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Edda246
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 52 Bewertungen
Bewertung vom 07.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Dies ist die Geschichte von dem Jungen Demon Copperhead. Sie spielt in den 1980/1990er Jahren in Amerika in Südwest-Virginia in Lee County.
Jeder kennt dort jeden, jeder kennt die Geschichten der anderen. Es herrschen in den 1980ger Jahren Vorurteile gegen Homosexualität, gegen Frauen an sich, Kleinbürgerlichkeit und Bigotterie sind weit verbreitet, Gewalt wird akzeptiert und die Armut prägt.
“...und dort “gibt’s eben alle möglichen schlimmen Sachen“.
Kein guter Start für einen Zehnjährigen mit einer drogenabhängigen, alleinerziehenden Mutter
Der neue Mann der Mutter schreckt nicht vor radikalen Erziehungsmaßnahmen zurück.
Als seine Mutter später an einer Überdosis stirbt, erkennt Demon: „Erst einen Psycho anschleppen und dann auschecken“. Er ist auf sich gestellt.
Demon kommt in eine Pflegefamilie - vom Regen in die Traufe - keine saubere Kleidung keine Zahnbürste; in der Schulklasse abgestempelt und gemobbt.
Überforderte Sozialhelfer, die desinteressiert sind und nicht hinschauen.
Im Laufe seiner weiteren Odyssee wird er schließlich zum Helden, ist dann mit Sucht und Niedergang konfrontiert, erlebt die erste Liebe.
Bis er eine eigene Entscheidung für das Leben und Überleben trifft.

Das Buch ist in der Ich-Perspektive geschrieben in der damaligen Gegenwart, auch von einem späteren Ich rückblickend kommentiert.
Demon betrachtet, beobachtet, identifiziert sich nicht mit den Werten dessen, was er sieht, bleibt Beobachter. Kluge und witzige Gedanken und Betrachtungen des jungen Demon bringen das Buch in Fahrt, die alleinerziehende Mutter wird in seinen Augen z.B. nicht Erziehungs- sondern Entzugsexpertin.

Barbara Kingsolver schreibt so, als wäre man selbst Demon.
Durch die Erzählperspektive des Jungen gewinnt man Abstand, das lässt den Leser unvoreingenommen schauen, ohne zu urteilen. Nur so erscheinen die Dinge und Begebenheiten unbewertet und ohne Vorurteile, man lässt sie einfach wirken. Der Roman ist identisch und glaubwürdig.

Wie Demon das Leben meistert, ist zutiefst berührend. Man möchte mehr aus seiner Perspektive erfahren, seine Sicht der Welt – weil diese Sicht so viel Wahrheit und Weisheit hervorbringt, die tief berührt und tatsächlich, obwohl Demon das Scheitern im sozialen Amerika aufzeigt, man das Gefühl hat, dass eben durch das Aussprechen schon eine Erlösung, ein nächster Schritt in die Wege geleitet wird.
Als Erwachsener Leser kann man die Situationen in denen Demon steckt einschätzen und es ist außerordentlich spannend, wie er selber, gerade vielleicht 11 Jahre alt, ganz allein dies meistern und entscheiden muss - das ist der durchgängige Spannungsbogen. Barbara Kingsolver kommt selber aus Appalachia und kennt und beschreibt detailliert das Land, die Gemeinschaft und Situationen. Die hervorragende Recherche lässt sofort eintauchen in Zeit und Geschehen.
„Demon Copperhead“, ist eine Adaption von Charles Dickens Werk „David Copperfield“ von 1850, spielt aber 170 Jahre später in Amerika bei den sozial Vernachlässigten der Appalachen - „Es gibt den Norden und den Süden, und dann gibt’s noch Lee County – die Welthauptstadt der Lose-Lose-Situation“ Das County zählt heute noch zu den ärmsten Countys in den USA. „Alles, was Demon passiert, ist im wirklichen Leben jemandem passiert, den ich kenne“, sagt Barbara Kingsolver in einem Interview.
Sie hat den Roman gewidmet „Für die Überlebenden“.
Das Buch ist ausgezeichnet mit dem Pulitzer Preis und dem Women´s Prize for Fiction.

