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Benutzername: 
helena
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 119 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2020
Im Bauch der Königin
Taha, Karosh

Im Bauch der Königin


sehr gut

Zwei Erzählungen über Migration, Frau-Sein, Identitätsfindung und abwesende Väter innerhalb einer kurdischen Community
Hier liegen zwei Erzählungen vor. Mit welcher man beginnt, ist egal. Ich begann mit der Geschichte um Amal.
Amal ist eine junge Frau, die sich schon früh nicht in die „Mädchenrolle“ fügen wollte und ihren eigenen „wilden“ Weg geht. Kurze Haare, schnell mal eine Prügelei, „wie ein Bursche, völlig außer Kontrolle“. Viele Freundschaften hat sie nicht, nur Younas. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihrem jüngsten Bruder Baran allein, irgendwo im Ruhrpott. Ihr Vater, der sie immer unterstützt hatte, zog, als sie 9 Jahre alt war, nach Kurdistan zurück. Dort konnte er wieder als Architekt tätig sein, während er in Deutschland nur ein Lagerarbeiter mit unzureichenden Deutschkenntnissen war.
Amal vermisst ihren Vater jeden Tag. Nach dem Abi fliegt sie zu ihm, nach Zaxo in das autonome Kurdistan im Nordirak.
Die zweite Erzählung dreht sich um Raffik. Hier tauchen wieder Amal, Younas und vor allem Shahira, die Mutter von Younas auf. Raffik steht ebenfalls kurz vor dem Abi. Seine Freundin, die er liebt oder auch nicht, möchte danach in die USA. Sein Vater möchte wieder zurück nach Kurdistan, aus den gleichen Gründen wie Amals Vater. Raffiq soll jedoch mitkommen...

Amals Geschichte ist als innerer Monolog konzipiert, gleich eines Bewusstseinsstroms. Die Sätze, poetisch gar, sind oft recht lang. Ich war ihr sehr nah und wurde sehr berührt, so kamen mir mehrfach die Tränen.
Die Erzählung um Raffiq ist ebenfalls in der Ich-Perspektive geschrieben. Der Schreibstil ist hier dennoch etwas anders, so sind die Sätze etwas kürzer und nüchterner. Ich blieb distanzierter und da Raffiq als Hauptfigur etwas blass blieb, fragte ich mich anfangs, wer oder was steht hier eigentlich im Mittelpunkt und worum genau geht es eigentlich? Zudem war ich anfangs etwas verwirrt, weil ich dachte, hier werde eine andere Perspektive der gleichen Geschehnisse dargestellt. Es war aber tatsächlich eine ganz eigenständige Geschichte. Zwar trifft man die gleichen Figuren, die auch etliche Gleichheiten aufweisen, sie befinden sich jedoch teils in anderen Konstellationen und haben teilweise andere Persönlichkeiten. Es dauerte daher ein wenig, bis ich mich einlas und mich diese Geschichte ebenfalls gefangen nahm.

Sehr berührend wird hier über Identitätsfindung von jungen aber auch älteren Migranten gesprochen. Die Rolle der Frau wird eindrücklich und nahbar reflektiert. Es geht aber auch um die Erwartungen der Anderen, um Familiendynamiken und die Beziehung zu den Eltern, besonders zu den oft nicht greifbaren bzw. abwesenden Vätern.
Sicherlich nicht neu, für mich aber immer wieder wichtig zu lesen, ist die hier beschriebene Situation von Migranten. Die spezifischen Schwierigkeiten der ersten Generation (innerhalb der Geschichten geht es um den gebildeten Mittelstand) sowie die Situation ihrer Kinder wird überzeugend beleuchtet. Gleichzeitig erhält man auch einen Einblick in die kurdische Kultur, ihre Normen, Werte und Moral, was mir sehr gut gefiel.
Ebenfalls gut gefiel mir die Bezugnahme auf Sheherazade sowie die merkliche Lust am Geschichtenerzählen.
Leider konnte mich, die mehr oder weniger auch im Mittelpunkt stehende Figur Shahira irgendwie nicht so ganz überzeugen. Sie schien mir unnahbar, etwas unverständlich und auch recht widersprüchlich in ihren Handlungen. Das Großartige, dass sie darstellen sollte, kam bei mir nicht an. Für mich machte es mehr Sinn, sie vielleicht eher als Symbol für die weibliche Sinnlichkeit an sich zu sehen, wenngleich es so wahrscheinlich nicht intendiert war.

