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sleepwalker

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Insgesamt 459 Bewertungen
Bewertung vom 01.12.2023
Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum
Stehn, Malin

Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum


ausgezeichnet

Spannend, unerwarteter Schluss aber für mich etwas zu lang
Familien, die eigentlich nichts mehr verbindet als alte Gewohnheiten, feiern gemeinsam Silvester. Ein Silvester, das für zwei Familien nicht nur ein neues Jahr einläutet, sondern eine komplett neue Zeit. Das ist grob das Thema von Malin Stehns Roman „Happy New Year. Zwei Familien. Ein Albtraum“. Das Buch ist als Roman klassifiziert, es ist aber wesentlich mehr. Es ist für mich ein gelungenes Psychodrama, fast ein Psychothriller, der Panik, Schuldgefühle und post-pubertäre Teenager gekonnt vereint, mit der Frage, die über allem schwebt: Wie gut kenne ich meine Lieben eigentlich? Für mich ein spannendes und lesenswertes Buch, auch wenn es ein bisschen lang geraten ist.
Nina und Fredrik feiern aus alter Gewohnheit zusammen mit gemeinsamen Freunden im Haus von Lollo und Max Silvester. Ihre Töchter Smilla und Jennifer sind 17 Jahre alt und feiern eine eigenen Party im Haus von Nina und Fredrik. Bei den Erwachsenen zeigt sich schnell, dass sie außer der Tradition zur gemeinsamen Feier nichts mehr verbindet und selbst die verkommt zum Pflichttermin, auf den kaum jemand Lust hat. Es ist mehr eine Zuschaustellung des Erreichten (im Sinne von „mein Haus, mein Boot), mit zunehmendem Alkoholgenuss kommen auch rassistische Einstellungen ans Tageslicht. Aber auch die beiden Teenager haben Differenzen und als die Erwachsenen am nächsten Morgen verkatert aufwachen ist klar: Jennifer ist in der Nacht weder nach Hause gekommen, noch schläft sie, wie abgesprochen, bei Smilla. Nach und nach müssen alle Beteiligten feststellen, dass sie weder ihre Freunde noch ihre Familienmitglieder besonders gut kennen und als schlussendlich klar ist, was in der Silvesternacht passiert ist, ist nichts mehr wie vorher.
Stilistisch und sprachlich hat mich das Buch überzeugt, die Übersetzung aus dem Schwedischen ist hervorragend gelungen. Erzählt wird die Geschichte in zum Teil sehr kurzen Kapiteln aus drei Perspektiven, die jeweils in der „ich-Perspektive“ geschrieben sind. Jedes Kapitel ist mit Datum und dem Namen des Ich-Erzählers überschrieben, trotzdem kam ich manchmal durcheinander, was aber nicht tragisch war. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet, jeder hat seine eigenen psychologischen Besonderheiten. Lollo ist Innenausstatterin mit eigenem Blog, Max ist Immobilienmakler und ein arroganter, rassistischer Schnösel. Bei beiden ist Geld der Maßstab für Erfolg. Nina und Fredrik sind beide Lehrer und können finanziell keine großen Sprünge machen. Und da sind dann auch noch Malena und ihr Sohn Theo. Sie bringt jedes Jahr einen anderen Mann mit zur Party und scheint ein wenig unstet. Allerdings ist sie die einzige der Frauen in der Runde, die zu sich selbst zu stehen scheint. Lollo und Nina scheinen sich von ihrer Herkunft distanzieren und neu erfinden zu wollen, sie bestehen darauf, nicht bei ihren eigentlichen Namen Louise und Carolina genannt zu werden.
Zu den sehr gut geschilderten Charakteren kommt eine durchweg bedrückende Atmosphäre. Selbst die Silvesterparty, die eigentlich locker und fröhlich sein sollte, zeigt die Oberflächlichkeit der Beteiligten und verkommt zum metaphorischen Maskenball. Dass die Masken dann im Verlauf der Geschichte fallen, hat mich nicht überrascht. Die Art und Weise wie sie fallen, umso mehr. Das Verschwinden Jennifers ist dabei nur der Auslöser, der alles ins Rollen bringt, das Verhältnis zwischen den Protagonisten war ohnehin schon länger nur eine Farce. Die einen wollen den schönen Schein wahren, die anderen sind neidisch und wollen mithalten können. Alle haben mit sich, ihren Beziehungen und dem Leben zu kämpfen und über allem schwelen Selbstzweifel und Schuldgefühle, beziehungsweise Schuldzuweisungen.
Wow. Da hat Malin Stehn uns einen pikanten schwedischen psycho-Eintopf serviert. Ein bisschen lang und zwischendrin ein bisschen fade, aber es kommt immer wieder etwas Neues an die Oberfläche und vor allem im Abgang ist die Krimi-Suppe völlig überraschend. Von mir die volle Punktzahl.