Überragend geschrieben – ganz große Literatur!

Bewertung vom 26.01.2024
Spinnennetz / Kommissar Linna Bd.9
Kepler, Lars

Spinnennetz / Kommissar Linna Bd.9


ausgezeichnet

Dies ist der 9. Fall für Joona Linna, dem schwedischen Ermittler der NOA, der nationalen operativen Abteilung der schwedischen Polizei.
Saga Bauer, Detektivin und Mitspielerin für die NOA erreicht eine geheimnisvolle Postkarte. Die Ankündigung von neun Morden, wird Sara auf ermittlerische Hochtouren versetzen. Neun Kugeln sollen neun Morde bewirken,auch Joona Linna soll ein Opfer werden. ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
Gut verpackt wird eine kleine Zinnfigur an Sara Bauer geschickt, die das Konterfei des zu Ermordeten aufzeigt. Das Rätsel zeigt verschlüsselt den Tatort an. Wer steckt dahinter? Die Suche nach dem „Raubtier“ führt von einem Schauplatz zum nächsten. Doch inwieweit ist Saga Bauer, Empfängerin der Pakete, involviert, welche Geheimnisse verbirgt sie? Wer spinnt das Spinnennetz mit welchen Motiven? Ist sie die Einzige, die Joona retten kann?
Sara Bauer gerät ins Visier ihres Vorgesetzten als ihre Spuren an den Tatorten gefunden werden.
Hier geht es um Rätsel und Muster; angefangen mit Postkarten und Anagrammen. Alles dreht sich um Denkspiele, die innerhalb einer bestimmten Zeit entschlüsselt werden müssen, Rätselraten vom Feinsten.
Rasantes Abenteuer gepaart mit intelligenten eigenständig handelnden Mitspielern! Diese Kombination verspricht Spannung und verheißt dazu ein kniffliges Verwirrspiel. Gebannt verfolgt der Leser die Jagd mit den sympathischen und unkonventionellen Darstellern.
Athmosphärisch dicht und psychologisch klug ist der Thriller aufgebaut, man hat sofortige Vorstellung von den Szenen, die athmosphärisch dicht beschrieben sind.

Mir hat dieser Thriller ausnehmend gut gefallen, Obwohl ich die vorherigen Bände, bis auf den “Hypnotiseur“ nicht kannte, konnte ich dennoch gut in die Geschichte einsteigen.
Das Buch deckt Ungelöstes von zwei vorangegangenen Bänden der Serie auf, für Lars Kepler Fans eine zusätzliche Freude. Dieser Thriller ist durchgehend ein rasantes und Spaß bringendes Krimivergnügen, ein Pageturner!
Sehr originell fand ich die versteckten Hinweise und humorvollen Anspielungen auf bekannte und berühmte Ermittler in dem Buch, wie auf den Opium rauchenden Inspector Aberline, der Jack the Ripper jagt(verfilmt mit Johnny Depp), Maarten S. Snejder mit den Cluster Kopfschmerzen, dem „Knochenjäger“ oder Hannibal Lecter, der in die Gehirne vordringt und den Geist verändert. Auch Joona Linna ist inzwischen ein berühmter Ermittler und zu recht. Die Romane um ihn sind weltweite Bestseller und wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet.

Lars Kepler ist ein Pseudonyym der Eheleute Ahndoril
Lars bezieht sich auf den Bestsellerautor Stieg Larsson, Kepler auf den Wissenschaftler und Astronom Johannes Kepler.