Insgesamt sollte man die beiden Geschichten langsam oder zweimal lesen, um Feinheiten nicht zu übersehen und Andeutungen nicht zu überlesen. Beide Geschichten konnten mich fesseln und berühren. Sie beschäftigten mich, reizten zu Diskussionen, Nachfragen und Nachforschungen.

Bewertung vom 22.05.2020
Jenseits der Erwartungen
Russo, Richard

Jenseits der Erwartungen


ausgezeichnet

Psychologisch tiefer Spannungsroman mit tollem trockenem Humor

„Die Vier Musketiere,“ so nannten sie sich, nachdem sie sich im College kennenlernten und gemeinsam in einer Studentenverbindung kellnerten. Nach 40 Jahren treffen sich drei von ihnen wieder, um ein paar gemeinsame Tage zu verbringen: Lincoln, heute Immobilienmakler, glücklich verheiratet und vielfacher Vater; Teddy, der Allround Gelehrte, angestellt an einer Universität und eher Einzelgänger; sowie Mickey, der Rockmusiker, der von ihnen als erster in den Vietnamkrieg hätte gehen müssen, wenn er nicht nach Kanada geflüchtet wäre.
Die vierte im Bunde war Jacy, in die alle drei verliebt waren. Bei ihrem letzten gemeinsamen Ausflug nach dem Collegeabschluss 1971, ist sie verschwunden. Niemand weiß, was mit ihr geschah. Nun brechen alte Erinnerungen auf, zudem sie sich in dem damaligen Ferienhaus treffen. Lincoln beginnt nachzuforschen und trifft sich mit einem alten Detektive...

Es geht um die Suche nach Wahrheit, um direkte und indirekte Ursachen, um Erinnerungen, um das Auseinanderklaffen von Selbst-und Fremdbild. Wie gut kennen wir eigentlich selbst nahestehende Menschen? Es geht um Frauen- und Männerrollen, um Schicksale in den verschiedensten Facetten, um Selbstreflexion und Lebensbilanzen, um Eltern- Kindbeziehungen, um Freundschaft und selbstverständlich um die Liebe.

Nebenbei gibt es ein tolles Setting: USA in den 60ern, mit Rockmusik, aber vor allem auch mit Losverfahren und dem Vietnamkrieg. Gleichzeitig, da auf mehreren Zeitebenen und mit Rückblicken erzählt wird, erhalten man einen kleinen, durchaus satirisch- kritischen Einblick in die heutige US-amerikanische Gesellschaft.

Der Roman liest sich durchweg spannend und es kommt zu unerwarteten Wendungen. Ich geriet in einen richtigen Lesesog. Er ist intelligent erzählt und daneben komisch, mit einem feinen trockenem ironischen Humor. Sehr genial!
Die große Stärke ist vor allem die psychologische Tiefe und Komplexität dieser interessanten Figuren. Sie traten sehr lebendig vor mein inneres Auge und wurden nahbar. Selbst viele Nebenfiguren wurden komplex angelegt. Beziehungen zu den Eltern wurden betrachtet, wie diese die Entwicklung der Kinder beeinflussen und prägen. Der Autor zeigt wirklich ein feines Gespür für menschliches Verhalten und Dynamiken, die er klug und klar darlegt. Großartig fand ich unter anderem die kurzen Einblicke in die Mechanismen häuslicher Gewalt.
Insgesamt wurde eine reiche Lebenserfahrung und tiefe Menschenkenntnis des Autors auf jeder Seite deutlich spürbar!

Fazit: Hier wurde zwar das Rad nicht neu erfunden, trotzdem liest sich der Roman wunderbar. Er ist sehr routiniert geschrieben und unterhält auf hohem Niveau mit interessantem Setting! Psychologisch tief, humorvoll- ironisch und spannend. Mein erster Russo, aber sicher nicht der letzte..:)

Bewertung vom 17.05.2020
Wo die wilden Frauen wohnen
Siegel, Anne

Wo die wilden Frauen wohnen


ausgezeichnet

Sehr anschaulicher Einblick in die isländische Natur und Kultur

Schon allein das Vorwort ist sehr spannend und weckte in mir große Lust auf das Buch. Und Wow, ich erhielt so viel interessante und anschauliche Infos über die isländische Kultur, die Geschichte, die Natur und den Alltag, das habe ich gar nicht erwartet.
Zehn Frauen werden hier vorgestellt: eine Rangerin, Seefrau, Bierbrauerin, Designerin, Musikerin, Abenteurerin, Islandpferdesportlerin, Schlafforscherin, Geothermalwissenschaftlerin und Museumsleiterin. Man erfährt etwas aus ihrer Biographie, ihrem aktuellen Leben sowie ihrem aktuellen Lebensort mitsamt ihres persönlichen Kraftortes.