Bewertung vom 25.11.2023
Was wir nie verzeihen
Tuominen, Arttu

Was wir nie verzeihen


ausgezeichnet

„Wer bitte attackiert einen Hundertjährigen?“ Das ist eine berechtigte Frage und das Kernthema von Arttu Tuominens neuem Kriminalroman „Was wir nie verzeihen“ (auf Finnisch: „Vaiettu“, was so viel wie „zum Schweigen gebracht“ heißt). Der lebensgefährliche Angriff auf einen 97-Jährigen im Park vor dem Pflegeheim und der Mord an einem etwa Gleichaltrigen beschäftigen die Polizei in der finnischen Kleinstadt Pori. Hängen die beiden Fälle zusammen? Kannten sich die Opfer? Wer könnte ein Interesse daran haben, die beiden pflegebedürftigen Männer zu töten? Das lange erwartete dritte Buch der „Delta-Reihe“ (ich war so ungeduldig, dass ich vorher die dänische Ausgabe gelesen habe, da diese früher erschien) war für mich ein bisschen wie die Achterbahnfahrt. Rasant spannende Stellen wechseln sich in wilder Reihenfolge mit eher dahinplätschernden Episoden ab. War es trotzdem gut? Natürlich. Aber die Vorgänger waren besser.
Aber von vorn.
Albert Kangasniemi ist 97 Jahre alt, lebt in einem Pflegeheim und hat seine fest eingefahrene Routine. Einer seiner Gewohnheiten ist es, spätabends am Rollator noch eine Runde mit seiner persönlichen Pflegerin Inkeri durch den Park zu drehen. Eines Abends wird er von zwei maskierten Gestalten überwältigt und lebensgefährlich verletzt. Der alte Mann ist Veteran, „er hat in allen Kriegen gekämpft, im Winterkrieg, im Fortsetzungskrieg und im Lapplandkrieg.“ Während er noch im Krankenhaus um sein Leben kämpft, kann Ermittler Jari Paloviita kann gerade noch eingreifen, als ein als Arzt verkleideter Mörder versucht, Kangasniemi im Krankenbett zu töten. Kurze Zeit später wird Klaus Halminen, ein weiterer Kriegsveteran in seiner Villa vor den Augen seiner Frau getötet. Bei ihm finden die Ermittler neben einer Waffe eine SS-Uniform. Kannten die beiden Männer sich und hängen der Mordversuch und der Mord zusammen?
Als großer Fan der „Delta-Reihe“ habe ich so ungeduldig auf den neuen Teil gewartet, dass ich mir die dänische Ausgabe gekauft habe, weil sie vier Wochen früher erschien. Die Ermittler Jari, Henrik und Linda sind mir sehr ans Herz gewachsen, ebenso wie der angenehme Schreibstil Arttu Tuominens. In diesem Band erzählt er die Geschichte in zwei Zeitebenen, die 1941 und 2019 spielen. So weiß die Leserschaft immer wesentlich mehr als die Ermittler, was bei mir den Spannungsaufbau störte. Alles in allem wurde das Buch für mich mehr zum Geschichtsbuch über die finnische Rolle im Zweiten Weltkrieg, denn zum Krimi. Tatsächlich wusste ich nicht, dass finnische Soldaten 1941 auf dem Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb als Freiwillige für die SS ausgebildet wurden, und wie begeistert sie davon waren. Der Schwerpunkt beim Privatleben der Ermittler ist dieses Mal nicht bei einer Person, sondern „gerechter“ verteilt. Linda muss mit dem Auftauchen ihrer Mutter umgehen, Jari muss weiter damit leben, dass sein Schwiegervater nichts von ihm hält, außerdem kämpft er mit finanziellen Problemen und gegen das Scheitern seiner Ehe. Henrik (mein persönlicher Liebling) zeigt sich wie gewohnt sportlich-intellektuell.
Sprachlich finde ich das Buch sehr gut und angenehm zu lesen, die Übersetzung ist hervorragend. Spannungstechnisch ist das Buch für mich eher schwierig. Ich wusste schon nach etwa einem Viertel des Buchs, wer hinter den Taten steckt, daher war für mich nicht die Frage „wer?“, sondern „warum“. Der Titel lässt ahnen, dass das Motiv in der Vergangenheit zu finden ist. Handwerklich ist das Buch sehr gut, die beiden Zeitebenen sind ausgezeichnet ausgearbeitet, sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit weisen eine finstere und bedrückende Atmosphäre auf, geprägt von Gewalt und schierem Hass auf Fremde. In der aktuellen politischen Situation mit einem fast weltweiten Rechtsruck wird das Buch zu noch schwererer Kost.
Eine Lese-Empfehlung von mir für Fans der Serie und alle, die mehr über die Rolle Finnlands im Zweiten Weltkrieg erfahren wollen. Von mir für diesen Krimi 4,5 Sterne, aufgerundet auf fünf.

Bewertung vom 20.11.2023
Aenne und ihre Brüder (MP3-Download)
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder (MP3-Download)


ausgezeichnet

Reinhold Beckmann war mir als Moderator und Sportreporter bekannt. Mit seinem Buch „Aenne und ihre Brüder“ (ich habe das Hörbuch gehört), schrieb er sich allerdings in mein Herz. Er liest das Hörbuch selbst zusammen mit Julia Nachtmann, und er bringt seiner Leserschaft seine Familiengeschichte, minutiös eingeordnet in die Zeitgeschichte ab 1920, näher. Die Geschichte ist eine, die viele andere Familien dieser Zeit ebenfalls erlebt haben, allerdings bekommen die unzähligen Opfer durch sein Buch Gesicht und Namen. Reinhold Beckmann konnte seine Onkel Franz, Hans, Alfons und Willi nie kennenlernen, alle vier sind gefallen. Sie fielen im Alter zwischen 31 und 17 Jahren. So viel ungelebtes Leben. So viele unerfüllte Wünsche und Träume. So viele Hinterbliebene, die ihre Lieben verloren haben.

