form von Verulkungen, über die man nicht lachen kann.

Ky versteht es als Journalistin sich gut auszudrücken. Bei ihren seltenen Aufenthalten zuhause fühlt sie sich in ihre Rolle als Kind zurückgedrängt. Immer noch hat sie sich nicht gänzlich von den an sie gestellten Erwartungen und dem dabei entstehenden Druck befreit. Ihre Eltern forderten früher von ihr, sich unter Gleichaltrigen zu integrieren und beste Noten zu erhalten, sonst drohten Strafen. Sie wollten ihr dadurch den besten Start in den Beruf bieten und ein besseres Leben als ihr eigenes. Um die althergebrachte Denkweise der Eltern aufzubrechen, fordert sie diese auf, ihren Bruder nach Feier seiner Schulentlassung mit Freunden ins Restaurant gehen zu lassen, in welchem er den Tod findet. Das bereut sie sehr.

Hauptsächlich nimmt die Geschichte Ky in den Fokus. Mehrere Perspektivenwechsel treiben die Ermittlungen vorwärts und gaben mir als Leserin mit und mit mehr über die Hintergründe des Mords preis. Kys beste Schulfreundin Minnie, die ebenfalls in Vietnam geboren ist, das Zerbrechen der Freundschaft und Minnies darauffolgenden Anschluss an einen neuen Freundeskreis bieten den Schlüssel zu der erschreckenden tödlichen Handlung im Gasthof.

Mit ihrem Roman „All die ungesagten Dinge“ hat Tracey Lien ein bewegendes Debüt geschrieben. Die Handlung wirkt authentisch und nachvollziehbar, denn hier bringt die Autorin eigenes Wissen über das Umfeld ein. Zwar wird im Buch ein Mord geklärt, aber die Erzählung hat ihren Fokus auf der Geschichte der Migration vietnamesischer Auswanderer in den 1970er in Australien und dem Umgang der nächsten Generation mit dem kulturellen Erbe der Eltern. Mich hat die einfühlsame Schilderung der Ereignisse berührt und zum Nachdenken über die Situation heutiger Flüchtlinge gebracht. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.08.2023
Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2
Hennig von Lange, Alexa

Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Es ist das Jahr 1939 und die Zeichen stehen auf Krieg. Das merkt auch Klara, eine der Protagonistinnen des Romans „Zwischen den Sommern“, dem zweiten Band der Heimweh-Trilogie von Alexa Hennig von Lange. Beim Betrachten des Buchumschlags fiel mir auf, dass die abgebildete weibliche Person, anders als beim ersten Teil „Die karierten Mädchen“, an die Hand genommen wurde. Später erfuhr ich beim Lesen der Geschichte, dass Klara ihren geliebten Gustav, den sie liebevoll „Täve“ nennt, heiratet und auch ein erstes Kind nicht lange auf sich warten lässt. Der Bände lassen sich unabhängig voneinander lesen.

Ihrer Aufgabe als Leiterin eines Frauenbildungsheims wird Klara weiterhin gerecht. Sie ist stolz über die von ihr erreichte Position und übt ihren Beruf mit Freude, aber auch Pflichtbewusstsein aus. Über die Jahre hinweg hat sie sich der Reglementierung durch die Nationalsozialisten in immer mehr Bereichen des täglichen Lebens anzupassen gewusst. Dabei hat sie das Wohl ihrer Schülerinnen immer im Blick gehabt. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs stellt sie vor neue Herausforderungen, nicht nur beruflich, sondern auch privat. Ein neunjähriges jüdisches Mädchen, dass sie als Tochter vor Jahren angenommen hat, versucht sie über ein jüdisches Waisenhaus nach England in Sicherheit zu bringen. Die Sorge um das Kind begleitet sie ständig und ebenso der Zweifel, ob ihr Handeln richtig war.

Auf einer zweiten Zeitebene erzählt Alexa Hennig von Lange von Isabell, der Enkelin von Klara, die ihre Großmutter tot auffindet. Sie entdeckt zahlreiche Kassetten, die ihre Oma mit ihrer Lebensgeschichte besprochen hat. Dabei lernt sie Großmutter von einer anderen Seite kennen. Die ihr manchmal streng und hartherzig erscheinende Großmutter offenbart ihre Gefühle, während sie über ihre Erinnerungen redet.

Meiner Meinung nach gelingt es der Autorin im zweiten Band noch besser als im ersten herauszuarbeiten, mit welcher schwierigen Aufgabe Klara betraut war. Einerseits hatte sie sich an die durch die Partei gesetzten Vorschriften zu halten, andererseits nahm sie durchaus wahr, dass die Vorgaben nicht immer gerecht und rechtfertigt waren. Dennoch war ihr bewusst, dass Zuwiderhandlungen bemerkt und mit einer sofortigen Strafe belegt werden würden. Nach außen spielte sie ihre Rolle, auch um die unter ihrer Obhut gestellten Schülerinnen zu schützen, innerlich war sie jedoch im ständigen Zweispalt und haderte wie viele andere damit, keinen Widerstand zu leisten. Auch diesmal bietet ihre langjährige Freundin Susanne wieder Gelegenheit die Weltlage kontrovers zu diskutieren.