Während der Portraits schweift die Autorin immer wieder ab, um erhellende und sehr interessante Beobachtungen und Informationen über Island zu teilen. Letztlich verbleiben die Portraits deshalb vielleicht ein wenig oberflächlich, aber absolut ausreichend, um ein aussagekräftiges und berührendes Bild zu zeichnen. Hier und da gibt es kleine Redundanzen, aber das störte mich kaum.

Man erhält Einblicke, inwiefern sich hier eine besondere (Gleich-)Stellung der Frau etabliert hat, wie die weibliche Premierministerin das Land prägte, welche Verbindungen es zur DDR gab, wie es zum Streik, dem sogenannten „Frauenruhetag“ kam, wie Island mit der recht einschneidenden Finanzkrise umging und wie Island von der Klimakrise aktuell betroffen ist (schmelzende, verschwindende Gletscher!) und noch vieles mehr. Das Volk wird als debattierfreudig, als sehr flexibel und kreativ – sich stets neu erfindend, oft mehrere Berufe habend charakterisiert. Als stark, tapfer, offenen Herzens und frei, geprägt von heftigen Naturgewalten, die man sich kaum vorstellen kann. Das Wetter ändert sich mehrmals am Tag – waagerechter Regen, Vulkanausbrüche, aber auch kalbende Gletscher und Polarnächte sind erfahrbar.

Die Autorin ist Islandkennerin. Sie war schon unzählige Male dort und liebt dieses Land. Voller Respekt und Bewunderung schreibt sie, so dass ich schon fast neidisch wurde, nicht in Island geboren worden zu sein..:) Ihre Faszination schwappte über und entfachte in mir große Lust, noch mehr über dieses Land zu erfahren. Ich strich mir eine Vielzahl von Stellen an, die ich spannend und faszinierend fand. Es gab auch immer wieder berührende und auch humorvolle Szenen. Sie erzählt im Plauderton, der sich sehr unterhaltsam las.

Fazit: Ein sehr anschaulicher, unterhaltsamer und äußerst interessanter Einblick in ein mir vorher fast unbekanntes Land. Dies berührte mich so sehr, dass „Frauen, Fische, Fjorde. Deutsche Einwanderinnen in Island“, ein schon früher erschienendes Buch der Autorin, nun bereit zum Weiterlesen liegt..:)

Bewertung vom 16.05.2020
Das Kinderverstehbuch
Winkler, Sandra

Das Kinderverstehbuch


gut

Bin zwiegespalten

Die Autorin, Journalistin und selbst auch Mutter, stellt hier in kurzen prägnanten Kapiteln Gründe für bestimmtes Verhalten von Babies und Kleinkindern dar. Sie versucht Antworten auf 36 Fragen zu finden, die sie in einzelne kurze Kapitel ordnet, mit der jeweiligen Frage als Kapitelüberschrift.

Für die Antworten hat sie fachkundigen Rat von Ärzten, Hebammen sowie verschiedenen Wissenschaftlern eingeholt, die sie am Ende des Buches kurz vorstellt. Zudem nutzte sie vereinzelte Fachliteratur, Studien und Zeitungsartikel, die in einem Quellenverzeichnis aufgeführt sind.

Ich bin, um es vorweg zu sagen, recht zwiegespalten. Mein größter Kritikpunkt ist, dass sie im laufenden Text nie kenntlich macht, wessen Meinung oder These das nun gerade ist. Es vermischt sich alles: ihre eigene Meinung mit den Statements der verschiedenen Fachleute und den Informationen ihres Quellenstudiums. Damit wirkt für mich vieles nicht mehr nachvollziehbar bzw. etwas unglaubwürdig. Sie formuliert auch hin und wieder, als ob die Thesen unumstößliche Wahrheiten seien und für alle Kinder gelten. Andere Sachen formuliert sie andererseits sehr lax und flachsig.
Die Autorin verbleibt zudem nicht im Erklären, sondern gibt häufig auch Erziehungstipps, die ich weder erwartet noch in jedem Fall gebraucht hätte.