Aber von vorn.

Verluste prägten früh das Leben von Reinhold Beckmanns Mutter Aenne. Ihre Mutter starb, als sie etwa ein Jahr alt war, der Vater vier Jahre später an der Tuberkulose, die er aus dem ersten Weltkrieg „mitgebracht“ hatte. Die Stiefmutter wurde damit ebenfalls zur Witwe und heiratete später wieder, mit diesem Mann bekam sie zwei Kinder, die sie den Stiefkindern stets vorzog. Allerdings ließ sich Aenne nicht unterkriegen, sie ging trotz aller Widrigkeiten ihren Weg. Mit ihren leiblichen Brüdern verband sie eine enge Beziehung, bis zu ihrem Tod schrieben ihr Franz, Hans und Alfons so oft es die Feldpost zuließ. Sie fielen ebenso im Zweiten Weltkrieg wie ihr Stiefbruder Willi. Mit 98 Jahren ließ Aenne Beckmann, geborene Haber, sich von ihrem Sohn für das Buch interviewen, Grundlage ihrer Gespräche ist ein Schuhkarton voll Feldpostbriefe ihrer drei leiblichen Brüder. Rund um diese Briefe hat Beckmann die Geschichte seiner Mutter und ihrer Familie erzählt. Das Buch ist aber sehr viel mehr als eine Familienchronik, denn der Kontext zur Weltgeschichte ist stets präsent. Der aufkeimende Nationalsozialismus, der an dem tief katholischen Dorf Wellingholzhausen erst vorbeizuziehen schien, dann aber mit Gleichschaltung auch dort Einzug hielt. Eine große und wenig ruhmreiche Rolle spielte dabei auch die Kirche, von deren Seite es sehr wenig Widerstand gegen die Nationalsozialisten gab, obwohl schon früh gegen so gut wie alle christlichen Gebote verstoßen wurde. Widerstand gab es im Dorf ohnehin eher weniger, mehr eine gewisse Gleichgültigkeit, die erst in Wut umschlug, als viele Söhne/Brüder/Ehemänner fielen und der Tod „reich Ernte hielt“.

Stilistisch ist das Buch sehr angenehm zu lesen und mit Reinhold Beckmanns Stimme ein Ohrenschmaus. Seine Sprache ist nüchtern und sachlich, die Sätze sind einfach und eher journalistisch als literarisch, ich fand sie dem Buch und der Thematik angemessen. Dabei schreibt er aber immer liebevoll und voller Wärme über seine Mutter und ihre Brüder. Die Grausamkeiten von Kriegen beschreibt er mehr zwischen den Zeilen als direkt, was dem Buch für mich noch mehr Tiefe gab. Der Alltag in einer dörflichen Gemeinde kommt ebenso zum Tragen wie das Leben seiner Mutter als Frau in einer Zeit, als eine Ausbildung „nicht vorgesehen war“, sondern man „in Stellung“ ging. Daneben bekommt man einen kleinen Einblick in das Leben an der Front, zensurgerecht geschrieben von Soldaten, die eigentlich Handwerker waren und den Krieg als „Unsinn“ ansahen und über ihre Träume und Wünsche für „danach“ schreiben – die Leserschaft weiß ja, dass sie nie in Erfüllung gehen werden. Und über allem thronen Zitate aus Reden der Politiker, über totalen Krieg und Endsieg – heute wissen wir, was das alles zu bedeuten hatte.

Mit „Aenne und ihre Brüder“ schafft Reinhold Beckmann ein liebevolles und mahnendes Denkmal für seine Mutter und ihre Brüder, exemplarisch für alle, die den Krieg überlebt haben und die, die gefallen sind. Sie haben Namen und Gesichter und das macht das Buch zur schweren Kost, auch angesichts der vielen aktuellen Krisenherde. Das „nie wieder“ ist heute wichtiger denn je – von mir volle Punktzahl und eine absolute Lese-Empfehlung.

