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Benutzername: 
helena
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 119 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2020
Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 2
Xu, Xianzhe

Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 2


ausgezeichnet

Sehr unterhaltsam und historisch interessant

Daoma geleitet Zhishilang, der den Kaiser stürzen möchte, zur Hauptstadt Changàn. Auf dem Weg kreuzen sie den Weg des schönen Kämpfers Shu, der in seiner Kutsche von Dämonenanbetern angegriffen wird und eigentlich eine entflohene (Lust-) Sklavin zurück bringen soll.
Gleichzeitig werden die unabhängigen Klans vom Kaiserhof geködert, dass sie sich dem Kaiserreich anschließen sollen. Nur Mo ist dagegen und möchte die Unabhängigkeit, auch aufgrund der schmerzlichen Vergangenheit der Klans, wahren. Doch für die anderen ist das Angebot zu verlockend...

Neben Daoma, über den ein wenig Hintergrundwissen preisgegeben wird, treten gleich mehrere interessante und auch skurrile Figuren auf. Gut gefiel mir insbesondere die Figur Mo, aufgrund seiner Weisheit, seines Rückgrat und seiner Tapferkeit.

Das Comic liest sich wieder sehr actionreich, sehr unterhaltsam und wahnsinnig spannend, ich konnte es kaum aus der Hand legen. Allerdings war ich etwas frustriert darüber, dass der Band mit einem bösen Cliffhanger endet.

Wieder erhält man sehr interessante Einblicke in die Geschichte des alten Chinas. Man lernt die politischen Gegebenheiten sowie auch alte Sitten und Gebräuche kennen. Hin und wieder stößt man auf philosophische Gedanken. Im Fokus stehen zudem Entscheidungsfragen, also wie entscheide ich mich, handle ich moralisch oder auf den eigenen Vorteil bedacht? Das gefiel mir sehr gut.

Fazit: Ein gelungener, spannender und anregender zweiter Teil mit interessanten Figuren.

Bewertung vom 04.04.2020
Was wir sind
Hope, Anna

Was wir sind


sehr gut

Ein weiblicher Roman über die Generation der heutigen Enddreißiger

Es ist ein spürbar weiblicher Roman, ein feministischer Roman, der die heutige Generation der Enddreißiger samt ihrer Eltern im Blick hat.
Drei miteinander befreundete Frauen, in London und Umgebung lebend, stehen im Mittelpunkt.
Hannah ist mit Nathan verheiratet. Sie wünscht sich verzweifelt ein Kind und versucht alles Erdenkliche. Die Beziehung zu ihrem Mann verliert sie dabei etwas aus den Augen.
Lissa blieb als Schauspielerin der große Erfolg versagt und sie hangelt sich beruflich so durch. Aktuell wirkt sie an einer Tschechow Inszenierung mit. Kinder möchte sie auf keinen Fall, nicht zuletzt aufgrund ihrer komplizierten Beziehung zu ihrer Mutter Sarah.
Cate fühlt sich als „Restposten“ auf dem Männermarkt, bis sie dann doch jemanden im Internet kennenlernt, sich verliebt und ziemlich schnell ein Kind bekommt. Diese Mutterschaft stellt sie allerdings vor ungeahnte Herausforderungen.

Der Roman erzählt abwechselnd von den drei Frauen, auch mit Rückblicken in ihre Jugend. Normalerweise habe ich mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln keine Probleme, mag sie sogar sehr, aber hier hatte ich manchmal Mühe mich zu orientieren, von wem gerade die Rede ist.
Überhaupt musste ich mich auf diesen Roman erst mal einlassen, doch dann berührte er mich sehr, vor allem der Kinderwunsch Hannahs weckte tiefes Mitgefühl. Manche Szenen fesselten mich sehr, z.B. empfand ich die Theaterproben sehr spannend und lebendig, andere wiederum ließen mich eher kalt und ich langweilte mich sogar manchmal. In viele Situationen konnte ich mich hineinfühlen, allerdings nicht in jegliche und manche Handlungen konnte ich wirklich nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz schienen sie mir jedoch möglich und damit letztlich auch glaubhaft. Hier wird vieles wenig romantisiert dargestellt, was mir einerseits gefiel, was mich andererseits aber auch etwas ernüchterte.
Den kurzen Ausflug in die Welt der Abjekte (was das ist, erfuhr ich erst durch diesen Roman) fand ich übrigens sehr amüsant..:)