Bewertung vom 20.01.2024
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Murakami, Haruki

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer


ausgezeichnet

Dieser neue Roman von Haruki Murakami lässt Phantastisches mit Realem verschmelzen. Die Geschichte beginnt mit einem jungen Mann, gerade 17, der sich in eine junge Frau verliebt und diese Innigkeit niemals vergessen wird. Er entdeckte durch die Liebe zu dem Mädchen die Stadt mit der ungewissen Mauer zum ersten Mal, einen inneren Bereich mit magischen und merkwürdigen Eigenheiten. In der realen Welt dann lebt er bis Mitte 40 sein vorhersehbares Leben, seine Beziehungen mit Frauen sind inzwischen gescheitert. In einem Traum erfährt er von einer Bibliothek im ländlichen Raum. Eine Sehnsucht dorthin veranlasst ihn, seine gut bezahlte Tätigkeit in Tokio zu kündigen und sich auf die Suche zu machen. Nachdem er die Bibliothek auf Umwegen gefunden hat, erkennt er Indizien wieder, die er von einem Traum erinnerte. Der dort ehemalige Bibliotheksleiter führt ihn ein, gibt Weisheit und Rat: „Diese Bibliothek ist ein besonderer Ort, der verlorene Herzen aufnimmt“.

Ich kannte von Haruki Murakami nur IQ84. Auch dies ist vorerst eine Liebesgeschichte, unglücklich. Auch in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ gibt es eine Parallelwelt mit merkwürdigen Begebenheiten und Handlungsabläufen, surreal, phantastisch. Als Beispiel: mit einem Fall in eine Grube gerät der Ich-Erzähler in die andere Welt.
In diesem spirituellen, anderen Universum herrscht keine Zeit, es ist immer Gegenwart, die Jahreszeiten wechseln doch es gibt kein Altern. „Die wahre Zeit der Stadt liegt anderswo“
Ein Entkommen soll nicht möglich sein, beim Pförtner muss der Protagonist seinen Schatten ablegen, seine Augen behandeln lassen und alte Träume in einer Bibliothek lesen, denn „Träume sind eine kostbare innere Quelle“.
Doch was ist, wenn der Schatten sich selbständig machen will und flüchtet?

Murakami verursacht einen Sog, spricht Ebenen an, die in einem eine Resonanz verursachen, so blieb ich ich voll aufmerksam, die eigenartige Bildsprache wie mir im bildnerischen Surrealismus bekannt, bot immer wieder eine Irritation und kennzeichnet die Stadt mit der ungewissen Mauer. „Niemand, sie ist seit Anbeginn hier“ hat die Mauer gebaut“. Doch diese Mauer ist nicht statisch, sie ist wandelbar, je nach Mut und tiefstem Vertrauen des darin Verweilenden, Wie Murakami abschließend hinzufügt: „ Die Wahrheit liegt im steten Wandel“. Diese phantastische Geschichte mit den vielen eingefügten Metaphern und psychologischen Wahrheiten ist unterhaltsam und regt zur Hinterfragung an. Murakamis Geschichten haben einen Sogeffekt, bleiben aber durch die Art der Betrachtung des Ich-Erzählers so distanziert, dass man sich nicht verliert sondern aufmerksam bleibt.
Die schlichte Sprache und die Höflichkeit des Miteinanders in Murakamis Sprache beeindruckt, das Schauen der Bilder ist einfach und staunend, wie mit unverbrauchten jungen Augen. Der Protagonist kennt keine Vorurteile, so beurteilt er auch nicht, dass der ehemalige Bibliothekar in der realen Welt einen Rock trägt.

Witzig fand ich die Beschreibung des Schattens und dessen Äußerungen:
„Erst wer seinen Schatten abgeworfen hat, begreift, wieviel Gewicht er hatte.“ Der Schatten entwickelt ein Eigenleben und flieht aus der mystischen Stadt. “Erfundene Welt voller Widersprüche“, bemerkt der Schatten.“..das alles hat etwas von einem Erlebnispark“ und „...du hast die Stadt mit deiner Phantasie genährt und gefüttert.“

Das 17 Stunden lange Hörbuch war sehr unterhaltsam allerdings auch mit streckenweisen Längen. Doch je mehr man sich einlässt, umso interessanter wird die Geschichte. Beide Erzählstränge sind interessant aufgebaut und haben sich entwickelt bis zum Finale: „.. die Enden der beiden Welten schienen sich übereinander zu schieben“. Es ist eine Heldenreise mit Herausforderungen und Prüfungen, mit einem Schwellenwächter und einem Mentor – wunderbar ausgetüftelt und poetisch umgesetzt vom Meister seiner Erzählkunst Haruki Murakami. David Nathans Stimme ergänzt wunderbar die Magie des Romans.

Der Ursprung Der Roman, vor 40 Jahren als Kurzgeschichte veröffentlicht und nie in Buchform publiziert, findet erst Ende 2022 seine Vollendung. Ein Geschenk, das Murakami sich zu seinem 75. Geburtstag macht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Ein Beziehungsroman, der 1993 im Künstlerviertel in Chicago, Illinois, beginnt. Dies ist eine aufregende Zeit von Kultur und Kunst und dem Anfang des Internets.
Jack Baker zieht in den Stadtteil Wicker Park, fotografiert das Leben am Rand der Gesellschaft.
Elizabeth ist Studentin verschiedener Fachrichtungen, noch nicht volljährig.
Beide entdecken sich im jeweils gegenüberliegenden Fenster der Gasse, in der sie wohnen. Jack kommt aus kleinen Verhältnissen aus dem Mittleren Westen der USA, Elisabeth ist wohlhabend aufgewachsen, „Altes Geld“ von der Ostküste. Unterschiedlicher könnten Herkünfte kaum sein, beide sind nach Chicago gekommen, um „Waisen“ zu werden. Sie begegnen sich und verlieben sich.
Und ihnen liegt die amerikanische Welt Anfang der 1990er Jahre offen, die sie im Laufe der Jahre kreativ versuchen, ganz individuell auszufüllen. Elisabeth konzentriert sich auf psychologische Studien, Jack kann künstlerische Highlights verzeichnen und bekommt später eine Lehrtätigkeit. Sie heiraten und bekommen einen Sohn, Toby.
20 Jahre später in ihren mittleren Jahren wollen sie endlich eine Traumwohnung kaufen und beziehen.
Doch wie sieht der Traum aus und wie ist es dazu gekommen?
Wie schon in Nathan Hills vorherigem bekannten Roman „Geister“ wird Vergangenheit mit Gegenwart kombiniert und verdichtet. Das Leben und das jeweilige Zeitkolorit der Eltern gibt unterstützende Einsichten in die sich entwickelnden Charaktere der beiden Hauptdarsteller.
Dieser Roman besticht mit mit umfangreichen geschichtlichen Recherchen. Es wechselt von ihrer, Elizabeths Sicht der Welt auf seine, Jacks, und zu Rückblenden auf ihre jeweiligen Kindheitserinnerungen. Die Protagonisten sind keine Helden, sind nicht durchgängig sympathisch und bleiben deshalb zutiefst menschlich.

Nathan Hill entlarvt die amerikanische Gesellschaft in den jeweiligen gesellschaftlichen Strömungen und Vorstellungen so humorvoll und witzig aus heutiger Sicht, dass das Lesen ein ungetrübter Genuss ist. Eine feine Satire. Auf die Spitze getrieben. Das Buch ist voller Überraschungen. Das Finale ist erfrischend unvorhergesehen.

Faszinierend sind die tiefblickenden Einsichten in die Psychologie des Menschen die Aha -Effekte! Plötzlich werden die Erkenntnisse der Protagonisten auch eigene des Lesers. Zum Beispiel: In dem Moment als die Vorstellung verbrennt, öffnen sich die Herzen und die Lebendigkeit – so erkennen sie sich als Seelenverwandte.
Doch der Lesefluss verweilt nicht, zügig geht es weiter. Ein dichter Roman, der ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert.

Für mich ganz große Literatur und Nathan Hill ein begnadeter Schriftsteller.

Bewertung vom 31.12.2023
Pilgrim / Oxen Bd.6
Jensen, Jens Henrik

Pilgrim / Oxen Bd.6


ausgezeichnet

Der neue Thriller der Oxen-Serie von Henrik Jensen verspricht spannendes Lesevergnügen.
Dieser 6. Teil der Oxen Serie knüpft an den vorangegangenen Teil an. Ich kannte den 5. Teil nicht, dennoch viel es mir leicht, mich in diesen Teil hineinzuversetzen. Jens Henrik Jensen schreibt so, dass dieses Buch auch für sich stehend verständlich wird. Es gibt eine übersehbare Anzahl von Beteiligten. Die Hauptprotagonisten sind: Niels Oxen, nach dem die Serie benannt ist, ein höchstdekorierter dänischer Kriegsveteran, jetzt auf Wanderschaft; Margrethe Franck, eine suspendierte PET Mitarbeiterin; Axel Mossman, ehem. Leiter des PET, Dänemarks Geheimdienst- und Sicherheitsbehörde - jetzt im Ruhestand; Sarah Finnsen: junge engagierte Agentin.
Man ist sofort in die Oxen-Welt hineingeworfen und durch die einnehmenden Mitspieler neben den ungewöhnlichen Schauplätzen wie amerik. Jungferninseln, alte Badeanstalt, Stromschnellen eines Gebirgsflusses... schnell gefesselt vom Geschehen.
Wer ist der Mann hinter der Mandrill Maske, ein Mörder, den es aufzufinden gilt. Kaltblütig wurde der Bruder von Finnsen ermordet in Teil 5 – eine Triebfeder ihn im 6. Band aufzuspüren. Doch es gibt einige Widerstände zu überwinden. Spielt jemand falsch im Team? Was hat die CIA in dieser Angelegenheit zu suchen und wie verknüpfen sich Whistleblower-Dokumente und die internationale Steuerfahndung mit diesem Fall? Wer zieht die unsichtbaren Fäden?
Eine sehr spannendes Abenteuer erwartet den Leser, der das Rätsel mit den sympathischen Mitspielern löst. Die unerwarteten Wendungen halten bei Atem und die Protagonisten, das fand ich besonders ansprechend, verhalten sich nicht immer im Rahmen dessen was vorhersehbar und rechtlich abgesichert ist, sondern agieren mit durchdachtem Scharfsinn und aufgrund ihrer Erfahrung eigenständig originell. Das hat den Charme dieses Buches für mich ausgemacht, dass das eigenständige, auch unvorhersehbare Handeln, nicht im Chaos endet, sondern wie ein Puzzlestein in eine neue Einsicht integriert wird. Kein Wunder, dass die Oxen Romane Bestseller sind – ein Muss für Krimifans!

Bewertung vom 02.12.2023
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

Shehan Karunatilaka hat einen Roman geschrieben, der sehr intensiv, komplex ist und ein rasantes Abenteuer verspricht.
Maali, ein Kriegsfotograf, findet sich Anfang der 1990ger Jahre in Colombo im Zwischenreich wieder, offensichtlich gestorben, ermordet. Er hat 7 Monde, d.h. Sieben Tage Zeit seinen Tod aufzuklären. Ebenso will er seine bedeutsame und versteckten Fotografien der lebenden Welt zeigen, um die Gräueltaten und die Mittäter vor aller Welt aufzudecken. Doch wie bewerkstelligen? Hierfür wird er alles aufs Spiel setzen. Maali ist ein Fotograf und auch ein Kartenspieler, auch ein heimlicher Homosexueller. Jetzt im Zwischenreich muss er sich erinnern, wer ihn ermordet hat.

Die Geschichte wechselt vom Zwischenreich zur Realität, Maalis persönlichen und im Kontext der politischen und religiösen seines Heimatlandes. In Rückblicken bekommt man Einblicke über die damalige komplexe politische Situation, der Gesellschaft, der Religion und dem Leben Maalis. Er ist ein Kriegsfotograf bzw ein Fixer, jemand, der Reporter und Journalisten aus aller Welt in einheimische Kriegsschauplätze führt, übersetzt und verbindende Gespräche mit dem Militär in die Wege leitet. Währenddessen schießt er Fotos, die hochbrisant sind, verkauft sie an Organisationen oder versteckt die brisanten.

Sri Lanka: Für mich eine fremde noch unbekannte Kultur und Gesellschaft. Kaum wusste ich etwas von dem Bürgerkrieg seit Mitte der 80ger in Sri Lanka, das ich als Ceylon erinnere, als Teelieferant, heutzutage als Urlaubsparadies. Sri Lanka war britisch besetzt und erhielt nach der Unabhängigkeit 1972 den jetzigen Namen („ehrenwerte Insel“). Man wird mit diesem Buch regelrecht, so wie Maali, in etwas hineingeworfen, das vorerst verwirrend ist und zu entdecken gilt, wie Politiker, Organisationen, Religionen, Bezeichnungen für Geister, damalige Gesellschaft mit deren Regeln und Moralvorstellungen. Die Bedeutungen muss man sich geduldig erschließen ebenso die Frage, wer die Guten sind und wer nicht. Hinten im Buch findet sich zur Erklärung ein Glossar für Namen und Abkürzungen und ein Stadtplanausschnitt von Colombo.

Der Einstieg ist dadurch nicht einfach. Eine neue fremde Welt eröffnet sich dem Leser.
Die Aufmerksamkeit wird voll gefordert, erschwerend kommt hinzu, dass Protagonist Maali Erinnerungslücken hat. Trotz meiner anfänglichen Leseschwierigkeiten wurde ich aber belohnt mit einer Erzählung, die von Seite zu Seite interessanter und spannender wird und rasant voranschreitet. Viele historische Informationen runden den Roman ab.

Das Buch bringt Spaß und macht nachdenklich. Den Abstand zu den damaligen Gräueltaten – die Sri Lankische Regierung soll sich hierfür nicht entschuldigt haben - und auch deren Deutlichmachung bekommt man durch den Blick von oben aus dem Zwischenreich. Hier findet der große Teil des Romans statt. Die 544 Seiten erzeugen eine vielschichtige Lektüre, von der man belohnt wird; anschaulich, informativ mit Humor und Menschlichkeit in Szene gesetzt! Shehan Karunatilaka hat diese ganze Komplexität mit großer Intensität bewältigt. Zwei Jahre lang hat er seinen Roman überarbeitet und gestrafft, bevor es den westlichen Lesern zugänglich gemacht wurde (wiki). Das Buch ist 2022 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet.

Bewertung vom 23.11.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Ben Mcintyre erzählt die wahre Geschichte eines russischen Spions, der während des Kalten Krieges nach Großbritannien überläuft: KGB Oberst Oleg Gordijewski.

Oleg Gordijewski aus Moskau liebte klassische Musik und Literatur. Durch seine Versetzung in die Botschaft nach Dänemark schon als ausgebildeter Spion, erlangte er Zugang zu der westlichen Kultur, die er in seiner Heimat so umfangreich nicht vorfand. Ein Ausgangspunkt des Zweifels am totalitären System in Russland.
Mcintyre schildert Jahrzehnte der Spionage bis hin zu Gordijewskis Enttarnung 1985. Das umfangreiche Buch erzählt die Geschichte des Kalten Krieges, schneidet u.a.den Bau der Berliner Mauer 1961 an, den Prager Frühling 1968, die Stationierung von Cruise Missiles Raketen in der BRD 1983 bis hin zur Perestroika.
Diese Zeitgeschichte ist anschaulich gemacht anhand des Protagonisten Gordijewski und den umfangreichen Recherchen zu ihm und dem geschichtlichen Hintergrund dieser Zeitspanne und wird ergänzt durch die eingebundenen Fotografien der Personen.

Den Leser erwartet eine unglaublich spannende Zeitreise. Die Ereignisse werden rückblickend aus Sicht des KGB sowie des britischen Geheimdienstes MI6 und des CIA geschildert.
Man bekommt umfangreiche Einblicke in Spionagetätigkeiten mit Ausdrücken wie: Köder, Hühnerfutter, Signalorte, tote Briefkästen...
Ein informatives Nachwort und eine Aufstellung der Decknamen und Aliasse am Ende des Buches runden diesen rasanten Thriller ab.
Nie langweilig, jede Seite informativ und spannend! Detailgetreue Zeitgeschichte gepaart mit Hochspannung – ein absolutes Lesevergnügen und Empfehlung - Ein Highlight!

Bewertung vom 21.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Ein schönes Cover und ein ansprechender Titel – doch dies täuscht, nichts ist so, wie es scheint!
Hilde Rod-Larsen schreibt einen Roman über eine jetzt 48-Jährige, Agnete, die auf ihr Leben zurückblickt. Erinnerungsfetzen versuchen ein Ganzes zu ergeben. Gerade mit ihrer Studentenzeit in London werden Schlüsselerlebnisse verbunden, die sie betrachtet. Sie versucht sich, ihren Dämonen zu stellen ohne sie zu bewerten, denn was geschehen ist, ist zu ihrem Leben geworden. Sie betrachtet die letzten Jahrzehnte und deckt nach und nach auf, was ihr widerfahren ist und was sie empfunden hat in ihrem damaligen sozialen Umfeld.
In sensibler Sprache, sehr gekonnt, mit ungewöhnlichen stilistischen Mitteln beschreibt Hilde Rod-Larsen diese Rückblenden in der Ich-Form, dann wechselnd im Sinne der Protagonistin in der 3. Form.
Hilde Rod- Larsen gibt einen wichtigen und berührenden Einblick in die Welt eines Missbrauchsopfers. Sie gibt auch Anregung, sich selbst zu fragen, wo jeder sich etwas vormacht, um sich zu fragen, wie es uns wirklich geht. Es geht um die Wahrnehmung durch die Psyche einer Frau, die gut etabliert in einem Wohlfahrtsstaat lebt. Sie kann sehr gut funktionieren, doch der Schein trügt. Nichts ist so wie es scheint.

Der Roman bietet angenehm kurze Abschnitte – bewusst die Erinnerungsfetzen, wie auch eine missbrauchte Frau sich erinnern könnte. Die eigene Geschichte dann in der 3. Person weiterzuführen brachte Agnete sicher neue Erkenntnisse und Ansichten. Stilistisch interessant und zwingt zur Konzentration. Das verlangt Geduld, empfand ich selbst das Buch als kaum spannend. Wenn ich als Leserin Psychologin wäre, würde ich diese Rückblicke und Geschehnisse sehr anregend empfinden, da das Berührende in der Entschlüsselung liegt. Es mutet an, dass sich Hilde Rod-Larsen stilistisch daran gehalten hat, wie Betroffene berichten: den Gefühlen fern, betrachtend, stückchenweise nur die Erinnerung.
Die Protagonistin ist nicht dazu gedacht, dass man sich mit ihr identifizieren kann.
Der Roman zeigt einen Lebensrückblick und hat mich allerdings, vor allem durch den Schluss, sprachlos zurückgelassen – auch dies vielleicht stilistisch gewollt.

In dem Kontext, dass der Ullstein Verlag jetzt in einem neuen Programmbereich „park x Ullstein“ Bücher veröffentlicht, die „gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen .. und über identifikatorische Themen schreiben“, bekomme ich Verständnis für das Anliegen dieses Romans.

Bewertung vom 15.10.2023
Wie Sterben geht
Pflüger, Andreas

Wie Sterben geht


ausgezeichnet

Zur Zeit des Kalten Krieges 1983 wird Nina Winter, Analystin, vom BND rekrutiert. Sie soll einen Spion in Moskau führen. Völlig unvorbereitet erwartet sie in eine harte Schulung zur Agentin bzw. Verbindungsführerin. Hart und gefährlich erfährt sie jegliche Tücken der Beschattung und Verteidigung. Geheime Briefkästen und lange raffinierte Fluchtwege gehören dazu. Sie wird sich in Moskau bewähren müssen. Dort bekämpft sie einen Todfeind und erfährt eine große Liebe.
Wieder wählt Andreas Pflüger für seine Hauptfigur eine taffe junge Frau, sportlich, intelligent. Großartig recherchiert ist die damalige politische Situation und Stimmung.
Oft habe ich selbst nachgeschlagen. Wie war das doch noch mit Helmut Kohls Schweigen oder dem Spion Guillaume, der Willy Brandt stürzte. Andreas Pflügers Einblicke in die internationalen Geheimdienste sind ungewöhnlich und entführen den Leser in ungeahnte Welten und Wahrheiten. Das allein wäre schon hochspannend. Die taffe Protagonistin Nina, jedem immer einen Schritt voraus, überaus intelligent, entführt in einen Wirbel von Ereignissen, die unglaublich überraschend und mit rasender Geschwindigkeit vonstatten gehen, sodass der Leser, wie Nina selbst, sogar Marathonläuferin, atemlos bleibt. Andreas Pflüger schreibt gekonnt mit ausgeklügeltem Humor, in seiner typischen Manier, die dem Leser volle Konzentration abverlangt. Man wird belohnt! Ich habe das Buch verschlungen. Es ist für mich mein Buch des Jahres, ein absoluter Hit!. Lediglich ein Glossar für die nochmalige Erklärung der üblichen Kürzel der dargestellten Abteilungen der jeweiligen Geheimdienste wäre von Nutzen gewesen. Ansonsten: Top! Ein deutsches Kapitel, das dank Andreas Pflüger noch einmal inszeniert und dadurch nicht vergessen wird. - Großartig!