Insgesamt lesen sich die Kapitel sehr kolumnenhaft, wobei mich der Humor nicht immer erreichte, obwohl ich doch hin und wieder schmunzeln musste und auch ein- bis zweimal laut lachen. Auch hier hatte ich aber etwas mehr erwartet, wobei Humor natürlich auch einfach Geschmackssache ist..:) Grundsätzlich liest es sich aber sehr kurzweilig und leichtfüßig. Manche Kapitel sind etwas spezieller, so findet man unter der Fragestellung, warum Kinder Sand so lieben, ein Gedicht von Ringelnatz.
Die Illustrationen gefielen mir gut und werten das Buch auf. Da ich nur das e-Book las, kann ich über die farbliche Wirkung jedoch nichts sagen.

Vieles von dem, was sie erzählt, weiß man als Mutter. Manches erschien mir auch etwas zu aufgebauscht. Dennoch, und nun endlich mal das Positive, fand ich einige Informationen wirklich interessant, lehrreich und wichtig. Tatsächlich erhielt ich Antworten, Anregungen, Fakten, die mir letztlich den Alltag mit den Kindern erleichtern, da ich besser einschätzen kann, was ich von ihnen erwarten kann oder auch nicht (Empathiefähigkeit, Teilen- Können, Geschwisterstreitigkeiten, Essverhalten und einiges mehr).Was mir ebenfalls gut gefiel, dass sie mehrfach auf genderspezifische Erziehung aufmerksam macht und mich diesbezüglich noch mehr sensibilisieren konnte.

Fazit: Ich erhielt einige gute Informationen und Denkanstöße, habe aber insgesamt mehr erwartet. Geeignet für Menschen, die wenig Kenntnisse von Babies und Kleinkindern haben sowie als Lektüre für zwischendurch.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.05.2020
Goodbye, Bukarest
Seeberger, Astrid

Goodbye, Bukarest


ausgezeichnet

Sehr berührend, ergreifend und nachhallend

Eine Frau begibt sich auf Spurensuche. Sie sucht Bruno, den Bruder ihrer Mutter, letztendlich auch, um ihrer Mutter etwas nahe zu sein, die verstarb und zu der sie lange keinen rechten Kontakt mehr hatte. Zudem möchte sie Familiengeheimnisse lüften. Es hieß, Bruno sei tot, erst nach dem Tod der Mutter erzählte ihr der Pfarrer, dass dem nicht so sei und warum Bruno mit seiner Familie brach und sich nach dem Krieg nie wieder meldete.

Während des 2.Weltkrieg war Bruno Pilot und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Danach zog er nach Rumänien. Könnte er dort vielleicht sogar noch leben?

Die Frau trifft nun einige Bruno nahe stehende Menschen, die ihr erzählen, wie sie mit Bruno verbunden waren und wie es ihm ergangen ist. Die Zeiten waren schwierig, es ging ums Überleben: stalinistischer Terror, Krieg und russische Kriegsgefangenschaft, Rumänien unter der Diktatur Ceaușescus sowie eine Flucht nach Deutschland, ich erhielt hier sehr anschauliche und bewegende Einblicke. Und immer wieder spielen Freundschaften und Liebe (auch zwischen Männern), Einsamkeit, Hoffnungen und Enttäuschungen, Kunst und Literatur eine große Rolle.

Seeberger erzählt in einer sehr schönen poetischen Sprache, ganz wunderbar in einem leisen, aber eindringlichen Ton. Ich wurde sehr berührt und einige Situationen werde ich wohl nie wieder vergessen. Den Roman las ich in kleinen Happen, um ihn einerseits zu genießen, aber andererseits auch, um ihn angemessen zu verdauen. Manche Geschehnisse gingen sehr an die Nieren, so dachte ich besonders in den rumänischen Zeiten, nun könne es nicht schrecklicher werden, doch es wurde schrecklicher... Traurig und ergreifend, aber auch schön, versöhnlich, fein und voller Zärtlichkeit erzählt, liest sich der Roman nicht zuletzt auch wirklich spannend.

Der Roman ist autobiographisch gefärbt, da es hier ganz konkret um den Onkel der Autorin geht.