Die Autorin nimmt sich den weiblichen Themen und Frauenfiguren auf sehr niveauvolle Weise an. Sie zeigt die unterschiedlichen Einstellungen zum Kinderwunsch sowie die unterschiedlichen Facetten von Mutterschaft. Sie zeigt Elternbeziehungen, Paarbeziehungen und vor allem auch die Beziehung der drei, letztendlich auch einsamen, Frauen untereinander. Es gibt Konkurrenz, Neid, Lug und Betrug. Waren es eigentlich Freundinnen, sind Frauenfreundschaften eigentlich möglich, fragte ich mich an einigen Stellen. Dieses Thema rührte mich sehr an und ich regte mich wirklich über Lissas Verhalten auf (das Verhalten des Mannes fand ich auch recht daneben).

Darüber hinaus werden die unterschiedlichen Generationen und Lebensideale gegenüber gestellt: die Elterngeneration der Frauen, politisch aktiv oder auch religiös orientiert, - im Gegensatz zu ihren nun erwachsenen Kindern, die zwar in der Jugend rebellisch waren, jedoch recht schnell das private Glück und die finanzielle Absicherung in ihren persönlichen Vordergrund stellten. „Die jungen Leute werden älter und fangen an, Kompromisse zu machen. So ist das eben. Man gibt den Kampf auf und kapituliert und wird zum Teil des Problems.“

Neben dem, dass der Roman mich nicht hundertprozentig fesseln konnte, bemängle ich die unscharfe Herausarbeitung der Themen des Romans, die mehr Akzente, mehr Klarheit verdient hätten. Vielleicht waren es insgesamt zu viele Themen- Lebenskrisen, Freundschaft, Feminismus, Mutterschaft, Beziehungen, Generationenportrait, so dass sie letztendlich, ähnlich des Titelbildes, etwas verschwimmen.
3,5 Punkte

Bewertung vom 31.03.2020
Alfie und der Clownfisch
Bell, Davina

Alfie und der Clownfisch


ausgezeichnet

Sehr ausdrucksstark und wirkmächtig

Was für ein schönes Kinderbuch!

Alfie ist schüchtern. Vor einigen Dingen hat er Angst, die er dann lieber vermeidet, obwohl er sich dann auch nicht gut damit fühlt. Ob das ein Geburtstagsfest ist oder aktuell das Unterwasserkostümfest. Er geht nicht hin. Seine Eltern reagieren warmherzig und unterstützen ihn. So geht die Mutter mit ihm ins Aquarium. Dort entdeckt Alfie Clownfische. Das sind Fische, die sich gern verstecken, so wie er. Seine Mutter sagt: „So sind sie eben.“ Für das nächste Kostümfest nimmt er sich vor, als Clownfisch zu gehen.

Sehr einfühlsam wird Alfie beschrieben, man kann sich gut in ihn hineinversetzen. Ich wurde sehr berührt und an entsprechende selbst erlebte Situationen erinnert. Das Verhalten der Eltern fand ich sehr eindrucksvoll.

Text und Bilder sind auf das Wesentliche reduziert, wodurch sich die Wirksamkeit enorm erhöht. Einerseits ist alles sehr klar dargestellt, andererseits eröffnet sich ein weiter Raum, der zur Fantasie, zur Interpretation und zur Diskussion einlädt. Das Buch erlaubt, über verschiedene Gefühle und den Umgang mit ihnen zu sprechen sowie Vorannahmen zu hinterfragen.
Es geht hier nicht nur vorrangig darum, Mut zu schöpfen, sondern auch, sich selbst zu erkennen und vor allem sich selbst zu akzeptieren sowie das Passende für sich zu finden.

Ein inhaltlich und äußerlich wirklich wunderbar gestaltetes Buch. Aussagekräftig, reichhaltig, berührend – ganz großartig!

