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Ingrid von buchsichten.de
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Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 342 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2025
Die Summe unserer Teile
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


ausgezeichnet

In ihrem Debütroman „Die Summe unserer Teile“ erzählt Paola Lopez von drei Frauen: Lucy, ihrer Mutter Daria und deren Mutter Mila. Die Handlung beginnt im Jahr 2014, reicht jedoch über siebzig Jahre in die Vergangenheit zurück und überschreitet dabei auch Ländergrenzen. Lucy wurde in München geboren, lebt aber inzwischen in Berlin. Ihre Mutter kam Anfang der 1970er Jahre zum Studium in die Hauptstadt Bayerns gekommen, doch zur Welt gekommen ist sie in Beirut. Infolge des Zweiten Weltkriegs gelangt Mila von ihrer Heimat Polen in den Libanon. Der unerschütterliche Wille zur Selbstbestimmung verbindet die drei Frauen.

Eines Tages erhält Lucy unerwartet einen Konzertflügel, den ihre Mutter unter ihrem Mädchennamen an die neue Anschrift ihrer Tochter in der Wohngemeinschaft in Berlin transportieren lässt, die sie eigentlich nicht kennen kann. Lucy wird dadurch veranlasst, über ihr bisheriges Leben und das schwierige Verhältnis zu ihrer Familie nachzudenken. Sie trägt genauso wie ihre Großmutter den Vornamen Lyudmila, doch sie hat diese nie bewusst kennenlernen können. Nachdem ihr Mitbewohner erneut mit ihrer besten Freundin zusammenkommt, nimmt es Lucy den Atem und sie stellt fest, dass sie dringend eine Veränderung braucht. Kurzfristig beschließt sie, nach Polen zu reisen, um dort einer Spur zu folgen, die sie näher an das Leben ihrer Großmutter heranführen soll.

Die Studienjahre der Frauen sorgen bei allen dreien für große Veränderungen. Mila verschafft sich bei ihrem Chemiestudium in Beirut, das sie bevorzugt aufgrund ihrer Deutschkenntnisse aufnehmen konnte, nach kurzer Zeit den Respekt ihres Vorgesetzten und den ihrer Kolleginnen und Kollegen. Erst nach einigen Jahren ihrer Ehe mit einem Chemiker kommt ihre Tochter Daria zur Welt, die ihre Mutter als kühl und abweisend in Erinnerung hat. Aufgrund des Wunschs ihrer Eltern beginnt sie später ein Medizinstudium in München, bei dem sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernt. Lucy hingegen studiert Informatik und entwickelt Computerspiele. Mit ihrer Mutter hat sie seit drei Jahre kein Wort gewechselt.

Der Autorin gelingt es, die zwischenmenschlichen Spannungen nicht nur über Dialoge, sondern vor allem über stille Handlungen sichtbar zu machen. Jede der Frauen sucht einen Weg, alte Muster zu durchbrechen, die bisher gekannten Grenzen hinter sich zu lassen und eine eigene Identität zu formen. In ihrem Anspruch, stets beste Leistungen in allem zu zeigen, vergessen sie die Relevanz der Kommunikation, was zu tragischen Missverständnissen mit weitreichenden Folgen führt.

Paola Lopez zeigt mit großer Empathie die Verletzlichkeit ihrer Figuren und lässt nachvollziehbar werden, warum es an Verständnis füreinander fehlt. Erst im weiteren Verlauf der Erzählung lüftet sie ein Geheimnis, das die erwartete Summe aus dem Zusammenfügen der Teile der Familiengeschichte hinauswachsen lässt. Als Leserin hat mich dieser atmosphärisch dichte und fein komponierte Roman an vielen Stellen tief berührt, sodass ich dieses eindrucksvolle literarische Debüt sehr gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 28.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Trotz knapper finanzieller Mittel macht sich Familie Hormann in den 1980er Jahren auf den Weg in den Süden und fährt so lange „Bis die Sonne scheint“. Der gleichnamige autobiografische Roman von Christian Schünemann erzählt die Geschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg, bis hin zu seinen Großeltern. Die Namen hat der Autor geändert.