Fazit: Ein sehr gut erzählter, wahnsinnig berührender und auch kluger Roman über das Leben in Diktaturen, über Kunst, Freundschaft, Liebe und Familie. Unbedingt lesen

Bewertung vom 05.05.2020
Vor der Wand
Göring, Michael

Vor der Wand


ausgezeichnet

Sehr berührend, anregend und zeitgeschichtlich spannend

Im Fokus des Romans steht eine typisch (west-)deutsche Familie in einer typisch (west-)deutschen Kleinstadt. Der Vater war während des Hitlerregimes bei der Eisenbahn tätig und für die Koordination der Zugfahrpläne verantwortlich. Sehr nahe Kollegen waren für die Organisation der Sonderzüge verantwortlich.
Sein Sohn Georg, 1955 geboren, beginnt als Teenager, politische Diskussionen liebend und beeindruckt von Peter Weiss` „Ermittlungen“, vermehrt in den Vater zu dringen, dieser möge doch erzählen über sein Verhalten unter Hitler. Der Vater jedoch schweigt. „Warum reagierte Vater immer so aufbrausend und abwehrend zugleich, sobald das Gespräch auf die Nazizeit kam? Gut, Georg klagte immer gleich an. Aber wie sollte man anders über diese Jahre sprechen? Neutral? Verständnisvoll? Mitfühlend gar? Nein!“
Vater und Sohn entfremden sich voneinander. Einige Jahre später liegt der Vater aufgrund einer schweren Krebserkrankung im Krankenhaus. Georg und er nähern sich wieder an und der Vater bricht sein Schweigen.

Die Figuren und ihre Handlungen konnte ich sehr gut nachvollziehen und verstehen. Profunde Fragen werden hier thematisiert: Wie geht man mit der Verantwortlichkeit, der Schuld des Einzelnen um? Wie geht man damit um, wenn Eltern in gewisser Weise zu Tätern gehörten? Wie soll man ihr Verhalten bewerten? Welche Folgen hat das eigentlich für die Nachkommen der Täter?

Daneben geht es auch um eine etwas komplizierte Vater- Sohn Beziehung und das Singen, das beide miteinander verbindet. Beide verfügen über Gesangstalent und singen im Chor. Klang für mich erst mal furchtbar spröde, war es aber – überraschenderweise - überhaupt nicht. Ganz warmherzig und berührend wird vom Singen, auch von Fallstricken während des Stimmbruchs oder auch einer möglichen einschlägigen Berufswahl erzählt.

Der auch zeitgeschichtlich sehr interessante Roman (Organisation der Bahn unter Hitler, Kriegsgeschehen, politische Zeit der 68er) wird in verschiedenen Zeitebenen und mit Rückblicken erzählt. Die Lektüre nahm mich so komplett gefangen, dass ich bei jedem Zeitensprung und neuem Kapitel immer kurz Orientierung brauchte, da ich so versunken war. Absolut fesselnd, intensiv, berührend und auch witzig wird erzählt. Hier wurden zudem verschiedene Dilemmata deutlich gemacht, was mich sehr aufrührte und zum Innehalten und Nachdenken anregte.

Die titelgebende Wand findet sich im Roman übrigens immer mal wieder, mal ganz konkret und mal als Metapher.

Fazit: Ein berührender, einfühlsamer und kluger Roman über eine Vater- Sohn Beziehung sowie über einen Teil der deutschen Nazi- Vergangenheit, der – öffentlich insgesamt kaum beachtete - Auswirkungen auch auf folgende Generationen hat.

Bewertung vom 01.05.2020
Die Kunst des stilvollen Wanderns - Ein philosophischer Wegweiser
Graham, Stephen

Die Kunst des stilvollen Wanderns - Ein philosophischer Wegweiser


sehr gut

Für Liebhaber der Natur, des Reisens, der Literatur und Philosophie

Das sehr interessante und neugierig machende Vorwort, welches das vorliegende Werk in einen verständlichen Kontext rückt, schrieb Alastair Humphrey, selbst ein begeisterter Weltreisender und Autor.