Bewertung vom 29.03.2020
Die Optimisten
Makkai, Rebecca

Die Optimisten


sehr gut

Hochinteressant und berührend

Galeristen, Maler, Schauspieler, Redakteure, Fotografen und andere Künstler unterschiedlicher Generationen bevölkern diesen, fast episch anmutenden Roman, der zwei sich abwechselnde Handlungsstränge verfolgt.
Die Haupthandlung findet in Chicago in den Jahren 1985- 1992 statt. Im Mittelpunkt steht der Galerist Yale. Eine alte Dame möchte einige unbekannte Werke teils sehr bekannter Künstler der Galerie vermachen, in der er tätig ist. Yale fährt zu ihr und hört sich Noras Lebensgeschichte an, voller Aufregung und Freude über diesen überraschenden Glücksfund.
Gleichzeitig ist seine Lebenswelt jedoch überschattet von den ersten Toten des noch unbekannten HI-Virus. Große Unsicherheit, Angst und Trauer bricht in der Schwulenszene, in seinem nahen Umfeld aus.
Yale befindet sich in fester Partnerschaft mit Charlie. Während Yale der geerdete beständige Typ ist, ist Charlie eher unsicher und vor allem sehr eifersüchtig. Dennoch ergänzten sie sich bislang recht gut...

Der zweite Handlungsstrang fokussiert Fiona, eine Freundin von Yale. Fiona war zudem die Schwester von Nico, einer der ersten Aids Opfer, damals 1985 in Chicago. Fiona pflegte ihn sowie auch andere aus der Szene. Die vielen hautnah miterlebten Tode traumatisierten sie.
Jetzt, 30 Jahre später, trifft sie in Paris einen alten Freund. Sie ist auf der Suche nach ihrer Tochter Claire, die lange Zeit in einer Sekte lebte und den Kontakt zu ihrer Mutter ablehnt.

Anfangs hatte ich ein wenig Mühe, in den Roman hineinzukommen. Es waren einfach zu viele Namen und ich wurde mit den Figuren nicht so recht warm. Der Schreibstil schien mir auch irgendwie etwas geschwätzig und redundant. Aber plötzlich, obwohl es wirklich ein wenig dauerte, nahm der Roman mich gefangen. Die Menschen berührten mich, ich begann die Atmosphäre zu spüren, ich tauchte ein, war gefesselt und gespannt, der Roman erwachte zum Leben. Ich genoss den Humor, die Ironie, wurde von der Tragik erschüttert und wurde immer wieder auch zum Nachdenken angeregt, nicht zuletzt über das Lebensgefühl der 80er Jahre, aber auch das Lebensgefühl der aktuellen Zeit, gemäß der Einsicht: „Wartet man nicht eigentlich permanent darauf, dass die Welt aus den Fugen gerät?“ […] Wenn die Verhältnisse stabil sind, dann immer nur vorübergehend.“

Die Autorin verarbeitete viele Interviews, die sie für diesen Roman führte und stellt die 80er Jahre, den HIV und Aids Ausbruch mitsamt der speziellen Atmosphäre sehr anschaulich und eindrücklich dar. Die greifbare Angst vor dem Tod wird fühlbar. Existentielle Fragen werden für jeden wichtig - wie lebt man eigentlich angesichts des nahen Todes bzw.- hat man eigentlich Hoffnung, dass es irgendwann Überlebende geben wird? Erst 1996 kamen nämlich die „guten“ Medikamente...
Aids galt in der ersten Zeit als „Schwulenkrankheit“. Makkai zeichnet ein interessantes Bild der Schwulenszene in Chicago, stets auch im Gewahrsein der allgemeinen Schwulenfeindlichkeit, des gesellschaftlichen Unverständnisses und der realistischen Gefahr, Opfer von Übergriffen zu werden.

Über all das hinaus erhält man zudem einen sehr interessanten Einblick in die Kunstwelt und die Kunstphilosophie. Hierzu zählt nicht zuletzt auch Noras Lebensgeschichte. Im Paris der 20er Jahre war sie die Muse für einige Künstler. Für die jungen Künstler, die den Krieg erlebten und als „verlorene Generation“ galten: „Der Krieg machte uns älter als unsere Eltern. Und wenn man älter ist als die eigenen Eltern, was dann? Wer soll einem dann zeigen, wie man lebt?“

Hier liegt ein hochinteressanter, reichhaltiger, aber keinesfalls überfrachteter Roman vor. Anfangs ist er allerdings etwas zäh und am Ende flacht die Spannung ein wenig ab. Er berührte und informierte mich sehr und regte zum Nachdenken an, nicht zuletzt auch über die großen Themen Freundschaft, Liebe und Verlust. Zudem verdeutlicht er die Wichtigkeit von Frieden, Toleranz und Menschlichkeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.03.2020
Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 1
Xu, Xianzhe

Biaoren - Die Klingen der Wächter - Band 1


sehr gut

Spannende Abenteuer des Kopfgeldjägers Daoma im alten China

Dies ist mein erster chinesischer Comic, und der erste Comic, den ich in anderer Leserichtung las, also von hinten nach vorn sowie von rechts nach links.