Bewertung vom 07.11.2023
Eine wie sie fehlt in dieser Zeit
Hörnlein, Katrin

Eine wie sie fehlt in dieser Zeit


ausgezeichnet

„Noch ein Buch über Astrid Lindgren? Gibt es nicht längst genug?“ – diese Frage stellt sich die ZEIT-Redakteurin Katrin Hörnlein zu Beginn ihres Buchs „Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“. Da ich „Denne dag, et liv” von Jens Andersen und „Jeg lægger dine breve under madrassen” von Astrid Lindgren und Sara Schwardt gelesen habe, war ich überrascht, dass mich ein weiteres Buch über die Schriftstellerin so begeistern konnte. Katrin Hörnlein hat eine Reise in die Vergangenheit von Astrid Lindgren unternommen, auf die sie ihre Leserschaft mitnimmt. Sie trifft Nachkommen und Weggefährt:innen Lindgrens und wandelt auf ihren Spuren von der Vergangenheit bis in die heutige Zeit.
Katrin Hörnlein schreibt voller Hochachtung und Bewunderung über die Schriftstellerin, die sie nie persönlich kennenlernen konnte. Inzwischen ist Astrid Lindgren mehr als 20 Jahre tot und lebt in ihren Büchern und den Herzen ihrer Fans weltweit weiter, schließlich wurden ihre Bücher in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Die „Astrid Lindgren Company“ ist heute noch in Familienbesitz, die Firma gehört ihren sieben Enkeln und ihrer Tochter Karin, außerdem arbeitet auch ihr Urenkel Johan Palmberg inzwischen dort. Die Company kümmert sich um bestehende Verträge, unterstützt aber auch Musicals und Theaterproduktionen. Im Onlineshop kann man beispielsweise die Bücher und geringelte Pippi-Langstrumpf-Leggins oder Michel-aus-Lönneberga (der auf Schwedisch Emil heißt)-Shorts kaufen.
Ein paar Weggefährt:innen Astrid Lindgrens konnte Katrin Hörnlein treffen. Durch ihre Erzählungen kommt auch ihre Leserschaft der Autorin näher und man erkennt, dass ihr Leben nicht nur aus Pfannkuchen und Fleischklößchen bestand. Die blitzgescheite und für ihre Zeit äußerst emanzipierte Frau, wusste, was sie wollte, und musste darum kämpfen. So brachte sie mit 18 Jahren ihren unehelichen Sohn Lars in Kopenhagen zur Welt, weil dort anonyme Geburten möglich waren. Dort lässt sie ihn bei Pflegeeltern, später holt sie ihn erst zu sich nach Stockholm, dann bringt sie den Dreijährigen bei ihren Eltern in Småland unter. Die Beziehung zum Vater des Jungen, der ihr Chef war, zerbricht. Aus ihrer 1931 geschlossenen Ehe mit Sture stammt Tochter Karin, sie ist heute 89 Jahre alt. Astrid Lindgren war mit Leib und Seele Mutter, aber nicht Ehefrau. „Im üblichen Sinn bin ich nie verliebt gewesen. Nein, es ist so: Ich habe Kinder immer mehr geliebt als Männer.“, sagte sie ihrer Biografin Margareta Strömstedt auch mit Hinblick auf den Alkoholismus ihres Mannes. „Was Kinder brauchen, ist jemand, der sie richtig gernhat“, sagt Lindgren 1989 in einem Interview mit der schwedischen Zeitung Expressen.
„Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“ ist ein lesenswertes und kurzweiliges Buch, das neue Facetten Astrid Lindgrens zeigt. Es bringt aber auch Menschen ins Rampenlicht, die es bislang (zumindest für mich) nicht dahin geschafft hatten. So trifft sie unter anderem die Nachfahren von Ilon Wikland und Björn Berg, zweier der Illustratoren von Lindgrens Büchern und mit Inger Nilsson, der Darstellerin von Pippi Langstrumpf. Neu für mich war auch das politische Engagement Astrid Lindgrens. Sie setzte sich gegen Atomkraft und für den Umwelt- und Tierschutz ein. Anfang der 1990er kämpfte sie gegen Massentierhaltung und für mehr Tierwohl. Das „Lex Lindgren“ genannte Gesetz wurde zu ihrem 80. Geburtstag verabschiedet, sein Umfang enttäuschte sie allerdings. „Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen, weil dieses sinnlose Gesetz nach mir benannt wird?“ – so hatte sie es kommentiert.
Ja, Astrid Lindgren ist eine Persönlichkeit, die aktuell mehr fehlt, denn je. Das Buch über sie war für mich sprachlich und inhaltlich ein Highlight, das mir die Schriftstellerin noch näher gebracht hat. Als jemand, der das Kind in sich bewahrt hat, ohne kindisch oder naiv zu sein. Und als jemand, der versucht hat, seinen Einfluss immer für das Gute zu nutzen. Daher von mir eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 02.11.2023
Pageboy
Page, Elliot