Erstmalig erschien das Essay über das stilvolle Wandern 1926. Graham, Reisejournalist, führt hier seine Gedanken zum Wandern und Reisen aus. Wandern charakterisiert er als tage-, auch wochenlange Streifzüge durch unbekannte Gegenden, inkl. Schlafens unter freiem Himmel.
Er bereiste unzählige Länder (Russland, USA/ Kanada, europäische Länder) und gewann dabei vielerlei Einsichten in die Lebensweise fremder Kulturen. Er berichtet hier von konkreten Gegenden, zeigt geographische, politische und rechtliche Besonderheiten verschiedener Länder in Bezug auf das Wandern auf und hat dabei auch immer einen soziologischen Blick.

Der Leser erhält neben praktischen Tipps zu Ausrüstung, auch Einsichten dazu, welches das passende Buch auf Reisen sei (dieses Kapitel gefiel mir besonders gut). Das Ideal eines wandernden Gentleman ist Graham wichtig, so dass er immer auch wieder Verhaltensratschläge gibt. Bisweilen wirken manche Dinge ein wenig in die Jahre gekommen, dennoch finde ich seine Ansichten grundsätzlich nicht veraltet.
Er stellt seine Lebensphilosophie und Anschauungen zur Natur des Menschen dar. „Wandern ist eine Kunst: Derjenige, der weiß, wie man wandert, weiß auch, wie man lebt.[...] Das Wandern konfrontiert uns mit der Wirklichkeit.“ Doch Wandern ist nicht nur Lebenskunst, sondern auch „der schnellste Weg, das Herz einer Nation zu erschließen“ sowie „zum Verständnis der Völker“ beizutragen. Es geht dem Autor um Achtsamkeit, um Idealismus, um innere Werte und das Verhalten zu anderen Menschen. Um das Gefühl der Freiheit, um den direkten Kontakt zur Natur, um Lebenskunst und Poesie. Es geht um das Glück, die Suche nach Wahrheit und Selbsterkenntnis.

Der Autor ist sehr bewandert in der Literatur, Kunst und Kultur, er nutzt Gedichte und Liedtexte und bezieht sich häufig auf Philosophen oder Dichter, wie Diogenes und Shakespeare, aber auch auf viele mir eher unbekannte, vor allem aus der damalig aktuellen britischen Literaturszene stammend.

Er schreibt sehr humorvoll, ich habe mich sehr amüsiert und bestens unterhalten. Seine Gedanken zum Wandern, Reisen, Menschen und dem Leben allgemein empfand ich nachvollziehbar und vor allem inspirierend, berührend und bereichernd. Manchmal langweilten mich seine etwas schwülstigen Naturbeschreibungen, aber zumeist wirkte sein Schwärmen doch sehr ansteckend. Ich bekam große Lust sofort los zu wandern!

Fazit: Wahrscheinlich nicht für jeden das Richtige, mich aber hat es sehr beeindruckt und inspiriert. Gleichzeitig bin ich auf seine Reportagen über seine Reisen durch Russland und den Kaukasus sehr neugierig geworden..:)

Bewertung vom 28.04.2020
Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen
Perry, Philippa

Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen


ausgezeichnet

Im Fokus dieses Erziehungsratgebers steht die Beziehung zum Kind und dabei insbesondere der Umgang mit dessen Gefühlen. Die Autorin, eine Psychotherapeutin, sagt, dies sei das Wesentliche innerhalb der Elternschaft und Erziehung.

Die Beziehung zum Kind wird durch die Erwachsenen geprägt und gesteuert. Es braucht eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, denn wenn z.B. unser Kind in uns übermäßig aufgeladene, sehr starke Gefühle auslöst, haben diese zumeist ihren eigentlichen Ursprung in unserer eigenen Kindheit, dessen wir bewusst sein sollten. Darüber hinaus sind wir ein starkes Vorbild für das Kind und können z.B. auch die Art unseres inneren Dialogs, insbesondere unseren „inneren Kritiker“ an diese (unbewusst) weiter geben. Je besser wir uns also selbst kennen, desto bewusster und empathischer kann die Beziehung zum Kind sein.
Insofern schaut sich die Autorin auch Paarbeziehungen genauer an, auch im Trennungsfall und erläutert, wie man „richtig“ streitet. Sie nimmt Einstellungen und Erwartungen bezüglich Elternschaft unter die Lupe, guckt auf Schwangerschaft und Geburt. Sie erklärt die erste Bindung sowie (spätere) Bindungstypen. Zugleich weist sie auf die natürliche elterliche Ambiguität oder auch die elterliche Einsamkeit hin, und wie wichtig es ist, diese auszusprechen, um sie letztlich zu entschärfen.
Sie spricht wertfrei relativ tabuisierte Themen an, z.B. Langeweile in der Baby- oder Kleinkinderphase und zeigt Lösungswege auf, wie man die Perspektive ändern oder auch, was man ganz konkret tun kann.