Im Mittelpunkt steht der Kopfgeldjäger und Geleitschützer Daoma, der verschiedentliche Aufträge annimmt, um vor allem seine Schulden bei dem alten Mo, einem Sklavenhändler, zu begleichen. Er reitet stets mit seinem (?) kleinen drei- oder vierjährigen Sohn Sieben. Sie erleben Abenteuer und treffen auf viele interessante, auch merkwürdige Menschen sowie sogar auf Dämonen. Natürlich wird viel gekämpft, aber es werden auch Lebensweisheiten ausgetauscht und Witze gemacht.

Ich konnte diesen Comic nicht zur Seite legen, so spannend fand ich ihn. Sogar den zweiten Teil musste ich gleich hinter her lesen..:)
Die Story ist wendungsreich und lebt von der geheimnisvollen, kantigen, klugen Gestalt Daoma, von der man nur hier und da kleine Brocken über seine Hintergrundgeschichte erfährt. Vieles wird nur angedeutet, so dass sich sicherlich in den Folgebänden noch Überraschungen auftun werden. Auch aus seinem Charakter wird man noch nicht so ganz schlau. Einerseits handelt er sehr moralisch, aber dann auch wirkt er eher kalt und berechnend. Alles in allem eine interessante Figur, so wie auch der kleine Sieben, der sich bei den Kämpfen laut zählend die Augen zuhält und doch immer mal wieder heimlich zuschaut.
Die Figuren sind recht vielschichtig angelegt, das gefiel mir gut.
Die brutalen (Kampf-)Szenen überlas ich übrigens etwas, da ich abgetrennte Gliedmaßen und hervorquellende Augen nicht sehen möchte, zudem ich grundsätzlich Gewalt nicht mag.

Der historische Kontext- der Übergang der Sui zur Tang Dynastie, um 600 im alten China, wird angedeutet, im Folgeband aber noch mehr vertieft. Hin und wieder gibt es jedoch kurze, sehr interessante Erläuterungen. Insgesamt war ich sehr angetan von diesem Einblick in jene vergangene Welt.

Der Zeichenstil ist schwarz- weiss, recht dynamisch und mit ausdrucksstarken Mimiken. Er gefiel mir gut, obwohl ich in kleinen Situationen die Figuren nicht gut erkannte (was jedoch wahrscheinlich an meinem ungeübten Auge lag). In anderen kleinen Situationen konnte mich die Sprache nicht immer überzeugen, ob es hierbei an der Übersetzung lag, kann ich jedoch nicht beurteilen.

Neben einem angehängten Bonuskapitel gibt es noch ein erhellendes und sympathisches Vor- und Nachwort, wobei man das Vorwort auch gern zum Schluss lesen kann bzw. sollte.

Trotz der benannten kleinen Kritikpunkte hat mich dieser sehr spannende, wendungs- und actionreiche Comic wunderbar unterhalten und mich dabei so in das alte China entführt, dass ich im Anschluss gleich den 2. Teil lesen musste und nun sehr gespannt auf die weiteren Bände bin..:)

Bewertung vom 08.03.2020
Milchmann
Burns, Anna

Milchmann


sehr gut

Nordirland, Belfast, 1979 - einerseits – andererseits sicher auch eine Parabel für sämtliche Gesellschaften, insbesondere bürgerkriegsbetroffene, aber auch Gesellschaften mit patriarchalischen, religiösen oder totalitären Strukturen.