Pageboy


gut

„Ich habe nichts Neues oder Tiefgründiges zu sagen, nichts, was nicht schon vorher gesagt worden wäre, aber ich weiß, dass Bücher mir geholfen, mich sogar gerettet haben, und vielleicht kann auch dieses Buch anderen dabei helfen, sich gesehen und weniger allein zu fühlen, egal, wer sie sind und auf welcher Reise sie sich befinden.“ Für mich ist dieser Satz einer der besten in Elliot Pages Buch „Pageboy“. Ich hatte mich auf das Buch aus mehreren Gründen sehr gefreut, denn ich lese gerne (Auto)Biografien und ich lese gerne über die Reise von Menschen zu sich selbst, zumal ich selbst trans bin. Stellenweise fand ich das Buch auch tatsächlich gut und lesenswert, stellenweise erschütternd und erschreckend. Alles in allem fehlt mir aber der rote Faden völlig und das Werk wirkt etwas konfus und sprachlich viel zu wenig ausgefeilt. So ist es für weniger eine Autobiografie als eine chaotische Ansammlung von Gedanken und Anekdoten, schlicht: Elliot Pages ureigener Bericht über die Reise zu sich selbst.
Aber von vorn.
Schon früh im Leben war für Elliot Page klar, dass er sich stark dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlte, obwohl ihm bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen worden war. Mit sechs Jahren fragte er seine Mutter: „Kann ich ein Junge sein?“ Natürlich konnte er das nach Überzeugung der Mutter nicht. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis er sich selbst gefunden hatte und der werden konnte, der er schon immer war. Er schreibt schonungslos über das Mobbing in seiner Kindheit in der kanadischen Stadt Halifax, das auch in der Familie stattgefunden hat (seine Stiefmutter bezeichnete ihn als „Plage“ und „Heulsuse“ und genoss es, ihm Schmerz zuzufügen). Er schreibt über traumatische Erlebnisse, seine Ess-Störung, erste Erfahrungen in der Schauspielerei und in der Liebe. Inzwischen hat er sich selbst gefunden und scheint mit sich selbst weitestgehend im Reinen zu sein.
Sprachlich fand ich das Buch gewöhnungsbedürftig, der Verfasser ist Schauspieler und ganz eindeutig kein Schriftsteller. Vor allem die Beschreibungen einiger Intim-Szenen fand ich zu vulgär. Das Buch ist kein literarisches Werk, aber es hätte doch auch für einen ungeübten Autor sicher einen Mittelweg zwischen Literatur und Obszönität gegeben. Leider fehlt dem Buch auch jeglicher roter Faden, die Gedanken sprudeln nur so aus Elliot Page heraus und so bringt er sie zu Papier, ungeordnet und oft ohne einen zeitlichen oder inhaltlichen Zusammenhang. Über seine inzwischen geschiedene Ehe schreibt er so gut wie nichts (möglicherweise um die Privatsphäre seiner ex Frau zu schützen), ob er seine Ess-Störung überwunden hat, ist auch nicht klar und insgesamt schreibt er sehr viel über Jungsklamotten, kurze Haare und Badehosen – aus eigener Erfahrung kann ich sagen: trans zu sein ist noch viel mehr als nur ein „Tomboy“ zu sein.
Elliot Pages Buch zeichnet das Bild eines sehr sensiblen Kindes, das lange braucht, sich selbst zu finden und noch länger braucht, zu sich selbst stehen zu können. Es zeigt, wie homophob die Gesellschaft nach wie vor ist, selbst unter Schauspielern und Filmschaffenden. Er zeigt, wie gefährlich es auch heute noch sein kann, sich als queer zu outen und wie aufreibend es ist, sein wahren Selbst verstecken zu müssen. Obwohl ich das Buch an sich wichtig finde, war es für mich ein zu großes Durcheinander und zu wenig ausgereift. Hätte ich dieselbe Geschichte mit meinem Namen an einen Verlag geschickt, wäre sie mit Sicherheit nicht veröffentlicht worden. Vielleicht schafft Elliot Page es ja irgendwann, eine richtige Biografie zu schreiben und damit dann das zu erreichen, was er damit eigentlich bezweckt hat: dass trans Menschen gesehen und akzeptiert werden. Ich würde das Buch auf jeden Fall lesen. „Pageboy“ schafft es bei mir allerdings leider nur auf 2,5 Sterne, aufgerundet auf drei.

Bewertung vom 29.10.2023
Das Klugscheißerchen
Kling, Marc-Uwe

Das Klugscheißerchen


sehr gut

Tina und Theo Theufel (erstere mit einem „th“, zweiterer mit zwei) sind überzeugte Klugscheißer. Und da sind sie in ihrer Familie in sehr guter Gesellschaft, ihre Eltern sind nämlich ebenfalls Klugscheißer. Und bei so viel Klugscheißerei war es klug von Marc-Uwe Kling, eine Kurzgeschichte über Klugscheißerei zu schreiben und sie auch selbst als sehr kurzes Hörbuch einzulesen. Noch nicht klug genug?
Tina und Theo finden auf dem Dachboden (auf dem sie eigentlich nicht spielen dürfen) in einer Kiste eine kleines Männchen, das sich als Klugscheißerchen vorstellt. Nur echte Klugscheißer können ihn sehen und da stellt sich die Frage: können die Eltern der beiden Kinder ihn sehen oder nicht?
Ich habe das 29 Minuten lange (oder kurze) Hörbuch gehört und da ich Marc-Uwe Kling als Sprecher gerne mag, hat es mir gut gefallen. Dass ich immer wieder ein aufmüpfiges Känguru vor Augen hatte, ist dabei ganz allein mein Problem. Insgesamt erinnerte mich die Geschichte allerdings sehr an Cornelia Funkes „Bücherfresser“, den ich allen, denen „Das Klugscheißerchen“ gefallen hat, ebenfalls ans Herz legen möchte.
Wer genau die Zielgruppe für „Das Klugscheißerchen“ ist, kann ich nicht sagen. Für Kinder ab sechs Jahren finde ich das (Hör)Buch auf jeden Fall schwierig und vermutlich werden sie wenig Spaß daran haben. Viele der Klugscheißereien beziehen sich auf Grammatik oder Allgemeinbildung, die die Kinder oft noch nicht haben. Für Erwachsene ist das (Hör)Buch zu kurz und inhaltlich ein bisschen schwach auf der Brust. Mir fehlte eine wirkliche Handlung. In der Hauptsache besteht das (Hör)Buch aus allen möglichen Zurechtweisungen und Klugscheißereien, trotzdem fand ich es unterhaltsam und einige Lacher trösteten mich über die Schwächen hinweg, allerdings bin ich auch ein eher fortgeschrittenes Kind.
Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich bin auf dem Dachboden. Da ich mindestens ein ebenso großer Klugscheißer wie die komplette Familie Theufel bin, müsste ich in einem unserer übriggebliebenen Umzugskartons auch ein Klugscheißerchen finden. Oder sogar zwei.
Von mir für dieses Hörbuch vier Sterne.