Wie man die Beziehung zum Kind verbessert bzw. gestaltet, zeigt sie an ganz konkreten Beispielen. Hier geht es vorrangig um den Umgang mit Gefühlen. Diese solle man stets wahrnehmen, annehmen und für das (Klein-)Kind einordnen. Immer wieder, immer wieder, bis es sich Jahre später selbst (besser) regulieren kann. Anstatt, wie es im Alltag oft vor kommt, über diese hinweg zu gehen, zu ignorieren, abzulenken oder überzureagieren. Sie zeigt zudem auf, warum uns das manchmal schwer fällt und was uns dabei im Wege steht.
Sie verdeutlicht, warum sich Kleinkinder oft „schwierig“ und nervig“ verhalten und wie wir als Erwachsene damit am besten umgehen können. Hierzu geht sie ganz konkret auf den Umgang mit Wutanfällen ein, das Grenzen setzen bei Kleinkindern und Teenagern sowie auf den Umgang mit Lügen (seitens der Eltern und Teenager).

Die Autorin hat eine sehr fehlerfreundliche Haltung und betont, dass etwaige „Brüche“ durch elterliches Verhalten „repariert“ werden können. Indem man sich z.B. beim Kind entschuldigt und natürlich vor allem, indem man ernsthaft daran arbeitet, das eigene Verhalten zu verändern.
Ihr Ansatz ist bedürfnisorientiert und sie präferiert den kooperativen Stil. Ihr geht es um eine gelingende Beziehung, in der die Kommunikationswege auch in der Pubertät offenstehen, statt um Dominanz und die Herausbildung von Gewinnern und Verlierern.

Die Autorin veranschaulicht ihre Thesen durch alltagsnahe Fallbeispiele und unterfüttert sie mit Studienergebnissen. Es gibt mehrere Übungen, oft Visualisierungsübungen, die der Selbsterkenntnis dienen. Manche fand ich recht anspruchsvoll. Ihre Darlegungen sind insgesamt sehr verständlich und überzeugend. Hin und wieder hätte ich mir nur gern noch etwas mehr Ausführlichkeit gewünscht. Sehr positiv empfand ich ihre Praxisorientierung, so dass man sich viel mitnehmen kann.

Fazit: Ein überzeugender Erziehungsratgeber, der zeigt, was Kinder brauchen und wie Beziehungen zu ihnen gelingen. Für mich ist dieses Buch sehr wertvoll, obwohl ich auch hier, wie bei allen Erziehungsratgebern es nicht dogmatisch lese. Ich wurde sensibilisiert, noch aufmerksamer und empathischer auf meine Kinder einzugehen. Zudem erhielt ich konkrete Praxistipps und wurde zu Perspektivwechseln angeregt. Insgesamt fühle ich mich sehr bestärkt, ermutigt und vor allem auch besser gerüstet sowohl für die Kleinkind- als auch Pubertätsphase. Mehr kann ich wirklich nicht erwarten..:)

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.04.2020
Die Parade
Eggers, Dave

Die Parade


sehr gut

Gelungene Parabel mit reichhaltigem Inhalt und Diskussionsstoff

Eine Straße soll gebaut werden. In einem Land, in dem kurz nach Beendigung eines heftigen Bürgerkrieges immer noch in einigen Gebieten Rebellen aktiv sind. So soll der Norden mit dem Süden verbunden werden, damit dorthin leichter Waren, Medikamente usw. transportiert werden können. Zur Eröffnung in wenigen Tagen, plant der Präsident eine Parade durchzuführen, die ein wichtiges Friedenssignal werden soll.
Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen nun die zwei Mitarbeiter, die von einer ausländischen Firma geschickt worden sind, um diese Straße mit Hilfe einer hochtechnisierten – futuristischen – Maschine zu teeren. Die Firma hat den beiden, die ihre richtigen Namen nicht kennen dürfen und sich daher Neun und Vier nennen, etliche Vorschriften und Verbote mitgegeben. Sie sollen keinen Kontakt mit den Einheimischen aufnehmen, keine lokalen Speisen verzehren und vieles mehr. Das klingt erst mal merkwürdig, allerdings wird das zumeist nachvollziehbar begründet.
Neun ist das erste Mal dabei und hält sich an keine der Regeln. Stattdessen taucht er interessiert in die Geschichten der zumeist sehr armen Einheimischen ein und beginnt sogar seine Arbeit zu vernachlässigen. Vier, schon sehr lange dabei, wird immer wütender, beschließt aber, sich gewissenhaft auf das Teeren der Straße zu konzentrieren.... bis Vier schwer erkrankt und ernste Komplikationen entstehen, zudem der Tag der Parade immer näher rückt.

Wir haben es hier mit einer Art Parabel zu tun, die sich sehr anschaulich und spannend liest. Aufgrund der etwas verfremdeten Darstellungsweise, der typisierten Figuren sowie der etwas futuristischen Atmosphäre, die mich staunen und sehr aufmerksam lesen ließ, wurde ich tatsächlich sehr zum Nachdenken angeregt. Hier fand ich viele Situationen, über die ich Lust bekam, zu reflektieren und zu diskutieren.
Pointiert und etwas provokativ wird auf Problematiken aufmerksam macht, die entstehen, wenn man als Ausländer in (Bürger-) Kriegsländern tätig wird. Es geht darum, welche unkalkulierten Folgen etwaige Handlungen auf wirtschaftlicher, politischer, sozialer oder auch ganz persönlicher Ebene haben können.
Es geht um ethisch "richtiges" Verhalten und nicht zuletzt geht es auch um Arbeitskollegen, über die man sich die Haare raufen könnte..:)

Das Ende nimmt eine überraschende Wendung, wenn gleich mir, als erfahrene Leserin, im ersten Drittel schon klar war, wie es ausgehen wird. Dennoch minderte das mein Lesevergnügen ganz und gar nicht, da mir die Geschichte an sich sehr gut gefiel.
Lediglich ein Vorfall irritierte mich, ein Verhalten von Neun, das ich jetzt nicht spoilern möchte, da hätte ich mir sehr gewünscht, dies noch etwas deutlicher/ länger zu betrachten. War es ein tatsächliches Vergehen, war es ein "Missverständnis" oder doch eine Lüge? Warum thematisiert das Vier nicht mit seinem Kollegen?

Der Umfang des Buches ist zwar gering, der Inhalt jedoch sehr reichhaltig!

Klare Leseempfehlung für ältere Jugendliche und Erwachsene!

Bewertung vom 04.04.2020
Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 3
Xu, Xianzhe

Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 3


gut

Zu viel Gemetzel, zu wenig Inhalt

Wind, Wüste, Sandsturm. Daoma und seine Gefährt*innen befinden sich immer noch auf der Poststation, da der Kampf gegen Klanführer He Yixuan nicht entschieden ist. Durch die Intrige des kaiserlichen Hofs treffen nun auch die anderen Klans ein und der Kampf scheint ausweglos...

Dieser dritte Teil enttäuschte mich. Er besteht zu einem sehr großen Teil aus Kampfszenen, Gemetzel und Brutalität. Sie langweilten mich sehr, zudem ich solche Gewaltszenen generell nicht mag. Sie waren schon immer Teil dieser Comicreihe, aber hier waren es einfach extrem viele.

Sehr enttäuschend fand ich zudem, dass über Daoma nichts Wesentliches bekannt wurde, und ich finde, dass es an der Zeit gewesen wäre, hier ein wenig mehr Fakten zuzufügen. Schließlich befinden wir uns schon im Band 3 und wissen immer noch nicht allzu viel.

Positiv waren die Einblicke in die Philosophie, Religion und natürlich die Geschichte des alten Chinas, dies es auch hier wieder gab. Man erfährt z.B. etwas über die Reitervölker, über die räuberischen und mörderischen Rouran. Sie machten Sklaven und aus diesen entflohenen Sklaven entstanden die unabhängigen Klans.

Wieder endet der Comic mit einem Cliffhanger.
Als Bonuskapitel sind diesmal Charakterstudien von einigen Figuren – Daoma und Shu- beigefügt.

Mit diesem Band bleibe ich eher unzufrieden zurück und hoffe sehr, dass der nächste Teil wieder mit mehr Inhalt gefüllt ist!