Die eigenwillige und kluge Icherzählerin beschreibt, wie sie Stalkingopfer und infolge Opfer von Gerüchten und letztlich Opfer der Verhältnisse wird. Der Milchmann spürt ihr nach, obwohl verheiratet, möchte er sie zur Geliebten. Er ist ein hohes Tier unter den politischen Rebellen, den „Verweigerern“. Ihr wird schnell ein Verhältnis angedichtet. Weder ihr Vielleicht- Freund glaubt ihr, noch ihre Mutter. Viele Freunde hat sie nicht. Und eigentlich möchte sie sich nicht mit der grausigen Realität auseinandersetzen, stattdessen versinkt sie lieber in der Literatur des 19. Jhdts. Dennoch läuft sie durchaus mit wachen Augen durch die Gegend, erkennt vieles, nur was sie selbst betrifft, nimmt sie nicht wahr bzw. verdrängt sie.

Ihre Lebensrealität ist allgemein sehr bedrohlich, was sehr eindrücklich geschildert wird. Sie lebt in einer „permanent alarmbereiten Gesellschaft“ mit Überwachung, hoher Gewaltbereitschaft und der ständigen Gefahr von (sexuellen) Übergriffen, Bomben und Busentführungen. Die Menschen sind daher paranoid, niemand sagt, was er wirklich denkt, niemand zeigt sich, wie er wirklich ist. Es besteht eine riesige Fassade, es heiratet sogar niemand den, den er wirklich liebt, weil es zu allem noch einengende Religionsvorschriften, starre Traditionen und Konventionen gibt. Die Menschen leben somit oft eine Doppelmoral, es wird wichtig, was die anderen über einen denken und Gerüchte erhalten eine große Macht.

Es ist eine patriarchalische Gesellschaft in der diese junge Frau Opfer männlicher Gewalt wird. Dieser Prozess wird sehr gut und sehr berührend beschrieben. Die Ich Erzählerin zieht sich immer mehr in sich zurück, bis sie letztendlich kapituliert, was wirklich schmerzhaft anzusehen ist. Es fehlten ihr auch stets die richtigen Worte, um sich verständlich zu machen. Auch das ist immer wieder Thema des Romans - das Unaussprechliche. Immer wieder wird sichtbar gemacht, wie wichtig das Aussprechen, das Erfassen und damit einhergehende Verdinglichung der Wirklichkeit ist, um Selbstwirksamkeit und innere Ruhe, trotz relativer Machtlosigkeit, zu erlangen.

Die Autorin lässt nah an den Gedanken der Ich-Erzählerin teilhaben. Diese schildert Wahrnehmungen, Empfindungen, reflektiert diese, setzt sie in Zusammenhänge und hinterfragt sie immer wieder. Sie verfügt über keine Sicherheiten, kein Vertrauen, daher ist sie stets voller Zweifel, was sich streckenweise recht anstrengend liest. Eine für mich besonders einprägsame Szene spielt während eines Französischkurses, in dem es, kurz gesagt, darum geht, dass die Wirklichkeit nicht Schwarz-Weiß zu sehen ist, sondern in den mannigfaltigsten Farben erscheint. Das fand ich literarisch so phantastisch gemacht, dass ich das bestimmt nie vergessen werde.

Die Autorin ist ungemein sprachmächtig und zeigt eine große Lust am Formulieren und Wortschöpfungen. Der Schreibstil hat mir gut gefallen! Die Lektüre ist anspruchsvoll, ich benötigte volle Konzentration, fand aber auch viele interessante Gedanken und Beschreibungen. So inspirierte der Roman mich einerseits und brachte mich zum Nachdenken. Anderseits berührte er mich aber auch sehr, erweckte Mitgefühl, bedrückte und ließ mich traurig werden. Gleichzeitig amüsierte ich mich jedoch auch über diesen hintergründigen, etwas schwarzen und trockenen Humor.
Etwas genervt war ich aufgrund einer Redundanz, man hätte großzügiger kürzen können, zudem auch die letzten 50 Seiten für mich eher unnötig waren.

