Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
violetta1961
Wohnort: 
Frankfurt am Main

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 29.11.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

Karriere und Liebe in der französischen Provinz
Der gelungene Roman von Nicolas Mathieu spielt 2017 im Department Grand Est. Die Hauptcharaktere sind Hélène und Christophe, beide in ihren 40ern. Hélène ist dort aufgewachsen und kann ihrer provinziellen Herkunft durch Bildung entfliehen. Nach einem aufregenden Leben in Paris und einem Burnout kehrt sie mit Mann und Kindern nach Nancy zurück. Sie empfindet sich als Pariserin, integriert sich aber im Verlauf des Romans immer mehr in die Heimat ihrer Kindheit und Jugend. Sie beginnt eine intensive Affäre mit Christophe, der seine Heimat nie verlassen hat. Als ehemaliger Eishockeyspieler und Schwarm aller Mädchen vertritt er heute eine Firma, die Tierfutter verkauft, während Hélène einen höheren Posten in einer Consulting-Firma innehat. Im Vordergrund stehen einerseits das gnadenlose, erschöpfende Wirtschaftsleben der jeweiligen Firmen, andererseits die heftige Affäre der beiden, von der ungewiss ist, ob sie eine Zukunft hat. In vielen Rückblenden werden Erinnerungen der Kindheit und Jugend erlebbar geschildert. Wer in der Provinz aufgewachsen ist, kann dies sehr gut nachempfinden. Mathieu beschreibt die Charaktere wunderbar und auch das Leben in der östlichen Provinz Frankreichs wird mit der typischen Melancholie, wie sie auch französische Filme des Genres aufweisen, geschildert. Ein wunderbares Lesevergnügen.

Bewertung vom 13.11.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


sehr gut

Zeitungerechtigkeit in unserer Gesellschaft und Lösungsansätze
Selten habe ich so viel Neues durch ein Buch gelernt. Teresa Bücker schreibt sehr gut recherchiert über Zeitungerechtigkeit in unserer Gesellschaft.
Dabei geht es sehr viel um Arbeitszeit und vor allem auch um die Care-Zeit, die wir für Menschen, die sie brauchen, geben. In sechs Kapiteln wird der Leser auf den allerneuesten Stand der Diskussion gebracht, welchen Faktoren unsere heutige Zeitkultur unterliegt. Dabei gibt es neben erwartbaren Themen wie dem Gender-Gap auch neue Themen wie die Zeitstruktur von Kindern und Jugendlichen oder die Care-Zeit bei queeren Menschen. Besonders motivierend fand ich die Gedanken zu politischen Mitwirkungsmöglichkeiten, die die Autorin erfrischend weit fasst und damit ermutigt, selbst aktiv zu werden. Das Buch ist sehr anspruchsvoll geschrieben, so dass ich zwischendurch Pausen zum Verarbeiten einlegen musste. Ein kleiner Kritikpunkt sind die gegen Ende des Buchs häufig auftretenden Wiederholungen der Argumente. Insgesamt ein Buch, das die Möglichkeiten einer veränderten Gesellschaft positiv aufführt, Mut macht und unbedingt lesenwert ist.

Bewertung vom 21.09.2022
Ein Kind namens Hoffnung
Sand, Marie

Ein Kind namens Hoffnung


gut

Geschichte einer Suche in der (Nach)kriegszeit- Ausgangspunkt dieser Geschichte, wie sie wohl in Wirklichkeit auch stattgefunden haben mag, ist das Jahr 1938: Elly Berger, Tochter einer Pfarrersfamilie, arbeitet als Köchin bei der jüdischen Familie Sternberg.
Bei der Verhaftung der Eltern des kleinen Leon gibt sie sich geistesgegenwärtig als seine Mutter aus. Fortan steht ihr Leben unter dem Versprechen, dass sie eines Tages den Sohn seinen Eltern zurückgeben wird. In den folgenden Kriegs- und Nachkriegsjahren schafft Elly es immer wieder, sich und Leon durchzubringen; auf einem Bauernhof in der Eifel, in Berlin. Die Zeitumstände sind authentisch beschrieben und auch der Stil ist unterhaltsam und schnell zu lesen, mit vielen Dialogen. Leider hat es mir der teilweise melodramatische Unterton im hinteren Teil des Buches schwer gemacht, eine Beziehung besonders zur Figur Elly herzustellen. Sowohl eine grotesk anmutende Szene auf einem Friedhof, als auch die im letzten Teil des Buches pausenlos auftretende Formulierung "ihr Sohn" haben das bei mir ausgelöst. Ebenso finde ich, das der Figur der Mathilda noch viele Eigenschaften fehlen. So fragt man sich, ob Elly nicht einmal ihre eigene Tochter lieben kann.... Insgesamt aber ein lesenswertes Buch.