Bewertung vom 27.10.2023
Grausames Spiel / Team Helsinki Bd.2 (eBook, ePUB)
Ollikainen, A. M.

Grausames Spiel / Team Helsinki Bd.2 (eBook, ePUB)


gut

Vermeintliche Selbstmorde von völlig unterschiedlichen Menschen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben – das ist das Hauptthema von A. M. (Aki und Milla) Ollikainens neuem Thriller, der der zweite Teil ihrer „Team Helsinki“-Reihe ist. „Grausames Spiel“ ist der Titel des Buchs und es lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Einerseits ist es an manchen Stellen enorm spannend, an anderen zieht es sich etwas und plätschert vor sich hin. Aber der Schluss, so stimmig er auch sein mag, passte für mich leider überhaupt nicht. Lesenswert und unterhaltsam finde ich das Buch trotzdem.
Aber von vorn.
Als die 80jährige Kaarina Alanne in einem kleinen Wald in der Nähe von Helsinki an einer Birke erhängt aufgefunden wird, ist für die Polizei sofort klar, dass es ein Suizid war. Vor allem, als sich schnell herausstellt, dass sie unheilbar krank war und nur noch kurz zu leben gehabt hätte, sind alle schnell bereit, die Ermittlungen einzustellen. Aber Kriminalkommissarin Paula Pihlaja hat Zweifel. Wieso sollte die kleine Frau denn auf einen Baum klettern und sich eine Schlinge um den Hals hängen? Dann finden einige Wochen später Kinder auf einem Spielplatz einen erhängten Mann. Da er einen ähnlichen Strick um den Hals hat, könnten die beiden Fälle zusammenhängen. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf, die Fälle sind verzwickt und verworren. Als dann aber noch ein dritter Toter gefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse. Der Mörder lässt sich zwischen den Taten immer weniger Zeit und eben diese läuft den Ermittlern langsam davon.
Nachdem ich den ersten Teil der „Team Helsinki“-Reihe („Die Tote im Container“) gelesen habe, habe ich die Ermittlerin Paula Pihjala und ihren Kollegen Aki Renko ins Herz geschlossen. Vor allem die vielen Andeutungen auf Paulas Vergangenheit waren lose Enden des Buchs und beim neuen Teil der Serie hoffte ich auf Aufklärung. Und wurde nicht enttäuscht. Neben den Morden und der Ermittlungsarbeit erfährt man mehr über Paula und ihren Sohn „Pauli“ (der eigentlich Mikko heißt), den sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Diese zahlreichen Exkurse ins Privatleben sind informativ, bringen aber natürlich die Ermittlungsarbeit und dadurch die Krimi-Handlung keinen Millimeter vorwärts. Und leider stören sie auch ein bisschen die Spannung. Dadurch entsteht ein stark unterbrochener Spannungsbogen, der allerdings stellenweise sehr hoch ist.
Die Charaktere, die man aus dem ersten Buch schon kennt, wurden in diesem Band weiterentwickelt und ausgebaut. Reibereien unter den Kollegen und private Probleme lockern die Geschichte auf, stören aber (wie vorhin schon erwähnt) die Spannung. Da sie allerdings charmant beschrieben und mitten aus dem Leben gegriffen sind, sind sie nett zu lesen und unterhaltsam, wozu auch die angenehme Sprache beiträgt, in der das Buch geschrieben ist. Der Stil ist klar, bildhaft und verständlich, die Übersetzung ist hervorragend gelungen. Die vielen Unbekannten in der Gleichung der Ermittlungen sind ein enormer Spannungs-Faktor, das Mitraten fesselte mich mehr als die Taten selbst, da das Buch auch einige Längen hat. Die Lösung des Falls konnte mich hingegen nicht wirklich begeistern. Nach allem Rätselraten um Identität und Motive des Täters fand ich die Auflösung leider viel zu konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Da ist noch sehr viel Luft nach oben und für dieses Buch reicht es nur für drei Sterne.