Der Roman ist sehr komplex. Politische, feministische, psychologische und soziologische Themen, aber auch Fragen über Wahrnehmung, Sprache und Erkenntnis werden hier dargestellt.
Mir gefiel dieser etwas eigenwillige Roman sehr gut, er klingt immer noch nach und wird mich auch weiterhin bes

Bewertung vom 06.03.2020
Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst
Hornby, Nick

Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst


sehr gut

Sehr witzig, aber auch ernsthaft

Louise, Ärztin, hat ihren Ehemann Tom, einen derzeit arbeitslosen Musikjournalisten betrogen. Sie hatte eine Affäre. Verheiratet sind sie schon lange, sie haben zwei Kinder und einen Hund. Irgendwie ist ihnen aber im Laufe der Zeit die Leidenschaft abhanden gekommen.
Sie beginnen nun eine Eheberatung aufzusuchen. Es kommt zu 10 Terminen, vor denen sie sich in der gegenüberliegenden Kneipe treffen. Dort diskutieren sie bei Wein und Bier ihre Lage und welche Themen sie in der Beratung besprechen wollen.

„Verdammt, wenn man drüber nachdenkt, ist es wie beim Brexit. Wir werden noch zwei volle Jahre verhandeln, bis wir uns darüber einigen können, wo die Probleme überhaupt liegen.“ So beginnen sie und tatsächlich brauchen sie einige Zeit, um ihre wirklichen Probleme zu erkennen. Sie reden um den heißen Brei, sind zynisch, machen Witze, streiten sich, geben sich Mühe, verletzen sich, nähern sich an, entfernen sich voneinander und gelangen dann doch zu tieferen Erkenntnissen.

Dieser kurze Roman ähnelt einem Theaterstück oder einem Drehbuch, da die Handlung fast ausschließlich aus den Dialogen der beiden besteht.
Es liest sich wirklich sehr witzig, erinnert etwas an Loriot, ist sehr amüsant, kurzweilig, manchmal auch albern, aber immer fesselnd. Tatsächlich konnte ich das Buch schlecht aus der Hand legen..:) Es werden aber auch ernstere, durchaus auch bittere Töne angeschlagen. Einige Situationen und Sätze berühren sehr. Das Schlamassel der beiden wird deutlich und man kann sich gut identifizieren. Wie sie letztlich verbleiben, welche Schlussfolgerungen sie beide ziehen, hat mir gut gefallen
Kleiner Kritikpunkt: Manchmal empfand ich die Dialoge ein wenig hölzern oder gestellt und hatte Mühe mir dabei echte Menschen vorzustellen, aber das mag an mir liegen..:)

Fazit: Dieser Schlagabtausch der beiden, ihre Gespräche haben mich wunderbar unterhalten, zum Schmunzeln und zum Nachdenken gebracht. Toll!

Bewertung vom 06.03.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


sehr gut

Poetische und sanfte Heranführung an das Altern und dem Tod

Dieser kleine Roman erzählt von Mischka, die in eine Seniorenresidenz übersiedeln muss, da es zu Hause allein nicht mehr geht. Sie verliert die Orientierung, sie überfallen große Ängste und sie vergisst Wörter.
Abwechselnd erzählen nun Marie und Jérôme von ihren Begegnungen mit Mischka. Marie ist eine Ziehtochter, eine ehemalige Nachbarin, um die sich Mischka gekümmert hat. Jérôme ist ihr Logopäde, der sie zweimal in der Woche für Übungen aufsucht. Von denen ist Mischka allerdings nicht so begeistert, stattdessen unterhält sie sich lieber mit dem sympathischen Jérôme.
Mischka versucht sich mit ihrer Situation im Heim und dem Verlust ihrer Eigenständigkeit zu arrangieren. Gleichzeitig möchte sie unbedingt noch eine Sache aus ihrer Vergangenheit klären...

„Alt werden heißt verlieren lernen...[...] Das Gedächtnis verlieren, seine Fixpunkte verlieren und seine Wörter verlieren. Das Gleichgewicht, das Zeitgefühl, das Augenlicht, den Schlaf, das Gehör und den Verstand verlieren.“

Es geht hier natürlich um das Altern, um Krankheit und Tod, aber in einer Weise, in der man sich gern damit auseinandersetzt, weil es so fein geschrieben ist. Gleichzeitig geht es auch um Menschlichkeit, gegenseitige Hilfe, Liebe und Freundschaft.