Bewertung vom 07.09.2022
Anleitung ein anderer zu werden
Louis, Édouard

Anleitung ein anderer zu werden


gut

Das Cover zeigt Kopf und Nacken eines jungen Mannes. Zusammen mit dem Titel ergibt sich die Assoziation, dass dieser Mann sich von etwas abwendet. Der Autor, der über seine eigene Lebensgeschichte schreibt, wendet sich von seiner Kindheit im Arbeitermilieu ab, um sich neu zu erfinden.
Rasant erzählt, kann er seine Leser in den Bann ziehen. In wenigen Seiten des Prologs nimmt Édouard Louis die Stationen seiner Flucht aus dem Herkunftsmilieu bis zum heutigen Tage vorweg. Leider nimmt er mir damit einiges an Spannung, da ich das Wichtigste somit schon weiß. Er zeigt sich von einer seltenen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, indem er sich z.B. fragt, ob er Menschen, die ihm auf seinem Weg halfen, nur als Station ansah und hinter sich ließ. In dem prämierten Vorgängerbuch "Das Ende von Eddy" beschreibt er das alltägliche Leben in seiner Familie. Im vorliegenden Buch geht es hauptsächlich um seine Selbstwahrnehmung. So spricht er z.B. gedanklich mit sich, so, als ob er mit seinem Spiegelbild spräche. Ich hätte gern mehr echte Dialoge vorgefunden. Zwar lässt die Sprunghaftigkeit seiner Gedanken auch den enormen Willen erkennen, sich schnell zu verändern und zu entwickeln, doch hätte ich mir vom Inhalt mehr fundiertes Wissen über seine Situation erhofft. Er hat in kurzer Zeit sehr viele Bücher gelesen. Dennoch werden Interpretationen von anderen Autoren nur sehr vage angedeutet. Da hätte ich mir einfach genauere Zitate gewünscht.
Insgesamt ein lesenwertes Buch für Menschen, die sich dafür interessieren, wie jemand, der ganz anders als seine Familie ist, es schaffen kann, ein neues Leben zu starten.

Bewertung vom 28.08.2022
Die Passage nach Maskat
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


ausgezeichnet

Wie schon das gelungene Cover des Buches andeutet, spielt die Geschichte des Kriminalromans 1929 auf einem Ozeanliner. Die Hauptfigur Theodor Jung begleitet seine Frau und Schwiegerfamilie auf der 14tägigen Fahrt von Marseille nach Maskat. Da seine Schwiegerfamilie, wohlhabende Inhaber einer Gewürzfirma, ihn nicht dabei haben möchte, fährt er unabhängig als Fotoreporter der Zeitung, für die er arbeitet, mit. Von Anfang an gibt es emotionale Spannungen.
Auf dieser Reise kommt es zu Un- und auch Todesfällen, die alle im Zusammenhang mit seiner verschwundenen Frau Dora stehen. Jung reift nach und nach zu einem Mann heran, der hinter die Intrigen blickt.
Das Buch ist flüssig und sehr spannend geschrieben. Ab einem gewissen Zeitpunkt habe ich selbst auch angefangen, zu überlegen, wer wohl für welche Taten verantwortlich ist. Die Figuren in der 1. Klasse, die hier hauptsächlich beschrieben werden, sind gut getroffen und äußerst unterhaltsam beschrieben. Ein tolles Buch!

Bewertung vom 22.08.2022
Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3
Storks, Bettina

Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3


sehr gut

Gut recherchierter Roman über eine Schriftstellerliebe:
Bettina Storks hat ihren Roman sehr gut recherchiert. Die ungewöhnliche Liebesgeschichte von Ingeborg Bachmann und Max Frisch beginnt in Paris, der Stadt der Liebe. Schon bei der ersten Begegnung spürt man die Einzigartigkeit, die leidenschaftliche, aber auch nicht einfache Beziehung der beiden berühmten Schriftsteller. Es treten bald große menschliche und künstlerische Unterschiede zu Tage. Die Autorin beschreibt die Personen authentisch und nachvollziehbar. Ihr Stil ist flüssig und sehr gut zu lesen. Ich finde beide Personen sehr gut beschrieben. Mir hat auch die informative Schilderung des Literaturbetriebs dieser Zeit gefallen: im Großen und Ganzen eine männliche Domäne. Die einzelnen Kapitel sind jeweils mit Ingeborg oder Max betitelt, was eine tiefe Einsicht in die Denk- und Fühlweise der beiden ermöglicht. Das Scheitern der Beziehung wird so ohne Schuldzuweisung verständlich. Ein sensibler schöner Roman.

Bewertung vom 02.08.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


sehr gut

Der neue fiktive Roman von Lauren Groff spielt im 12. Jahrhundert und nimmt sich als historisches Vorbild Marie de France.
Marie ist das Kind einer Vergewaltigung und kommt als Waise an den Hof von Eleonore von Aquitanien, mit der sie verwandt ist. Aufgewachsen unter großen kämpferischen Frauen, ist sie selbst auch sehr groß und leider nicht hübsch. So sieht die Königin keine Möglichkeit, sie zu verheiraten und schickt sie als Priorin in ein völlig verarmtes Kloster in einer Moorlandschaft.
Marie, die mit 17 Jahren wenig fromm ist, gewöhnt sich allmählich an das einsame Leben im Kloster. Mit ihren Führungsqualitäten schafft sie es bald, das Kloster aufblühen zu lassen. Kenntnisreich werden Intrigen, verbotene Lust und das Leben in der religiösen Gemeinschaft sowie das Verhältnis zur Außenwelt beschrieben. Die ungewöhnliche Protagonistin Marie hat mir sehr gut gefallen. Das Leben und das Schicksal von vielen Frauen im Kloster, die aus welchen Gründen auch immer, nicht heiraten wollten oder konnten, hat mich berührt. Ein sehr lesenswertes Buch.