Bewertung vom 27.10.2023
Verschickungskinder
Gilhaus, Lena

Verschickungskinder


ausgezeichnet

Als ich das Wort „Verschickungskinder“ zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich spontan an die Kinder, die ihm Rahmen der Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg „verschickt“ wurden. Aber das Buch „Verschickungskinder“ von Lena Gilhaus handelt nicht von ihnen. Die Journalistin schreibt vielmehr über die mehr als 15 Millionen Mal, bei denen Kinder ab dem Kindergartenalter (manche waren erst zwei Jahre alt!) wegen unterschiedlicher (zum Teil völlig irrwitziger) Indikationen in Kur geschickt wurden. Ein erschreckendes Buch das sehr schwer zu verdauen ist.
Aber von vorn.
Matthias Vollmer, genannt Matthes, reiste im Frühjahr 1967 zusammen mit seiner jüngeren Schwester Barbara zur „Kinderkur“ nach Sylt. Ziel war es, dass die Kinder zunähmen „und sich bei Spiel, Spaß und gutem Essen an der Nordsee vom verrußten Ruhrpott erholen könnten“. Rund 50 Jahre später schafft er es 2017, mit seiner Tochter Lena über die Erlebnisse zu sprechen, später machen sie die Reise noch einmal zusammen. Die Journalistin recherchiert in der Folge über die Kinderkuren und muss erkennen: die Erfahrungen ihres Vaters sind keine Einzelfälle. In Onlineforen melden sich unzählige andere ehemalige „Verschickungskinder“ und berichten von Essenszwang, Vernachlässigung, Isolation und immer wieder von Gewalt sowohl physisch, psychisch und s**uell. Die schwarze Pädagogik von Johanna Harrer wirkte auch lange nach der Nazizeit noch nach, egal, ob die Heime privat, staatlich oder von kirchlichen Trägern betrieben wurden. Oft können sich die Kinder gar nicht an die Grausamkeiten erinnern, die sie erlebt haben und leiden als Erwachsene plötzlich unter Flashbacks. Dabei waren die Kuren eigentlich gut gemeint, auch die Eltern dachten, sie täten den Kindern etwas Gutes. Indikationen dafür waren zum Beispiel Über- und Untergewicht, Haut- und Atemwegserkrankungen, oft aber auch schlechte Schulnoten oder eine „unstete Familiensituation“. Dann konnten die Kinder der BRD und der DDR an die Nord- und Ostsee, in den Schwarzwald sogar an die Adria verschickt werden, wo sie mit (zumindest aus heutiger Sicht) zweifelhaften Maßnahmen traktiert wurden. Und nicht alle Kuren waren schlecht. Nach der Lektüre von „Verschickungskinder“ und eigener Recherche muss ich aber sagen: die meisten scheinen es aber gewesen zu sein. Die Aufarbeitung läuft bis heute schleppend bis gar nicht. Selbst wenn Kinder auf der Fahrt zur Kur oder während dieser zu Tode kamen, versuchten sich die Verantwortlichen aus der Verantwortung zu stehlen.
Das Buch ist schwere Kost. Wegen der Ereignisse an sich, die so viele Betroffene bis heute leiden lassen, aber auch wegen der Haltung der „Täterseite“. „Insgesamt ist ein Mauern und Schweigen der Verantwortlichen festzustellen“, schreibt Lena Gilhaus. Schuld und Verantwortung wird von Land zu Bund und wieder zurückgeschoben, Krankenkassen, Landschaftsverbände und kirchliche Einrichtungen sehen sich nicht in der Pflicht bei der Aufarbeitung mitzuwirken. Forschende und Betroffene stoßen auf Ablehnung und Untätigkeit. Eine Schande. So viel Gewalt gegenüber Kindern, so viel (Macht)Missbrauch und Demütigung unter dem Deckmäntelchen der „guten Sache“. Frei nach dem Abraham Lincoln-Zitat „Wenn du den wahren Charakter eines Menschen erkennen willst, dann gib ihm Macht“ erkannten viel zu viele Kinder das, was sich hinter den Fassade von Nonnen, Pädagogen und medizinischen Personal verbarg.
Sprachlich fand ich das Buch stellenweise etwas holprig zu lesen und alles in allem als eine Zusammenstellung von journalistischen Recherche-Ergebnissen zu sehen, lose zusammengehalten durch die Geschichte von Lena Gilhaus‘ Vater. Da die Verfasserin Journalistin ist, hat mich das allerdings nicht überrascht. Ihre Ausführungen sind meist eher neutral und sachlich, nur manchmal blitzt etwas Emotion durch. Damit wird sie dem Thema aber durchaus gerecht und das Buch löste das bei mir aus, was es sollte: Entsetzen und tiefe Betroffenheit.
Eine absolute Lese-Empfehlung und von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 08.10.2023
Die dunkle Spur
Blackhurst, Jenny

Die dunkle Spur


ausgezeichnet

Jenny Blackhurst ist für mich inzwischen zu einer Garantin für spannende Thriller mit unerwarteten Wendungen geworden. Da macht „Die dunkle Spur“ keine Ausnahme. Ich bin praktisch durch die Seiten geflogen und es fiel mir schwer, das Buch ab und zu zur Seite zu legen. Ein absoluter Pageturner für mich.
Aber von vorn.
„Es ist, als wollte er einfach nicht glauben, dass hier auf der Insel irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Weil wir ja im Paradies leben. Weil es hier vollkommen sicher ist. Weil wir der einzige Ort in den USA sind, wo die Leute immer noch ihre Türen offen lassen.“ Und ausgerechnet dort, auf Martha’s Vineyard, verschwindet die 22jährige Engländerin Holly. Sie und ihre Schwester Claire haben sich seit dem Tod ihrer Mutter ein bisschen auseinandergelebt, sind aber immer in Kontakt. Als Holly England verlässt, um als Backpackerin etwas von der Welt zu sehen, bekommt ihr Verhältnis Risse. Ein Telefonat zwischen den beiden endet im Streit, die beiden sind nicht nur räumlich dreitausend Meilen auseinander, sondern auch menschlich. Nach dem Telefonat herrscht Funkstille, Claire kann ihre Schwester nicht mehr erreichen und macht sich erst große Sorgen und sich dann auf den Weg auf die Insel nahe Massachusetts. Dort trifft sie auf mehr und weniger hilfreiche Menschen, vor allem die Polizei scheint kein Interesse daran zu haben, Holly zu suchen, die nach einer Party bei der Familie Slayton verschwunden ist. Haben die beiden Söhne der schwerreichen Familie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Immerhin sind die Slaytons mit den Kennedys verwandt. Und hängt es irgendwie mit dem Tod der 15jährigen Natalie von vor fünf Jahren zusammen?
Was kann man zu dem Thriller sagen? Spannung. Massig! Gut ausgearbeitete Charaktere mit allen möglichen Schattierungen? Absolut. Wilde Wendungen in der Geschichte mit einem völlig überraschenden Schluss? Ja, wie man es von Jenny Blackhurst gewohnt ist. Ein unfassbar spannender Pageturner mit klaustrophobischem Insel-Setting und komplizierten zwischenmenschlichen Verhältnissen, Liebe, Hass, Schuld und mittendrin eine schwer reiche Familie, deren Sprösslinge zu glauben scheinen, sie stünden über dem Gesetz. Erzählt ist die Geschichte aus zwei Perspektiven, Claires Suche nach Holly im Hier und Jetzt und die Geschehnisse rund um Hollys Verschwinden am 4. Juli, was allem einen gewissen Pfiff gibt und die Handlung noch spannender macht.
Mir hat das Buch auf jeden Fall wieder einmal sehr gut gefallen und es macht Lust auf mehr. Daher vergebe ich fünf Sterne.