Die Autorin schreibt sehr berührend, sanft und poetisch. Die Sprache hat mir wunderbar gefallen, sie klingt und der Ton ist angenehm ruhig. Es liest sich traurig und komisch zu gleich. Eine gute Mischung!
Die Geschehnisse fesselten mich so, dass ich den Roman kaum aus der Hand legen konnte. Man findet einige schöne und auch wahre Sätze, die zum Innehalten anregen. Zugleich ist er sehr emotional, er wühlt auf und gerät sicherlich auch etwas rührselig. Zum Ende hin, und das fand ich schade, wird es noch ein bisschen kitschig mit einer romantischen Entwicklung. Das fand ich ganz unnötig.

Fazit: Ein sprachlich schöner Roman, zum Lachen, Weinen und Träumen, der sanft mit dem Altern und dem Tod vertraut macht.

Bewertung vom 04.03.2020
Fehlstart
Messina, Marion

Fehlstart


sehr gut

Schonungsloser Roman-Essay über prekäre Lebenssituationen in Frankreich

Fehlstart würde ich eigentlich gar nicht als „richtigen“ Roman bezeichnen, eher als eine Art Kolumne oder Essay über aktuelle soziologische und sozialpolitische Phänomene in Frankreich, wobei sich vieles auch auf andere europäische Länder übertragen lässt. Einerseits zeichnet die Autorin ein Generationenportrait, andererseits nimmt sie einen Teil der prekär lebenden Bevölkerungsgruppen besonders in den Fokus, nämlich Studenten mit unzureichenden finanziellen Mittel, zum einen aus aus Arbeiterfamilien stammend, zum anderen mit Migrationshintergrund.

Als Anschauung für ihre Thesen und Beobachtungen, alles vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008 und unter der Präsidentschaft von Sarkozy, beleuchtet die Autorin das Leben der 18 jährigen Studentin Aurelie sowie des etwas älteren kolumbianischen Studenten Alejandro.
Die Handlung an sich ist schnell erzählt. Aurelie nimmt auf Wunsch der Eltern ein Jurastudium in ihrem Wohnort Grenoble auf. Davon ist sie allerdings schnell ernüchtert. Bald lernt sie Alejandro während eines Putzjobs kennen und mit ihm die erste große Liebe. Das Studium bricht sie ab und als auch die Liebe zerbricht, geht Aurelie nach Paris, um nochmal neu anzufangen, doch auch dort ist es alles andere als einfach.
Paris, die „seelenlose Stadt“, ist sehr teuer, Wohnungen sind nicht zu finden, weite Wege sind mit der Metro zu bewältigen, so dass letztlich nichts übrig bleibt zum Leben. Arbeiter- und Mittelschicht verschmelzen hier zu „armen Werktätigen“.

Den Schreibstil der Autorin empfand ich im ersten Teil als etwas anstrengend, da sie aufzählend und herunter rasselnd berichtet, doziert und lamentiert. Im zweiten Teil lockert das etwas auf, es kommen mehr Dialoge und Interaktionen hinzu und wahrscheinlich habe ich mich auch eingelesen..:) Sie schreibt sehr scharfzüngig, direkt, schonungslos, teilweise gar brutal oder auch zynisch. Viele ihrer Beobachtungen und Thesen treffen allerdings genau ins Schwarze. Sie zeichnen ein bitteres Bild, machen traurig und betroffen. Dennoch sollte man vor der Situation nicht die Augen verschließen!

Messina kritisiert das Schul- und Hochschulsystem sowie die neoliberale/ kapitalistische Arbeitswelt. Sie macht die sozialen Ungleichheiten sichtbar sowie die „Chancengleichheit“, die daraus bestehe, dass `Hase und Schildkröte an einer Startlinie stehen`. Die angebliche Wahlfreiheit wird hier ad absurdum gefühlt, es wird gezeigt, wie junge Menschen ohne finanzielle, intellektuelle oder generell protektive Unterstützung scheitern, vor allem wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, dazu nicht in der Lage sind.
Zudem sensibilisiert sie für die Situation von Migranten, die von der Heimat entfremdet sind und im Einwanderungsland als nicht dazu gehörig wahrgenommen werden.
Darüber hinaus zeichnet sie ein, durchaus auch widersprüchliches Portrait einer ganzen Generation. Eine Generation, die auf Instabilität und Veränderung geeicht und pornogesättigt ist, Beziehungen ohne Verantwortung und Verpflichtung führt (zumeist zu Lasten der Frau), dabei aber letztlich einsam bleibt. Die mutlos und voller Überdruss ist, zwar nie echte Schwierigkeiten hatte, aber auch nicht die geringste Perspektive hat.