Bewertung vom 06.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Die vorgenommene Aufgabe sich mit einem anderen Leben auseinanderzusetzen, nämlich das der eigenen Mutter, ist Wolf Haas auf ungewöhnliche Weise angegangen.
Der Roman behandelt die letzten drei Tage im Leben der im Sterben liegenden 95 jährigen Mutter. Anfänglich ironisch distanziert doch humorvoll beschrieben aus der Sicht des Sohnes. Dazu die Berichte der Mutter und das Wiederentdecken der Umgebung, dort, wo der Sohn selbst aufgewachsen ist.

Kann man vom Leben schreiben? - ein schwieriges Unterfangen. Dieses 95jährige Leben birgt Umstände und Erfahrungen, die heute kaum noch nachvollziehbar sind, doch mit Staunen begreift man die Situation der vom Krieg und seinen Auswirkungen geprägten Frau. Eine sterbende, eine aussterbende Zeitzeugin! Was heute das eigene Selbstverständnis ausmacht, war nicht immer gegeben. Mit ihrem Leben dem Sohn nicht immer erträglich, so betrachtet er distanziert, ironisch teils unvoreingenommen doch auch genervt und lässt das Leben, das vergeht noch einmal Revue passieren: eine Erinnerung an die Mutter, eine Betrachtung und ein Abschiednehmen.

Aus den Erinnerungen, teils Mutter, teils Protagonist fließen die Gedanken, Erinnerungsfetzen werden ins Bewusstsein geholt, überprüft, angeschaut und weiterverfolgt. Es ergibt sich eine Zeitgeschichte, so kurios und unterhaltsam geprägt von Lebensabschnitten der Sterbenden und den Erinnerungen und Wahrnehmungen des Sohnes.
Mit 12 Jahren musste die Mutter Strümpfe ausbessern der jungen Männer, dort, wo sie arbeitete, das sogenannte Pflichtjahr eines jungen Mädchens (um sie auf die zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorzubereiten). Der Sohn stellt sich vor: „Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles.“

Der Sohn betrachtet das Leben seiner Mutter und gibt ihr durch dieses Erzählung nicht nur ein Andenken, er beleuchtet ein Stück Zeitgeschichte, ungewöhnlich verpackt und dargestellt. Kaum noch begreifbar, wie es damals um das Überleben und den Wunsch nach Sicherheit ging, den Umständen von Politik und Wirtschaftslage ausgesetzt, die Geldentwertung mitzuerleben, die Inflation, mit dem Wunsch des Eigentums - Sparen, sparen, sparen. Durch die Wiederholungen der Mutter wird zunehmend deutlich, wie schwierig so ein Verhältnis werden kann, ständig sich einzulassen, ihr zuzuhören, zu reagieren, auch wenn die im Sterben liegende schon nicht mehr geistig in der Gegenwart verankert ist.
Nach ihrem Tod empfand ich die Geschichte zunehmend mühseliger. Dennoch ist die Geschichte sehr berührend, stellt sie ein Verhältnis von Sohn zu Mutter auf ungewöhnliche Weise dar. Stilistisch sehr gelungen und beeindruckend. Der Roman beschreibt lebendig und eindringlich das Leben.