Bewertung vom 08.07.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


gut

Über nigerianische Frauenfreundschaften
Das Cover vermittelt gleich, dass es um afrikanische Frauenfreundschaften geht. Farben und Abstraktion des Bildes gefallen mir - mit Ausnahme des Mundes- gut.
Ich habe dieses Buch über die langjährigen Freundschaften der drei Protagonistinnen Funmi, Enitan und Zainab gerne gelesen.
Toni Obaro erzählt lebendig und informativ über die nigerianische Kultur.
Besonders gefallen haben mir hier die Beschreibungen des Essens, sowie die exzellente und auch mit ironischem Seitenblick vorgenommene Schilderung einer traditionellen Hochzeit. Ich sehe dieses bombastische Fest wie in einem Film vor mir. Auch die Freundschaften der drei nigerianischen Frauen finde ich treffend geschildert. Ich habe sie mit europäischen Frauenfreundschaften verglichen und konnte viele Gemeinsamkeiten entdecken. Kritikpunkte sind für mich die etwas übertriebenen Beschreibungen von Äußerlichkeiten, wie dem Styling, Besuch eines Nagelstudios usw.. Und ich vermisse noch weitere Eigenschaften bei den drei Frauen. Es geht hauptsächlich um die Themen Weiblichkeit, Partner, Familie. Die drei haben ja studiert und Berufe; nur scheinen sie sich im Verlauf des Romans nur noch auf ihr Privatleben zu konzentrieren. Das finde ich etwas schade. Hoffnung geben mir aber Figuren wie Remi und Destiny, die als neue Generation offensichtlich andere Wege einschlagen wollen. Insgesamt ein lesenswerter Roman.

Bewertung vom 31.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


sehr gut

Das Sachbuch gibt einen Überblick über die faszinierende Geschichte der Bücher. Es beginnt mit der berühmten Bibliothek von Alexandria. Wer wollte sie gründen und mit welcher Motivation? Irene Vallejo gelingt ein Spagat zwischen der Antike und unserer Gegenwart, indem sie Parallelen zu Film, Literatur und modernem Leben (dem Internet z.B.) zieht.
Ich finde den Übergang von mündlicher Literatur, wie sie in gesungenen Versen und erzählten Märchen weitergegeben wurde, bis hin zum geschriebenen bzw. gedruckten Text, angefangen von Steintafeln bis hin zu Papyrusrollen oder Papier authentisch und gut nachvollziehbar beschrieben. Um dieses Buch schätzen zu können, ist ein starkes Interesse an antiker Geschichte, Politik und Kultur Voraussetzung. Einerseits möchte ich das profunde Wissen der Autorin loben, andererseits besteht meiner Meinung nach aber eine Schwäche dieses Buches darin, dass die Beschreibungen insgesamt zu detailliert und deshalb auch für einen vorgebildeten Laien ermüdend sind. Ob das Buch für einen Kenner der Materie umfassend genug ist, vermag ich hier nicht zu beurteilen. Alles in allem aber ein sehr gelungenes Buch.

Bewertung vom 02.05.2022
Die sieben Schalen des Zorns
Thiele, Markus

Die sieben Schalen des Zorns


ausgezeichnet

Sterbehilfe im Leben und vor Gericht
In Markus Thieles Roman geht es um die Frage, inwieweit die aktuelle Rechtsprechung die Situation von Menschen erfasst, die ihr Leben selbstbestimmt beenden möchten, wenn es nicht mehr lebenswert für sie ist. Konkret geht es um einen Fall von aktiver Sterbehilfe bei einer schwer dementkranken älteren Frau. Der fachkundige Autor, selbst Jurist, führt dem Leser verständlich die gesetzlichen und menschlichen Positionen vor Augen. Nie hätte ich gedacht, dass diese juristische Fragestellung so spannend und informativ in einen Roman eingebunden werden kann. Die beiden Hauptcharaktere, die Freunde Max und Jonas, sind so gut beschrieben, dass ich sie vor mir sehe. Als Leser kann man nachvollziehen, warum jemand einen ihm sehr nahe stehenden Menschen vom Leiden befreien möchte, aber auch die Problematik, wie solch ein Verhalten letztendlich vor Gericht, von der Gesellschaft, bewertet wird. Ich habe den Roman genossen, die besondere Freundschaft von Max und Jonas und ihr Leben und Leiden über Jahrzehnte hinweg. Wichtig finde ich auch die Verbindung zum Glauben, zur Religion, die in diesem Roman nicht zuletzt in der Auswahl des Titels, gut gelungen ist.