Fazit: Sehr interessante soziologische Gedanken und Beobachtungen, in Form eines „Roman-Essays“, die einen Teil des aktuellen Bildes von Frankreich erhellen und zudem viele Parallelen zu Deutschland aufzeigen. Lesenswert!

Bewertung vom 03.03.2020
Code: Orestes - Das auserwählte Kind
Engstrand, Maria

Code: Orestes - Das auserwählte Kind


gut

Erdenströme und Sternenfelder

Die 13 jährige Malin wohnt in einem Vorort von Göteborg. In das Nachbarhaus zieht der gleichaltrige Orestes mit seiner Mutter Mona und der kleinen Schwester Elektra. Auf Orestes hat Malin schon ungeduldig gewartet. Ein Unbekannter hat ihr nämlich einen verschlüsselten Brief in die Hand gedrückt mit der Aufgabe, ihn dem neu ankommenden Rutenkind zu übergeben, es gehe dabei um die Zukunft, es gehe um Leben und Tod.
Schritt für Schritt entschlüsseln nun Malin und Orestes, beide übrigens Mathegenies, die Codes und stoßen, wie bei einer Schnitzeljagd auf immer mehr Briefe. Diese sind von Axel Aström verfasst. Er lebte vor ca. 150 Jahren, zu einer Zeit, wo um Göteburg eine Eisenbahnlinie, nicht ohne Widerstände, geschaffen wurde.

Die Figuren empfand ich als angenehm schräg, allerdings wurde ich im Laufe des Buchs nicht mit ihnen warm. Bei Malin, der Hauptfigur fehlten mir irgendwie die Gefühle und sie wirkte recht trübsinnig. Sie spielt Cello und richtige Freunde hat sie nicht. Malins Vater, der noch geschwächt durch einen erlittenen Herzinfarkt ist, wirkt irgendwie depressiv und abwesend, so dass seine Beziehung zu Malin schon lange erkaltet ist. Malins Mutter ist wegen ihrer Arbeit vorrangig in Japan und man liest sie daher fast nur per Mail. Auch zwischen den Eltern verspürte ich keine Zuneigung.
Orestes, der Nerd, ist über weite Strecken abweisend und kühl, doch auch wenn sich sein Verhältnis zu Malin bessert, bleibt er etwas unzugänglich. Seine Mutter Mona ist sehr esoterisch veranlagt (verbietet Orestes z.B. Schmerztabletten) führt spirituelle, heilende Sessions durch und überlässt die kleine Elektra oft Orestes.

So richtig sympathisch wurde mir also niemand und die Stimmung empfand ich oft als eher unangenehm. Dem doch recht umfangreichen Buch fehlte es zudem manchmal an Spannung, wenngleich sie hin und wieder durchaus aufflackerte.
Man erfährt etwas über (anspruchsvolle) Codes, Schreibmaschinen, Rechenschieber und Rechenmaschinen, jeweils veranschaulicht auch durch Illustrationen. Angedeutete Themen sind die Gegensätze Natur – Technik sowie Glaube - Wissenschaft. Ein weiteres angerissenes Thema ist eine möglich Gefahr, die im Umgang mit dem Internet entstehen kann.

Die Handlung ist mit abenteuerlichen, mystischen und esoterischen Elementen angereichert. Ein bisschen Grusel kommt auch noch hinzu, als ein manipulativer Psychopath auftritt, was mir allerdings so gar nicht gefallen hat und ich irgendwie sehr unpassend fand. Dementsprechend empfand ich den (vorläufigen) Abschluss auch als etwas wüst.
Da die grundlegenden Aufgaben und Rätsel um Axel Aström und die Erdenströme aber noch nicht gelöst sind, wird es zwei weitere Bände geben.

Insgesamt überzeugte mich dieser Reihenauftakt leider nicht. Ich wollte das Buch wirklich mögen, aber der Funke sprang nicht so recht über, obwohl es sehr witzig und kurzweilig begann. Für diese Altersgruppe gibt es so viele bessere Bücher, so dass ich es meinen Kindern eher nicht empfehlen werde.