Kurz vor der Konfirmation des 15-jährigen Daniel Hormanns, der als Alter Ego des Autors fungiert, regnet es wieder durch das marode Dach des Elternhauses. Daniel lebt mit seinen Eltern und drei Geschwistern auf dem Land in der Nähe von Bremen. An diesem Abend belauscht er ein Gespräch seines Vaters mit seiner Mutter aus dem er schließt, dass deren Probleme gravierender sind, als er bisher ahnte und vermutet, dass es Sorgen finanzieller Art sind. In Erwartung seines anstehenden großen Fests hatte Daniel sich darauf gefreut, schick eingekleidet zu werden. Außerdem hatte er gehofft, viele Verwandte einladen zu können, die ihn großzügig mit hohen Geldsummen beschenken würden. Während innerhalb der Familie an allen Ecken gespart wird, bemühen sich seine Eltern, nach außen den schönen Schein von gut Verdienenden zu wahren.

Der Autor spannt in seiner Familiengeschichte einen weiten Bogen. Seine in Oberschlesien geborene und später heimatvertriebene Mutter Marlene hat sich Mitte der 1950er Jahre den Wunsch nach Abitur und Studium nicht erfüllen können. Stattdessen musste sie auf Gehiß ihrer Mutter mit ihrem Gehalt zum Familieneinkommen beitragen. Die Mutter von Daniels Vater Siegfried dagegen hat sich seit der Weltkriegszeit von ihren Kindern und ihrem Mann distanziert. Siegfried selbst hat sich für eine Beamtenlaufbahn entschieden, träumte aber insgeheim davon, Opernsänger zu werden. Sowohl Marlene als auch Siegfried sind überzeugt, dass das Leben noch mehr für sie bereithält. Auch wenn aktuell kein finanzielles Polster vorhanden ist, halten sie weiterhin an Träumen fest, die sich aber im Laufe der Zeit geändert haben.

Gerne habe ich mich als Leserin mit in die 1980er Jahre nehmen lassen. Weil ich im Alter der ältesten Tochter der Familie Hormann bin, konnte ich dank der zahlreichen Details über diese Zeit in Erinnerungen schwelgen. Christian Schünemann lässt das Lebensgefühl der damaligen Zeit authentisch aufleben, unter anderem durch die Erwähnung von Filmen und Musiktiteln. Nach den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren ermöglicht inzwischen der wirtschaftliche Aufschwung, dass ein Durchschnittverdiener sich einiges leisten kann. Technologische Fortschritte machen die Zukunft spannend. Die Kapitel, die in den 80er Jahren spielen und von Daniel in Ich-Perspektive erzählt werden, unterscheiden sich von denen mit Rückblicken auf die Familiengeschichte in auktorialen Erzählform durch eine Überschrift mit französischen Vokabeln.

Der Roman „Bis die Sonne scheint“ von Christian Schünemann berührt mit Begebenheiten innerhalb der Familie des Autors, die über fünf Jahrzehnte zurückreichen. Durch die gewählte Ich-Erzählform des Protagonisten, der den Autor verkörpert, wurden dessen Gefühle deutlich über das diffuse Verhalten seiner Eltern, die bemüht waren, sich nach außen hin nicht von anderen Familien abheben zu wollen. Gleichzeitig möchten sie sich aber dennoch ihre Träume von einem schönen erfüllten Lebens nicht nehmen lassen. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 08.04.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


sehr gut

Franziska Fuchsberger, genannt Franka, ist die Protagonistin im Roman „Unter Grund“ von Annegret Liepold. Die 27-jährige Referendarin an einer Volksschule lebt seit 2017 in einer Wohngemeinschaft mit Hannah, die als Journalistin über den NSU-Prozess in München berichtet. Als Franka mit ihrer Schulklasse eine der Sitzungen besucht, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit ab, zu einer Zeit, in der sie sich mit Freunden aus der rechten Szene umgab. Von diesem Kapitel ihres Lebens weiß aktuell aber niemand in ihrem Umfeld. Spontan beschließt sie, in ihr Heimatdorf in der Nähe von Erlangen zu fahren. Ihre Mutter und ihre Tante leben dort immer noch, aber ihre Großmutter, von allen als „Fuchsin“ bezeichnet, ist vor einigen Jahren verstorben. Über deren Leben liegt ein Geheimnis, das erst im Verlauf der Geschichte enthüllt wird.

Als Franka elf Jahre alt war, ist ihr Vater gestorben. Mit ihm ist sie viel durch die Natur gestreift und hat ihm dabei geholfen, den familieneigenen Weiher abzufischen. Sie hat gute Schulnoten, auf die ihr Vater sicher stolz wäre, aber keine bemerkenswerten Freundschaften. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist kompliziert und viele Dinge zwischen ihnen bleiben unausgesprochen. Als sie Leon kennenlernt, der eines Tages ins Dorf zieht, erfährt sie zum echte Aufmerksamkeit. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland gerät ihre Beziehung in eine Krise. Sie findet Anschluss bei Janna und Patrick. Die beiden sind der Ansicht, dass man eine Meinung nicht nur in der Öffentlichkeit äußern, sondern auch aktionsmäßig durchsetzen sollte. Zum ersten Mal fühlt Franka sich einer Gruppe zugehörig.

Bis zu ihrem Besuch des Prozesses hat sie über ihre Vergangenheit geschwiegen. Innerlich hat sie sich von den früheren Geschehnissen zwar distanziert, aber nicht im Einzelnen damit auseinandergesetzt. Nun aber drängen die Erinnerungen an die Oberfläche und fordern sie heraus, sich den Begebenheiten von damals zu stellen, denn sie will ihr jetziges Leben nicht erneut hinter sich lassen. Es ist nicht immer leicht, den zeitlichen Sprüngen zwischen den Abschnitten zu folgen. Ich hätte mir eine weitere Darstellung dazu gewünscht, ob das Familiengeheimnis einen Bezug zur Entwicklung der extremen Einstellungen von Franka als Jugendliche hat. Im Anhang finden sich ein Glossar und Verweise zu den im Text verwendeten Begrifflichkeiten des rechten Gedankenguts, die zur Verdeutlichung unumgänglich sind.

Annegret Liepolds zeigt mit ihrem Roman „Unter Grund“ ein Beispiel dafür, welche Mechanismen eine Radikalisierung in kurzer Zeit begünstigen können. Sie greift damit ein hochaktuelles und wichtiges Thema auf. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 19.03.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

Der Debütroman von Martina Behm trägt den Titel „Hier draußen“. Man könnte ihn mit „… im Dorf“ ergänzen, denn die Haupthandlung der Geschichte spielt in dem etwa zweihundert Seelen umfassenden, fiktiven holsteinischen Ort „Fehrdorf“. Ein alter Mythos um die auf dem Cover abgebildete weiße Hirschkuh bildet den erzählerischen Rahmen für die Ereignisse im Buch, die innerhalb eines Jahres geschehen.

Ingo und Lara sind vor drei Jahren mit ihren beiden Kindern von Hamburg nach Fehrdorf gezogen. Sie haben dort einen Resthof gekauft, um mehr Wohnraum zu erhalten und naturnäher zu leben. Lara arbeitet im Homeoffice, aber Ingo pendelt täglich in die Stadt. Auf einer späten Heimatfahrt läuft ihm eine weiße Hirschkuh vors Auto. Als er den Unfall meldet, wird ihm der dafür zuständige Jäger geschickt, der ihm erzählt, dass das Töten eines ebensolchen Exemplars dazu führt, dass die- oder derjenige innerhalb eines Jahres selbst verstirbt. Gemeinsam führen sie den Schuss aus. Durch die gesamte Geschichte hinweg, wird der Mythos immer wieder thematisiert, insbesondere, weil Lara daran interessiert ist, wodurch die Legende begründet wurde.

Martina Behm beschreibt das Dorfleben auf eine realistische Weise. Einerseits suchen hier Städter nach einem Leben mit weniger Stress, besserer Luft und engerem Kontakt zu den Bewohnern. Andererseits schildert die Autorin das Bedürfnis der Alteingesessenen, die sich beruflich aus der Landwirtschaft lösen, Brauchtümer hinter sich lassen und neue Wege gehen möchten, was sich oft als schwierig erweist.

Die Autorin stellt eine größere Anzahl Figuren vor, die sich zu zweit, zu dritt oder mit noch mehr Personen gruppieren. Eine Ausnahme bildet der alleinstehende Jäger Uwe, der in den 1960er Jahren geboren wurde und den Hof seiner verstorbenen Eltern weiterführt. In seinem Alter sind auch der Hähnchenmäster Söhnke und seine Frau Maggie, deren Tochter zwar studiert, sich auf dem Hof als Landwirtin aber wohler fühlt. Der Schweinezüchter Enno hält unbeirrt an alten Gewohnheiten fest und übersieht geflissentlich, dass seine Frau Tove schon seit langem seine Vorstellung der nächsten und weiteren Zukunft nicht teilt. Aus einer einst größeren Wohngemeinschaft sind nur noch Armin und Jutta im Ort geblieben, die ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander gefunden haben. Wie Ingo und Lara wohnen auch die seit langem im Dorf verwurzelten Caro und Krischi, der sich an einem Online-Handel verssucht.

Während Martina Behm eine ländliche Idylle mit grünen Wiesen und Wälder ausmalt, verschweigt sie nicht die weniger romantischen Aspekte wie zum Beispiel der Geruch nach dem Ausfahren von Gülle, Traktorenlärm in den frühen Morgen- und späten Abendstunden sowie die allgegenwärtigen Fliegen und Mäuse. Der Autorin gelingt es, durch den ständigen Perspektivenwechsel zu den verschiedenen Personen, interessante Ansichten zum Leben auf dem Land in ihrer Geschichte aufzunehmen und authentisch darzustellen.

Der Roman „Hier draußen“ von Martina Behm spiegelt das Leben auf dem Land in seinen Facetten wider. Bewusst spielt sie mit Klischees, ohne ins Banale abzudriften. Sie schaut auf die Gefühle ihrer Figuren im dörflichen Zusammenleben. Einige kurze Rückblicke in die Vergangenheit einzelner Charaktere sorgen für ein tieferes Verständnis der Hintergründe für ihr gegenwärtiges Handeln. Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen und daher lege ich sie gerne jeder und jedem ans Herz.

Bewertung vom 15.03.2025
True Crime in Nature
Graßmann, Farina

True Crime in Nature


sehr gut

Die Autorin, Naturfotografin und Referentin für Naturschutzthemen Farina Grassmann wirft im ihrem Buch „True Crime in Nature“ einen besonderen Blick auf Fauna und Flora. Sie deckt Betrug, Diebstahl und Mord in unserer heimischen Tier- und Pflanzenwelt auf. In beiden Welten steht das Prinzip der Fortpflanzung im Vordergrund. Für dieses Ziel sind die Organismen bereit, erstaunliche kriminelle Energien freizusetzen. Sie kapern zum Beispiel fremde Nester oder Vorratskammern, leben im Körper von anderen, manipulieren und bauen raffinierte Fallen. Dabei kann man ihnen keine Hinterlist nachsagen, sondern der Trieb dazu ist in der Regel angeboren. Für den Menschen bleibt diese Naturgeschehen oft unbemerkt und ist meistens ungefährlich.

Den größten Teil der Beschreibungen nehmen Insekten ein, aber auch Vögel, Frösche, Fuchs und Wal sowie Bäume und Pflanzen sorgen für staunenswerte Erkenntnisse. Vielfach begegnet der Lesende im Buch einer parasitären Lebensform. Die Autorin weist auf deren Bedeutung hin, denn sie sorgen dafür, dass Ökosysteme im Gleichgewicht bleiben.

Farina Grassmann schreibt informativ und unterhaltsam. Sie beschränkt sich nicht nur auf reine Fakten, sondern arbeitet gezielt die erstaunlichsten Aspekte heraus. Manchmal greift sie auf Ironie zurück, um besondere Leistungen zu betonen oder gängige Meinungen zu widerlegen. Fauna und Flora verändern sich ständig, wodurch Tiere und Pflanzen einem steten Wandel unterliegen. Die Wissenschaft steht immer wieder vor neuen Rätseln und längst sind nicht alle Fragen geklärt.

Die Ausführungen werden begleitet mit humorvollen Illustrationen von Cornelis Jettke, die den unerfreulichen Tatsachen erheiternd entgegenwirken. Ebenso finden sich fünfzehn Farbfotografien der „Verbrecher“, die von der Autorin aufgenommen wurden. Hiervon hätte ich mir noch mehr gewünscht.

In ihrem Buch „True Crime in Nature“ zeigt Farina Grassmann eindrucksvoll, dass die Natur nicht immer so friedfertig ist, wie wir sie meist wahrnehmen. Es ist nicht nur eine Darstellung, welche Tricks einige Tiere und Pflanzen aufwenden, um ihr Überleben und ihre Fortpflanzung zu sichern, sondern auch ein Plädoyer dafür, genauer hinzusehen, um die Feinheiten der Flora und Fauna bewusster wahrzunehmen.

Bewertung vom 15.03.2025
Der Einfluss der Fasane
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


sehr gut

Zu Beginn des Romans „Der Einfluss der Fasane“ von Antje Rávik Strubel erfährt die etwa 50-jährige Protagonistin Hella Karl aus der Tageszeitung vom Tod des ihr bekannten deutschen Intendanten Hochwerth. Er hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Seine Frau hat ihn nach ihrem Auftritt als Opernsängerin an der Sydney Opera in ihrer Garderobe tot aufgefunden.

Hella ist überrascht, dass sie als langjährige Leiterin des Feuilletons einer Zeitung darüber nicht informiert wurde. Sie fährt in die Redaktion, um selbst einen Nachruf zu verfassen. Die Anzeichen mehren sich, dass einige in ihrem Umfeld der Ansicht sind, sie hätte mit einem ihrer Artikel dazu beigetragen, dass der Intendant gekündigt habe und als weitere Konsequenz aus dem Leben geschieden sei.

Antje Rávik Strubel beschäftigt sich in ihrem Roman damit, was Massenmedien bewegen können und wirft dabei eine Menge Fragen. Wie wirken sich Medienberichte auf die öffentliche Wahrnehmung aus? Wem kann ich persönlich gewonnene Informationen anvertrauen, ohne dass diese ungefragt weitergegeben werden? Gleichzeitig regt die Geschichte dazu an, über die Zuverlässigkeit von erhaltenen Informationen und die Dynamik von Fake News nachzudenken, die sich oft unkontrolliert verbreiten.

Bei Hella ist es das Wissen um das Spiel mit der Macht des Intendanten, dass sie dazu veranlasst hat, ihn zu beschuldigen. Sie fühlte sich verpflichtet, über die Missstände öffentlich zu schreiben. Obwohl sie stets um Objektivität bemüht ist, kommt sie über eigene, in der Vergangenheit geäußerte Meinungen ins Grübeln.

Es sind vor allem die sensationellen Meldungen, die hohe Aufmerksamkeit erhalten und sich schnell verbreiten. Uns allen muss bewusst sein, dass es Entscheidungen gibt, die nicht immer umkehrbar sind. Was sollte die Öffentlichkeit über eine Person erfahren und was sollte demgegenüber nicht öffentlich verhandelt werden?

Die Autorin kreiert für ihre Protagonistin eine interessante Partnerbeziehung, die Hella bisher auf gewisse Weise Halt gegeben hat. Doch Hella ist unermüdlich in ihre Arbeit vertieft, dass sie die schleichenden Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld kaum wahrnimmt. Das Ende der Geschichte bietet eine unerwartete Wendung, die zeigt, wie tief man sich in jemandem täuschen kann, dem man sein Vertrauen geschenkt hat.

„Der Einfluss der Romane“ von Antje Rávik Strubel ist ein tiefgründiger Roman, der der eindrucksvoll veranschaulicht, wie Medien das Ansehen einer Person in der Öffentlichkeit beeinflussen können. Die manchmal ins satirische gehende Darstellung lockert das schwerwiegende Thema stellenweise auf. Die Geschichte bietet Denkanstöße und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Gerne empfehle ich sie weiter.

Bewertung vom 11.03.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Im Fokus des Romans „Für Polina“ von Takis Würger steht Hannes Prager, der gemeinsam mit dem titelgebenden Mädchen aufwächst. Bereits in jungen Jahren verbindet ihn eine Freundschaft mit Polina, die durch Gegensätzlichkeit der Charaktere lebt. Als er vierzehn Jahre alt ist, verändert sich etwas in ihrer Beziehung. Dem wortkargen Hannes gelingt es nicht, Polina seine tiefen Gefühle zu bekennen. Stattdessen komponiert der musikalisch begabte Junge ein Lied, das nicht nur die Persönlichkeit der geliebten Person, sondern auch seine eigene Sehnsucht und Liebe widerspiegelt. Wenig später geschieht ein tragischer Unfall, der die Lebenswege von Polina und Hannes auseinanderführt.

Der Autor kreiert für seinen Protagonisten einen vielschichtigen familiären Hintergrund. Fritzi, die Mutter von Hannes, wird unerwartet schwanger und gibt ihre beruflichen Träume von einer Karriere als Juristin auf. Sie zieht als Untermieterin mit ihrem Sohn in eine verfallende Villa in einem Naturschutzgebiet zu einem zunächst abweisenden alten Herrn. Polina ist die Tochter einer Freundin von Fritzi, die gerne zu Besuch kommt.

Sowohl der Protagonist wie auch die Titelfigur sind facettenreich gestaltet. Hannes ist blondgelockt und eher von schmaler Statur. Von Geburt an fällt seine Introvertiertheit auf, die andere als wundersam empfinden. Für Musik entwickelt er ein außergewöhnlich ausgeprägtes Gehör. Das Klavierspielen bringt er sich mehr oder weniger autodidaktisch bei. Polina hingegen ist dunkelhaarig und lebhaft. Sie erzählt gerne und erklärt ihrem Freund die Welt. Als sie ins Teenageralter kommt, nehmen äußere Einflüsse einen immer breiteren Raum ein. Während Hannes sich in seiner Musik verliert, findet Polina Gefallen an anderen gleichaltrigen Jungen.

Einfühlsam und mit Zärtlichkeit zeichnet Takis Würger die Beziehung zwischen Hannes und Polina nach. Die Musik, die sein Protagonist erschafft, berührt die Zuhörer, so dass sie sich der darin enthaltenen Magie nicht entziehen können. Als Lesende glaubt man, die Melodie für Polina hören zu können. Obwohl Hannes nach dem Unfall seiner Mutter das Klavierspielen aufgibt, bleibt er den Klavieren auf ungewöhnliche Weise verbunden. Der Roman vermittelt einige Informationen rund um das Tasteninstrument.

Neben dem Coming-of-Age von Hannes und Paulina bindet die Geschichte schmerzliche Verluste, tragische Missverständnisse und die Liebe ein, die im Verborgenen blüht und sich ihre eigenen Wege sucht, um sich zu offenbaren. Der Roman „Für Polina“ von Takis Würger hinterlässt eine Melodie, die lange nachklingt. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 11.03.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


sehr gut

Elisa Hoven verbindet in ihrem Roman „Dunkle Momente“ Straftaten, die an realen Fällen angelehnt sind, mit der fiktiven Geschichte der Protagonistin Eva Herbergen. Die Protagonistin ist seit über dreißig Jahren Strafverteidigerin, als die sie auch in jedem der im Buch vorgestellten neun Verbrechen fungiert. Mit Leidenschaft widmet sie sich der Verteidigung, um für ihre Mandantin oder ihren Mandanten einen Freispruch oder ein möglichst geringes Strafmaß zu erwirken. Dabei ist es nicht einfach, sich für jemanden einzusetzen, den nach eigener Meinung vermutlich schuldig ist.

Die Autorin ist Professorin für Strafrecht und Richterin an einem Verfassungsgerichtshof. Durch ihre genaue Kenntnis der auf die beschriebenen Straftaten angewendeten Gesetze wirken diese authentisch. Sie hat Fälle ausgewählt, die in besonderem Maße berührend sind oder von der Rechtsprechung her überraschen. Von einigen hat man eventuell in den Nachrichten gehört oder durch Social Media erfahren. Sie handeln von Kindersoldaten und Kannibalismus. Es geht aber auch um alltäglichere Vergehen, wenn beispielsweise eine Frau das Kind ihres Geliebten bestraft und ungeahnte Folgen sie zur Täterin machen oder ein Einbrecher selbst zum Opfer wird.

Eva Herbergen als Hauptfigur des Romans bleibt als Charakter recht blass. Ihre Rolle dient fast nur als Bindeglied zwischen den Fällen. Dennoch gelingt es der Autorin durch ihre Protagonistin Fragen der Moral aufzuwerfen und zu verdeutlichen, wie gering der Unterschied zwischen Verantwortung und Schuldlosigkeit vom Gesetz her ist. Sind Handeln auf Befehl und Unwissenheit strafmildernd? Kann ein unbescholtenes Leben mit vielen Wohltaten sich gegen ein einziges Verbrechen aufwiegen lassen? Gelingt es stets, hinter die Fassade zu schauen? Elisa Hoven lässt dem Lesenden die Möglichkeit, sich selbst mit dem Begriff der Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Manchmal ist ein einzelnes Wort des Gesetzestextes entscheidend für das Urteil.

Es zeigt sich jedoch auch immer wieder, dass Menschen Fehler machen. Die Protagonistin bedauert eine ihrer Entscheidungen, die zwar bereits jahrelang zurückliegt, deren Folgen sie aber nicht vergessen kann. Schon auf den ersten Seiten des Buchs nennt sie den Namen des damals Angeklagten. Auf die Vorstellung des Falls muss man bis zum Ende hin warten, was eine hintergründige Spannung aufkommen lässt. Ein dunkler Moment im Leben kann eines Menschen von seinem angedachten Weg abbringen.

Die von Elisa Hoven in ihrem Roman „Dunkle Momente“ beschriebenen Taten, die teils an den Rand des Erträglichen gehen, bringen den Lesenden zum Nachdenken, sie beunruhigen und hallen lange nach. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

Bewertung vom 03.03.2025
Der große Riss (eBook, ePUB)
Henríquez, Cristina

Der große Riss (eBook, ePUB)


sehr gut

Der Roman „Der große Riss“ von der US-Amerikanerin Cristina Henriquez basiert auf dem Bau des Panamakanals als Hintergrundthema. Mit dem Titel wird aber nicht die Tatsache angesprochen, dass die künstliche Wasserstraße das Land förmlich zweigeteilt hat. Vielmehr ist hiermit die Spaltung der Gesellschaft in Hinsicht auf Status, Hautfarbe, Sprache und Geschlecht während des Baus am Kanal gemeint. Die Autorin hat dazu einige Figuren geschaffen, die sie geschickt zueinander in Verbindung bringt, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zur damaligen Zeit zu verdeutlichen.

Francisco ist ein älterer Fischer, der seinen Beruf aus Überzeugung ausübt und mit seinem erwachsenen Sohn Omar an der pazifischen Küste lebt. Omar hat entschieden, sich als Arbeiter am Kanalbau zu beteiligen, was bei seinem Vater auf Unverständnis stößt. Die 16-jährige Ada aus Barbados hat ohne das Wissen ihrer Mutter Lucille ein Postschiff an die Atlantikküste bestiegen. In Panama möchte sie sich eine Arbeit suchen, um genügend Geld für eine dringend benötigte Operation ihrer Schwester Millicent zu verdienen.

Eine Weile vor Ada sind bereits John und Marian Oswald aus Tennessee in Panama eingetroffen. Während John einem Ruf als Erforscher der Malaria gefolgt ist, hatte die studierte Botanikerin Marian während ihrer Ehe nie die Möglichkeit in ihrem Beruf zu arbeiten. Das ändert sich auch in der neuen Heimat nicht. Die Frau des Fischhändlers Joaquín, an den Francisco seine Ware liefert, stammt aus der Stadt Gatún, das dem Kanal weichen und ans gegenüberliegende Ufer umgesiedelt werden soll. An der Seite seiner Frau versucht er die Öffentlichkeit auf die Sorgen der Einwohner aufmerksam zu machen.

Die Protagonistinnen und Protagonisten erleben Freud und Leid in teils parallel ablaufenden Handlungen, die mit Ausnahme des Epilogs im Jahr 1907 spielen. Die Autorin bringt zum Ausdruck, dass Francisco frei in seiner Tätigkeit als Fischer ist, wohingegen sich Omar den Ansprüchen eines Vorarbeiter in Bezug auf die Arbeitsleistung zu beugen hat. Allein aufgrund der Nuancen der Hautfarbe wird die Arbeiterschaft in diejenigen aufgesplittet, die in Silber oder in Gold entlohnt werden. In den Geschäften sind entsprechende Bereiche abgetrennt und auch bei der medizinischen Versorgung gibt es eine entsprechende Aufteilung.

Anhand von Marian stellt die Cristina Henriquez die typische Rolle einer Frau in der gehobenen Gesellschaft dar. Dahingegen hat die gewerbslose Frau des Fischhändlers einen größeren Handlungsspielraum, wobei dieser durch die große Zuneigung ihres Ehemanns nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt wird. Die Geschichte erzählt wenig vom Fortschritt der Arbeiten am Kanal. Stattdessen erweitert die Autorin die auf wenigen Monaten basierende Handlung durch die Erzählung der Schicksale ihrer Figuren, bei denen sie über Landesgrenzen hinweg auf deren Vergangenheit schaut.

Cristina Henriquez erzählt in ihrem Roman „Der große Riss“, in dem es gefühlt ständig regnet, von den Menschen, die auf verschiedene Weise durch den Bau des Panamakanals betroffen waren. Anhand der Charaktere spiegelt sie Licht und Schatten des gesellschaftlichen Klimas wider, zeigt aber ebenso ein Stück des Alltags der Personen mit Höhen und Tiefen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 03.03.2025
Mickey und Arlo
Dick, Morgan

Mickey und Arlo


sehr gut

Michelle Morris, die Mickey gerufen wird, ist 33 Jahre alt und Vorschullehrerin. Nachdem sich ihre Eltern vor langer Zeit getrennt haben, hat sie den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen. Charlotte Kowalski, genannt Arlo, ist 25 Jahre alt und Psychologin. Die beiden sind Halbschwestern, ohne dass sie sich je kennengelernt haben. In ihrem Debütroman „Mickey und Arlo“ macht die Kanadierin Morgan Dick sie zu ihren Protagonistinnen. Die Covergestaltung in Rotorange mit grün ist lebhaft und verströmt Freude und Energie. Die zwei Frauen neben der Tür drücken Abweisung aus. Beides spiegelt die Charakteristik des Romans in Teilen wider.

Als der Vater von Mickey und Arlo stirbt, überbringt der Anwalt Tom Samson als Erbverwalter der älteren Tochter die Nachricht, dass sie mehrere Millionen Dollar erhalten wird. Daran ist die Bedingung gebunden, dass sie sieben Psychotherapiestunden absolviert. Damit möchte der Vater sicherstellen, dass Mickey ihre Probleme aufarbeitet, die er dadurch entstanden glaubt, dass er die Familie verlassen hat. Mickey sucht sich eine Praxis und beginnt ihre Therapie bei der dort angestellten Arlo. Die Frauen wissen zu Beginn der Behandlungsstunden nicht, dass sie verwandt sind. Im Gegensatz zu ihrer Schwester erbt die Psychologin kein Geld, obwohl sie ihren Vater aufopferungsvoll bis zum Ende gepflegt hat. Beiden ist nicht bewusst, dass jede von ihnen viel größere Sorgen hat als das Ableben des Vaters.

Morgan Dick schlägt in ihrem Roman zunächst heitere Töne an, wenn Mickey darüber nachdenkt, ob und wann sie Alkohol konsumieren kann. Eine bestimmte Begebenheit in der Vorschule, in der sie unterrichtet, bringt ihr berufliche Probleme ein. Sie hält sich für emotional gefestigt genug, um damit allein klarzukommen, denn sie glaubt, dass sie von früheren Therapien immer noch profitiert. Auch Arlo hat Sorgen im Beruf. Genau wie ihre Schwester weigert sie sich, Hilfe zu suchen, um den Konflikt aufzuarbeiten, weil sie sich durch ihre Ausbildung für belastbar hält.

In der Erzählung kommt es immer wieder zu amüsanten Situationen, die auch mal über die Strenge schlagen. Demgegenüber stehen die schmerzlichen Empfindungen der Schwestern, die jedoch zunehmend selbst reflektieren und sich für die Meinung von anderen öffnen. Obwohl beide den Tod des Vaters auf verschiedene Weise verarbeiten, lernen sie im Laufe dieses Prozesses schöne als auch belastende Erinnerungen zuzulassen.

„Mickey und Arlo“ von Morgan Dick ist ein Roman, der sich mit Tiefgang dem Thema des Alkoholismus widmet. Genauso wie es oft in der Realität geschieht, wird das Problem immer wieder überspielt. Gleichzeitig zeigt die Geschichte die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich mit der Verarbeitung des Tods einer nahestehenden Person auseinanderzusetzen. Dennoch gibt die Autorin durch vergnügliche Momente den Schilderungen eine gewisse Leichtigkeit. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.