Alexa Hennig von Lange zeigt sowohl Klara als auch Isabell im Umgang mit dem Nachwuchs. Ich fand es schön zu sehen, dass die Liebe zu allen Zeiten eine sichere Konstante für die Heranwachsenden ist, auf die sie aufbauen können. Der Weltkrieg zerstörte manche Zukunftsvorstellung der Haushaltsschülerinnen von Klara, doch sie versuchte durch eine nach außen gezeigte Zuversicht, ihnen Mut zu verleihen und die Hoffnung auf andere Zeiten aufrecht zu erhalten. Auch bei deren Abwesenheit wissen sowohl Klara wie auch Isabell, dass sie von ihren Partnern nach Möglichkeiten Unterstützung erhalten, was ihnen selbst Halt gibt. Auf beiden Handlungsebenen erzählt die Autorin chronologisch bis nahe zum Ende des Kriegs.

Der Roman „Zwischen den Sommern“ von Alexa Hennig von Lange setzt sich noch intensiver als der erste Band der Heimweh-Trilogie mit dem inneren Konflikt auseinander, den Klara, eine der Protagonistinnen, als angepasst agierende Leiterin einer Frauenbildungsanstalt zu Zeiten des Nationalsozialismus mit sich austrägt. Dadurch, dass die Großmutter der Autorin gesprochene Zeitzeugnisse hinterlassen hat, auf denen die Erzählung basiert, kam die Geschichte sehr authentisch und realistisch bei mir als Leserin an. Ich freue mich schon sehr auf den abschließenden Band und vergebe gerne eine Leseempfehlung für den vorliegenden mit dem zusätzlichen Tipp, ebenfalls den ersten Teil zu lesen.

Bewertung vom 03.08.2023
Helenes Hoffnung / Die Fabrik der süßen Dinge Bd.1
Romes, Claudia

Helenes Hoffnung / Die Fabrik der süßen Dinge Bd.1


sehr gut

Der Vater von Helene von Ratschek, der Protagonistin des historischen Romans „Die Fabrik der süßen Dinge“ von Claudia Romes, betreibt in Köln ein Süßwarenunternehmen in zweiter Generation. Für ihn steht fest, dass seine beiden Söhne die Firma weiterführen werden. Er ordnet an, dass seine einzige Tochter einen Zulieferer heiratet, wodurch im Nebeneffekt die Geschäftsbeziehungen gefördert werden. Das Buch trägt den Untertitel „Helenes Hoffnung“, dementsprechend sie nicht als Hausfrau und Mutter, deren Meinung in der Firma nicht zählt, ihr Leben verbringen möchte. Sie will ihr Talent als Bonbonmacherin zeigen und Anteil an der Führung des Familienunternehmens erhalten. Doch zunächst scheint sich alles gegen sie verschworen zu haben, bis sie gewisse Entscheidungen selbst in die Hand nimmt.

Claudia Romes hat mit der Protagonistin eine Figur nach historischem Vorbild geschaffen, jedoch Namen, Orte und die Zeit der Handlung verändert. Helenes Familie ist betucht und lebt dadurch im Jahr 1927 in einer Gesellschaftsschicht, bei der Mann und Frau üblicherweise die klassischen Geschlechterrollen einnehmen, ganz so wie Helenes Eltern. Von ihrem Vater wird der Protagonistin die eigene Auswahl ihres Ehemanns abgesprochen. Das ist der entscheidende Auslöser, der Helene dazu bringt, ihren eigenen Weg zu suchen.

Helene findet unter neuem Namen ihr Glück in Hamburg. Nachdem sie dort angekommen ist, bewegt sie sich zunächst noch auf unsicheren Füßen, gewinnt aber zunehmend an Selbstsicherheit. Die Figur war mir in dieser Situation sympathisch. Helene genießt ihre Freiheiten. Sie entdeckt ihre Gefühle zu einem Mann und später noch zu einem weiteren, was sie in einen Gewissenszwiespalt bringt. Während sie in Hamburg deutlich respektvoller behandelt wird als Daheim, reift sie emotional, so dass sie traut, sich den familiären Zwistigkeiten zu stellen. Sie verzeiht, ist zu Kompromissen bereit und findet teils Anerkennung für ihr Tun. Nicht immer handelte sie so, wie ich es mir gewünscht hätte. Ob sie sich ihren Wunsch erfüllen kann, Liebe und ihre Leidenschaft für die Gestaltung von Süßigkeiten immer miteinander zu vereinbaren, wird sich in einem zweiten Band zeigen.

Im Roman „Die Fabrik der süßen Dinge“ erzählt Claudia Romes von der Hoffnung der Fabrikantentochter Helene, die ihrem Vater und den Brüdern Ende der 1920er Jahre zeigen möchte, dass sie sich als Frau gleichwertig ins Unternehmen einbringen kann. Die Geschichte liest sich locker und leicht und sorgt für einige unterhaltsame Stunden, auch wegen des ungewöhnlichen Berufs der Protagonistin und daher empfehle ich es gerne weiter.