Bewertung vom 25.09.2023
Nach der Zeit
Johannsen, Anna

Nach der Zeit


sehr gut

Als großer Fan von Enna Andersen durfte ich mir die neue Serie von Anna Johannsen natürlich nicht entgehen lassen. „Nach der Zeit“ heißt das neue Buch der Autorin, im Mittelpunkt stehen Kommissarin Hanna Will und der Psychologe Jan de Bruyn – und natürlich ihr Fall. Wobei der an manchen Stellen für mich fast zu sehr zur Nebensache verkommt, bei so viel Privatem, das auch die beiden Ermittler einprasselt. Trotzdem ist es, wie ich es von der Autorin gewohnt bin, ein weitestgehend unblutiger, psychologisch hochspannender und unterhaltsamer Krimi.
Aber von vorn.
Zwei völlig unterschiedliche Männer um die 40 werden in der Lüneburger Heide tot aufgefunden. Erste Ermittlungen ergeben, dass es sich bei beiden nicht um den zuerst vermuteten Suizid handelt, sondern dass sie ermordet wurden. Weitere Nachforschungen zeigen, dass sich die beiden gekannt hatten, sie waren in ihrer Jugend befreundet gewesen. Und ihr Freundeskreis war noch größer, wie Hauptkommissarin Hanna Will und der Kriminalpsychologe Jan de Bruyn schnell feststellen. Sollten die beiden Morde zusammenhängen, sind dann noch mehr Menschen in Gefahr? Und wenn, was ist das Motiv dafür? Als Hanna und Jan der Lösung des Rätsels näherkommen, ist es auch schon fast zu spät.
Wer Anna Johannsen kennt, weiß, was ihn bei ihren Büchern erwartet. Üblicherweise präsentiert die Autorin gut durchdachte, erfreulich gewaltarme (die Gewalt passiert zwar, wird aber selten in brutalen Szenen geschildert) und äußerst angenehm zu lesende Krimis. Da macht auch „Nach der Zeit“ keine Ausnahme. Die Spannung des Buchs liegt nicht in offener Brutalität, sondern mehr im Unterschwelligen. Allein die Zusammenhänge herauszufinden, war für mich als Leser eine Herausforderung, da man immer nur so viel weiß, wie die Ermittler im Buch und sich seine eigenen Gedanken machen kann. Sprachlich ist das Buch ansprechend geschrieben und bis auf ein paar falsch gewählte Wörter habe ich auch keine Fehler gefunden.
Die Charaktere sind im zweiten Teil der Serie noch im Werden begriffen. Die Ermittler Hanna und Jan sind zwar schon ein bisschen plastischer als in Band 1, ihnen fehlt aber noch, wie man so schön sagt, „das Fleisch auf den Rippen“. Allerdings kam für mich in diesem Buch das Private zwischen den beiden Hauptcharakteren ein bisschen zu sehr zum Tragen, stellenweise verkamen die Ermittlungen neben allen persönlichen Problemen ein bisschen zur Nebensache. Daher ist der Spannungsbogen für mich auch nicht konstant vorhanden, geschweige denn, dass er konstant hoch wäre. Mit Hanna wurde ich auch bis zum Schluss nicht wirklich warm. Sie ist mir zu forsch und zu kantig, die ruhigere Art von Jan lag mir wesentlich mehr. Aber die beiden so gegensätzlichen Charaktere geben dem Krimi einen gewissen Pfiff.
Aber alles in allem war es ein solider Krimi mit zwei interessanten Hauptcharakteren, die handfeste Ermittlungsarbeit erledigen und ihren Fall zu einem stimmigen Schluss führen. Auch wenn sie bei mir zu Kopfschütteln führten, sind die Reibereien der beiden Ermittler mit den Kollegen gut und realistisch beschrieben. Was für ein Kompetenz-Gerangel! Unterhaltsam, stellenweise spannend und psychologisch interessant – so stelle ich mir gute Krimi-Unterhaltung vor. Punktabzug von mir für die vielen Exkurse ins Privatleben der Ermittler. Die sind zwar unterhaltsam, beeinträchtigen aber die Spannung für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr. Eine unbedingte Leseempfehlung für alle Freunde unblutiger und ruhiger Krimis, die neben dem Fall noch eine ansprechende Landschaft mit vielen Heidschnucken zu schätzen wissen. Von mir gibt es vier Sterne und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil.