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anushka

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Insgesamt 162 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2025
Mommsen, Janne

Das Licht in den Wellen


sehr gut

Mit Anfang 20 wandert Inge kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1947, von Föhr, einer friesischen Insel, in die amerikanische Millionenmetropole New York aus. Jetzt, im Alter von 100 Jahren, reist Inge mit ihrer Enkelin Swantje noch einmal von Föhr nach New York und erzählt auf ihrer Reise ihre ereignisreiche Lebensgeschichte.

Dieses Buch ist ein schönes Lesevergnügen für unbeschwerte Lesestunden. Man verfolgt Inge als junge Frau, wie sie die ersten Schritte in New York macht, sich ganz dem amerikanischen Traum entsprechend hocharbeitet und irgendwann ein erfolgreiches Restaurant für die High Society leitet. Natürlich gibt es auch Höhen und Tiefen, aber im Großen und Ganzen ist Inge das Glück zumeist gewogen. Beim Lesen überwiegen die positiven Gefühle: Inge ist eine sympathische Figur, der man den Erfolg gönnt, und die Geschichte ist so geschrieben, dass man immer dranbleibt und wissen möchte, wie es mit Inge weitergeht. Auch auf ein Geheimnis wird hingearbeitet, aufgrund dessen Inge überhaupt erst Föhr verlassen hat - und das am Ende noch aufgelöst wird. Insgesamt handelt es sich bei "Das Licht in den Wellen" um ein gelungenes, abwechslungsreiches Wohlfühlbuch, das in einer Zeit spielt, in der Menschen sich mit Leistung (und dem entsprechenden Glück) Erfolg erarbeiten konnten. Und hier liegt auch einer meiner Kritikpunkte. Inge profitiert schon zu Beginn von Netzwerken, die andere Auswanderer so nicht hatten oder haben: in New York gibt es eine eingeschworene Gemeinde aus Menschen, die bereits früher aus Friesland ausgewandert sind und sich gegenseitig unterstützen. Zufällige Begegnungen erweisen sich als hilfreich auf dem Weg nach oben und bis auf wenige Schicksalsschläge hat Inge eigentlich immer recht viel Glück. Der Schreibstil war weitestgehend flüssig und angenehm, einige Dialoge wirken allerdings dann doch etwas hölzern oder klischeehaft.
Alles in allem war dieses Buch aber ein Lesevergnügen und Wohlfühlbuch, das ich gern gelesen habe mit einer Figur, der ich gern gefolgt bin und mit der ich gut mitfühlen und mitfiebern konnte. Und manchmal tut es einfach gut, an Geschichte zu lesen, in denen die Figuren Erfolg im Leben haben.

Bewertung vom 10.07.2025
Reid, Taylor Jenkins

Atmosphere


sehr gut

Joan Goodwin hat sich schon als Kind für den Himmel interessiert. Als Professorin für Astrophysik kommt sie den Sternen am nächsten. Doch dann öffnet die NASA ihr Bewerbungsverfahren auch für Frauen und Joan wird 1980 eine der ersten Frauen im Space-Shuttle-Programm. Doch es ist immer noch 1980 und vielen bei der NASA fällt es noch schwer, sich an Veränderungen zu gewöhnen. So muss Joan sich nicht nur als Astronautin besonders beweisen, sondern auch ihre frisch gefundene Liebe verheimlichen.

Taylor Jenkins Reid zeigt ein weiteres Mal, dass sie emotionale und interessante Geschichten schreiben kann. "Atmosphere" beginnt wortwörtlich mit einem Knall. Fünf Crewmitglieder befinden sich mit dem Space Shuttle im All, als es eine Explosion gibt. Joan arbeitet in der Missionskontrolle, spricht direkt mit der Crew und muss mithelfen, sie sicher zur Erde zurückzubringen. Da die Außenhülle des Shuttles beschädigt ist, ist nicht garantiert, dass das gelingt. Das sorgt für sehr viel Spannung und Emotionen. In langen Rückblenden erfährt man dann, wie Joan in diese Lebenssituation geraten ist und welche Beziehung sie zu den einzelnen Crewmitgliedern hat. Auch der steinige Weg innerhalb des Space-Shuttle-Programms wird intensiv erzählt.
"Atmosphere" wird mit "Eine Liebesgeschichte" untertitelt und zunächst war ich sehr froh, dass dem lange Zeit nicht so war. Die Liebesgeschichte entwickelt sich dann langsam und eher zart zu Beginn. Zunehmend rückt sie in den Fokus und überlagert phasenweise die NASA-Handlung. Mitunter wird es dann doch das ein oder andere Mal etwas schwülstig und ein wenig zu viel. Trotzdem kann das Ende emotional mitreißen. Neben der Liebesgeschichte streut die Autorin wohldosiert auch noch etwas Gesellschaftskritik ein und schärft das Bewusstsein dafür, dass viele der Freiheiten, die wir heute genießen, noch gar nicht so lange bestehen (bzw. in manchen Ländern auch noch gar nicht existieren). "Atmosphere" ist also wieder ein gelungenes Buch der Autorin, in einem interessanten Setting mit spannenden Hintergrundinformationen, das sich mal wieder sehr flüssig und fesselnd liest.

Bewertung vom 26.06.2025
Frank, Rebekka

Stromlinien


gut

Die 17-jährigen Zwillingsschwestern Enna und Jale zählen die Wochen, Tage und dann die Stunden, bis ihre Mutter Alea aus dem Gefängnis entlassen wird. Doch in der ersehnten Stunde fehlt sowohl von Jale als auch von Alea jede Spur. Stattdessen taucht die Polizei vor der Tür von Oma Emi auf und sucht nach Alea, denn in der Elbe ist ein Mann ertrunken. Auch die Suche nach Jale wird aufgenommen. Aber weil die Familie der Polizei zutiefst misstraut, macht sich Enna allein auf die Suche und deckt dabei nach und nach die lange gehüteten Geheimnisse der Familie auf.

Ich finde dieses Buch von der Gestaltung und der Idee her sehr ansprechend, zumal mir das vorherige Buch der Autorin gut gefallen hat. Auch hier wirken wieder Handlungen und Geheimnisse über unterschiedliche Zeiten und Generationen hinweg. Die Orte in der Elbmarsch sind allerdings scheinbar sehr klein, denn die Familien sind hier schon mindestens seit hundert Jahren alle irgendwie miteinander verwoben. Nicht zuletzt dieses begrenzte Repertoire an Figuren lässt die Geschichte recht konstruiert wirken. Erschien die Geschichte anfangs noch vielschichtig, konzentriert sie sich bald vor allem auf den Handlungsstrang um Enna. Die anderen Handlungsstränge dienen eigentlich nur der Erläuterung der Vorgeschichte. Die Auflösung verschiedener Hintergründe gelingt erst noch nebenbei oder über die zusätzlichen Handlungsstränge, zum Ende des Buches hin wird es jedoch simpler, und die Hintergründe werden den Lesenden fast schon vorgekaut, wann immer die Geschichte an eine Stelle kommt, an der wieder ein Familiengeheimnis gelüftet wird. Das hätte meiner Meinung nach subtiler gelöst werden können.
Insgesamt ist "Stromlinien" eine nette Familiengeschichte, die auf weite Strecken zu unterhalten weiß und von schönen Landschaftsbeschreibungen begleitet wird. Mir fehlt in diesem Buch allerdings etwas der tiefere Sinn, der im vorherigen Buch der Autorin zu finden war. Für Fans von Familiengeschichten über mehrere Generationen ist dieses Buch jedoch eine gute Ergänzung.

Bewertung vom 23.06.2025
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


ausgezeichnet

Beeindruckender Einblick in die Lebensbedingungen der Samí

Als die 13-jährige Ingá im Jahr 1941 mit ihrer Mutter Rávdná und Tante Ánne in das Sommerland an einem See in Nordschweden zurückkehrt, steht ihr samisches Dorf unter Wasser. Für die Energiegewinnung wurde der Stausee geflutet, jedoch ohne die Ankunft des Nomadenvolk abzuwarten. Die Mutter kann noch durch das steigende Wasser in ihre Torfkote waten, um die wichtigsten Dinge zu retten. Ansonsten verlieren sie alles von dem wenigen, das sie besitzen. Da der schwedische Staat die Samí als nicht sesshaft betrachtet, dürfen sie kein Land besitzen, bekommen weder Kredite noch Genehmigung für einen Hausbau und müssen gezwungenermaßen ihre althergebrachte Lebensweise beibehalten, selbst wenn sie sich gern an die Moderne anpassen würden.
Über die Jahre hinweg begleitet man die drei Frauen und ihre Gemeinschaft in ihrem beschwerlichen Leben, wie sie es schon seit Jahrhunderten tun. Dabei ist die Geschichte oft schwermütig, aber gleichzeitig sehr atmosphärisch. Es gibt keinen wirklichen Spannungsbogen, außer die wiederholten Erhöhungen des Staudamms, die ein ums andere Mal den Verlust des Sommerweidelands und der Lebensgrundlage bedeuten. Man bekommt einen sehr tiefen Einblick in die Lebensweise der Samí, ihrer Gesellschaftsstruktur und ihren andauernden Kampf gegen die Diskriminierung durch die Regierung. Die Autorin zeigt deutlich auf, welche Ungerechtigkeit gegenüber ethnischen Minderheiten und indigenen Völkern in Europa auch im 20. Jahrhundert stattfand und wahrscheinlich immer noch stattfindet. Es ist interessant, aber gleichzeitig auch bedrückend zu lesen, an welchem Existenzminimum und mit wie wenig Mitteln die drei Frauen leben. Jede Flutung des Sees vertreibt zunächst die Fische und bedroht somit die Existenzgrundlage. Und auch wenn die Dorfgemeinschaft schon immer an diesem See lebte, so stellt er doch immer eine dunkle Bedrohung war und wird als mystisch und gefährlich wahrgenommen.
Ohne große Gesten, aber dennoch entschlossen, stellt sich Rávdná zunehmend gegen die Regeln der Regierung. Dabei war für mich frustrierend, wie sehr sich hingegen Ingá in die ausweglose Situation ergibt und die Unterdrückung hinnimmt, so wie eigentlich das gesamte restliche Dorf. Insgesamt sind die Figuren nicht sehr nahbar, da der Ausdruck tiefer Emotionen scheinbar zumindest in diesem Dorf wenig üblich ist.

Insgesamt war ich überrascht, wie sehr mich das Buch am Ende gefesselt hat, obwohl es keinen nennenswerten Spannungsbogen gibt. Die Naturbeschreibungen machen den Roman sehr atmosphärisch, wenn auch nicht immer im positiven Sinne. Hier wird die Natur nicht romantisiert, aber dennoch ein naturnahes Leben intensiv beschrieben. Die Autorin kümmert sich dabei wenig darum, ihre Geschichte leicht verdaulich zu präsentieren, so enthält das Buch viel direkte Rede in der samischen Sprache und auch viele Begriffe (beispielsweise für Kleidungsstücke), die nicht ohne Weiteres bekannt sind und erst nachgeschaut werden müssen. Das Buch liefert dafür allerdings keinen Glossar mit. Das macht das Buch für mich jedoch noch lebensnäher. Es wird auch dadurch lebensnah, dass es reale historische Ereignisse aufgreift, die zwar fiktional, aber deswegen nicht weniger ergreifend erzählt werden. Die Geschichte hat mich tief beeindruckt und sehr mitleiden lassen.

Bewertung vom 18.05.2025
Jarawan, Pierre

Frau im Mond


sehr gut

Schwieriger Einstieg, dann aber eigentlich eine sehr lesenswerte Geschichte über den Libanon

Lilit el-Shami, Nachkommin libanesischer Einwanderer in dritter Generation in Kanada, ist Dokumentarfilmerin. Nachdem ihr Großvater Maroun jahrelang sie und ihre Zwillingsschwester großgezogen hat, kümmern sich nun die Schwestern um den 100Jährigen. Jetzt baut Maroun deutlich ab, sodass Lilit nur wenig Zeit bleibt, die Familiengeschichte zu ergründen und herauszufinden, warum Maroun am Tag ihrer Geburt in seiner Seniorenresidenz eine Rakete gezündet hat und was die Lebanese Rocket Society damit zu tun hat. Aber insbesondere die Großmutter Anoush, die die Schwestern nie kennengelernt haben, hat mit ihrer armenischen Herkunft und ihrer Zeit in einem Waisenheim die Familie geprägt. Nachdem Lilit einen Hinweis einer Vereinigung Überlebender des Waisenhauses erhält, reist sie kurz entschlossen in den Libanon.

Allein die Zusammenfassung der zentralen Handlung des Buches fällt nicht leicht, denn die Geschichte ist ziemlich komplex und ausschweifend. Gleichzeitig gelingt dem Autor dadurch ein sehr eindrucksvolles Bild eines Landes, das eins im Wettlauf um die Mondlandung mitspielte und durch die Seidenproduktion eine blühende Wirtschaft hatte, doch heute nur noch durch Krisen und kriegerische Auseinandersetzungen in den Medien ist. Am Ende war es eine fesselnde Geschichte, doch der Weg dahin beim Lesen war steinig. Die Geschichte beginnt sehr zerfranst. Ich tat mich schwer, in die Geschichte hineinzukommen und eine Bezugsfigur zu finden. Die Erzählung schweift immer wieder ab, die Protagonistin selbst trägt einen durch Nebenbemerkungen und einen analytischen Außenblick mit Bezug zu filmischen Stilmitteln immer wieder aus der Geschichte. Auch eignet sich das Buch nicht dazu, in kurzen Lesemomenten mal nur ein paar Seiten zu lesen, man muss immer erst wieder hineinfinden und das brauchte Zeit. Ab der Hälfte, so ziemlich ab dem Moment, in dem Lilit im Libanon ankommt, wird die Geschichte packend, nicht zuletzt durch Bezüge zum Völkermord. Ab diesem Punkt wirkt die Geschichte stringenter, weniger willkürlich und weniger unstrukturiert. Ganz im Stile der arabischen Erzähltradition bekommen wir weiterhin Geschichten in Geschichten, aber die Verbindungen miteinander werden deutlicher und bedeutender. Hinzu kommen viele Bildnisse und Symboliken: die Unterteilung des Buches in die drei Startstufen einer Rakete, die Rückwärtszählung der Kapitel als Countdown, viele Bezüge zum Stummfilm "Frau im Mond". An sich ist das Buch ein Meisterwerk, das sorgfältig und kunstvoll durchdacht und komplex ist und auch das Cover passt perfekt zur Geschichte. Neben einer interessanten Familiengeschichte lernt man viel über viele verschiedene Themen, aber vielleicht war es dadurch auch etwas überladen. Letztlich lohnt es sich, durchzuhalten und über den schwierigen Einstieg hinweg weiterzulesen, dann wird man mit einer reichhaltigen, interessanten und auch fesselnden Familiengeschichte, aber auch der Geschichte eines wenig bekannten Landes belohnt.

Bewertung vom 18.05.2025
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


ausgezeichnet

Dieses Buch ist so viel mehr als es zunächst scheint

Italien, 1916: Im Alter von 12 Jahren wird Mimo, Michelangelo Vitaliani, allein zu seinem Onkel nach Italien geschickt um zum Bildhauer ausgebildet zu werden. Aufgrund von Achondroplasie ist Mimo kleinwüchsig und oft ein Außenseiter, was ihn geradezu prädestiniert für eine Freundschaft mit Viola Orsini, die Bücher und Wissen aufsaugt und von einem selbständigen Leben träumt, das ihr als Tochter einer angesehenen Adelsfamilie jedoch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwehrt ist. Auch Viola wird als sonderbar empfunden und von vielen gemieden. Können die beiden diese ungleiche Freundschaft über die großen Umbrüche in Europa, zwei Weltkriege und den Faschismus hinweg bewahren?

Szenenwechsel in eine Abtei im Jahr 1986. Hier liegt ein ehrwürdiger Bruder nach einem langen Leben auf dem Sterbebett und bald erfährt man, dass es sich dabei um Mimo handelt, der sich lange Jahre in dieser Abtei vor der Welt versteckt hat. Zusammen mit seiner letzten Statue, die einen Skandal ausgelöst hat und schlußendlich im Kellergewölbe der Abtei vor der Welt gerettet wurde oder die Welt vor ihr? Während Mimo aus seinem bewegten Leben erzählt, nähert man sich über den Prior der Abtei der Statue und der Auflösung des Geheimnisses an. Lange konnte ich mir nicht vorstellen, was derartig skandalös sein könnte, dass es Mimos letzte Statue werden sollte. Die Auflösung bringt tatsächlich erst die letzte Seite und war für mich derartig grandios, dass ich am Ende die gesamte Geschichte in einem anderen Licht betrachtet habe.

Die unterschiedlichen Rezensionen zeigen mir, dass man wie in Mimos Kunstwerken in diesem Roman so vieles verschiedenes sehen kann. Einerseits ist er ein Schelmenroman, allerdings mit einem Schelm, der kein wirklicher Sympathieträger und wenig zugänglich ist. Mimo lebt zunächst in Armut, doch erwirbt irgendwann die Gunst der Orsinis und ist darüber hinaus als Bildhauer außergewöhnlich talentiert. Seine Liebe zum Stein konnte man förmlich nachfühlen, spürte fast selbst den Marmor unter der Hand. Und so ist dieses Buch auch ein Künstlerroman. Weniger nachfühlbar sind Mimos Alkoholexzesse und seine politische Gleichgültigkeit. Obwohl er immer wieder gedemütigt wird, bleibt er mit den Orsinis verbunden. Er steigt auf, wird erfolgreich, immer mit der Hilfe der Orsinis, von denen einer zum Kardinal aufsteigen und der andere in der Mussolini-Regierung einflussreiche Freunde haben wird, während Violas Träume immer wieder zerschellen und sie sich den gesellschaftlichen Vorstellungen der Rolle einer Frau fügen muss. Hätte Mimo nicht die Verbindung zu den Orsinis, wäre sicherlich auch er unter Mussolini in ein Lager geschickt worden. Stattdessen sind die Faschisten mit seine größten Fans. Welch Ironie. Dieses Buch zeichnet über Mimo und Violas Geschichte hinaus eindrücklich nach, wie sich der Faschismus in die italienische Gesellschaft einschleicht. Und so ist es in gewisser Form auch historischer Roman. Und am Ende war ich sogar überzeugt, dass es in diesem Roman gar nicht hauptsächlich um Mimo ging, sondern vielmehr um die tragische Figur der Viola. Wie sehr sich die restriktiven Vorstellungen der Rolle einer Frau auswirken, wird hier nach und nach erkannt, aus Sicht eines Mannes, einem, der Viola ein ums andere Mal verraten hat, ihrem besten Freund Mimo. Mich konnte die Geschichte um Mimo und Viola fesseln, aber auch der wunderbar poetische Schreibstil, der selbst wie aus dem Papier heraus gemeißelt und bis zum absoluten Glanz poliert wirkt. Mich hat dieses Buch absolut begeistert.

Bewertung vom 06.04.2025
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Eine Jugend zwischen bayrischen Fischweihern und rechtem Gedankengut

Franka ist Referandarin in München. Gemeinsam mit ihrer Klasse besucht sie den NSU Prozess vor dem Oberlandesgericht in München. Nach einer unüberlegten Äußerung eines Schülers flieht Franka überstürzt erst aus dem Gerichtsgebäude, dann aus München, zurück in ihr Heimatdorf. Die Freude über ihre Rückkehr ist verhalten, Zurück in ihrem einstigen Jugendzimmer rollt sie die Erinnerungen und weit zurück liegende Familiengeheimnisse auf.

"Unter Grund" ist ein eingängiger Roman über eine Jugend auf dem Land in unserer heutigen Zeit, in dem längst überwundenes Gedankengut weiterhin alltäglich ist. Frankas Großmutter, von allen nur die Fuchsin genannt, spielt hier keine unerhebliche Rolle. Als Kind genießt Franka den Respekt, den die Menschen vor ihrer Großmutter zu haben scheinen, doch mit deren voranschreitender Demenz wird Franka klar, dass die Nachbarn ihre Großmutter eher verachten und meiden. Nun blickt Franka zurück, nicht allzuweit von ihren Mittzwanzigern in ihre Jugend, als ihr Vater starb und sie den Halt verlor. Als ihr bester Freund seine erste Freundin hatte und Franka statt mit ihm immer häufiger Zeit mit Patrick und Janna verbrachte. Wie sie Janna dafür bewunderte, dass sie ihren ganzen Frust über Aggression ausließ. Und wie Franka dabei immer tiefer in die rechte Szene abrutschte, nur um sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Franka beschäftigt sich mit ihrer Schuld ohne dabei wirklich Verantwortung übernehmen zu wollen. Die zentrale Frage dabei ist, ab wann Jugendliche ihre Taten verstehen können und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Bis wohin gehen jugendliche "Streiche" und ab wann sind sie politische Straftaten? Und wie kann gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit überhaupt als Spaß angesehen werden?
Zeitgemäßer könnte ein Roman kaum sein und erfrischend finde ich, dass er nicht in Ostdeutschland spielt, sondern zeigt, dass solche Geschichten überall stattfinden können und rechtes Gedankengut überall im Land gärt. Franka ist eine nahbare Protagonistin, auch wenn man ihre Handlungen und ihren Umgang mit ihrer Schuld wenig nachvollziehen kann. Gleichzeitig ist der Roman schonungslos, zitiert auch mal hier und da einschlägige Texte, Lieder und Filme, die man vielleicht gar nicht lesen wollte. Man spürt Beklemmung und ein Bedrohungsgefühl, wenn Franka sich mit den Dorfnaz*s trifft, so gut hat die Autorin diese Situationen beschrieben. Der Roman widmet sich weniger möglichen Lösungen, sodass man hier etwas unbefriedigt zurückbleibt. Auch Frankas Ausstieg wird nur kurz thematisiert. Dennoch ist dieser Debütroman beeindruckend und hallt lange nach.

Bewertung vom 06.04.2025
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Das Verglühen eines Sterns

Deutschland, 1920er: Die Goldenen Zwanziger sind angebrochen. Die westliche Welt schwelgt in Lebensfreude, die Kunst erlebt eine Hochphase. Anita Berber ist mittendrin als eine der schillernden Personen. Ihre Tänze sind skandalös und ziehen ein großes Publikum an. Sie ist dabei, als der Film massentauglich wird und ist als Stummfilmschauspielerin sehr erfolgreich. Doch jetzt liegt sie auf der Tuberkulosestation eines Berliner Krankenhauses und ihre Gedanken drehen sich um ihr exzessives Leben und ihren Absturz.

"Der ewige Tanz" erzählt die Geschichte einer exzentrischen Künstlerin der 1920er Jahre, die es wirklich gegeben hat. Wer in einer Suchmaschine nach Anita Berber sucht, wird schnell fündig und kann sich zahlreiche Bilder anschauen, die auch im Buch thematisiert werden. Leider verrät der Klappentext schon recht viel, denn Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt. Dennoch verfolgt man fasziniert den Weg dieser eigensinnigen Frau, die sich ein Monokel anfertigen ließ und als erste Frau in einem Frack auftrat, etwas, das Marlene Dietrich sich von ihr abschaute. Der Autor erweckt eine wundervolle Atmosphäre, die den Überschwang dieser Zeit und das künstlerische Milieu wie einen Fiebertraum wirken lässt. Man wähnt sich mittendrin in den Partys und Zwistigkeiten unter den Kunstschaffenden. Nicht lange und man beobachtet Anita bei ihrem Alkohol- und Drogenkonsum, hört die gehässigen Stimmen ihrer Kritiker:innen und folgt ihrem Kampf um Bedeutungserhalt und Einkommen. All das ist faszinierend und auf gewisse Weise fesselnd. Fast schon amüsant sind die Beschreibungen des aufkommenden Kinofilms und dem Beruf der Filmschauspielerei. Und dennoch fehlt etwas. Man kommt Anita Berber niemals emotional nahe. Man verfolgt das Verglühen dieses Sterns von außen, aber der Roman blickt nicht nach innen, was das emotional mit der Protagonistin gemacht haben könnte. Der Roman bleibt durchweg auf einer beschreibenden Ebene und geht nicht tiefer in die zwischenmenschlichen und innermenschlichen Dynamiken. So lässt der Roman insgesamt eine spannende und faszinierende Zeit und Gesellschaft auferstehen, aber wirklich nah kommt man seinen Figuren leider nicht.

Bewertung vom 01.04.2025
Abboud, Aline;Heymann, Nana

Barfuß in Tetas Garten


gut

Persönliche Einblicke in den Libanon jenseits der Schlagzeilen

Aline Abboud, wem sie nicht bekannt ist, ist Sprecherin und Journalistin bei der Tagesschau. Außerdem hat sie einen multikulturellen Hintergrund, mit einem libanesischen Vater und einer ostdeutschen Mutter. In diesem Buch erzählt sie aus ihrem Leben mit und ihrer Identitätssuche zwischen zwei Kulturen. Dadurch gibt sie einen Einblick in ein Land, über das abseits von Nachrichtenmeldungen nur wenige Menschen etwas wissen. Wie eine Touristenführerin beschreibt sie anschaulich verschiedene sehenswerte Gegenden des Libanon. Aber auch von einschneidenden Erlebnissen erzählt sie, wie zum Beispiel als 2006 in unmittelbarer Nähe des Hauses ihrer Großeltern Bomben einschlagen und Abboud mit ihrer Familie über Land nach Deutschland zurück flüchtet.

Zunächst fand ich das Buch sehr flüssig zu lesen, doch zunehmend fehlte mir etwas der rote Faden. Auch auf eine historische oder politische Einordnung wartet man vergebens. Hier hätte ich gedacht, dass der journalistische Hintergrund der Autorin stärker zum Tragen kommt. Auch werden Erlebnisse punktuell erzählt und bestehen eher aus einzelnen Anekdoten als aus einem größeren Ganzen mit Konzept. Einzelne Kapitel enden teilweise sehr abrupt und manchmal mit wenig Bezug zueinander. Und nicht zuletzt möchte die Autorin einem zwar das Land näherbringen, thematisiert aber nur vereinzelt, dass auch sie selbst das Land insgesamt wenig kennt, da sie im Jahr nur wenige Wochen am Stück dort verbringt und im Gegensatz zur Familie ihres Vaters das Privileg besitzt, jederzeit in ein westliches Land zurückkehren zu können. Auch der berufliche Alltag in einer Nachrichtenredaktion wird nur am Rande thematisiert.

Dieses Buch gibt insgesamt interessante Einblicke in ein Land, das wenig als Urlaubsland bekannt ist und über das oftmals negativ konnotiert berichtet wird. Es veranschaulicht die Identitätssuche von Menschen mit multikulturellem Hintergrund und ist eine liebevolle Familiengeschichte bestehend aus kurzweiligen Kapiteln. Eine vertiefende Analyse der Situation im Libanon sollte man allerdings davon nicht erwarten.

Bewertung vom 02.03.2025
Henríquez, Cristina

Der große Riss


ausgezeichnet

Kleine Leben unter dem großem Schatten des Panamakanals

Empire, Panama, 1907: Ada steigt als illegale Passagierin vom Schiff aus Barbados. Sie hofft, in Panama genug Geld verdienen zu können, um ihrer Schwester eine lebensrettende Operation zu bezahlen. Omar, Sohn eines Fischers, arbeitet gegen den Wunsch seines Vaters als Bauarbeiter mit am Panamakanal, der als großer Riss durch das Land gehen soll. Die Oswalds reisen aus den USA an um die Malaria zu erforschen und ein Heilmittel zu finden. Doch sie müssen feststellen, dass auch Reichtum nicht vor Krankheit schützt. Und Valentina versucht, durch Protest ihr Kindheitsdorf Gatún vor der Zwangsumsiedlung zu retten. Dies sind nur einige der Figuren, die in einem mal engeren, mal gröberen Netz aus Schicksalen verbunden sind. Die Autorin zeigt eingängig die Hintergrundgeschichten, Träume und Hoffnungen vieler verschiedener Menschen auf, die alle in irgendeiner Form vom Bau des Panamakanals betroffen sind, sei es, dass sie sich durch das verdiente Geld eine bessere Zukunft erhoffen oder dass dadurch ihre ganze Existenz bedroht ist.

Passender kann ein Roman kaum erscheinen als dieser, der rund um den Bau des Panamakanals vor über 100 Jahre angesiedelt ist, während hochaktuell Forderungen des derzeitigen amerikanischen Präsidenten laut werden, die Kontrolle über den Kanal zurückzuerhalten. Geradezu zynisch muten diese Forderungen an, nachdem man das Buch gelesen und einen Eindruck bekommen hat von der Ausbeutung und der Diskriminierung der Menschen Panamas beim Bau (und danach) und dem imperialistischen Gehabe der USA, die gleich einen ganzen Landstrich Panamas zur Sonderzone machten, in denen die einheimische Bevölkerung keine Rechte mehr hat. Allerdings erfährt man aus diesem Roman wenig historische Fakten, der Hauptfokus liegt auf den emotionalen Geschichten der "kleinen Leben", die mit dem Panamakanal zu tun haben oder davon beeinflusst werden. Wie der große Risse auch Risse durch Familien zieht. Man kann sich einfühlen in die jüngeren Figuren, die dem Fortschritt nicht abgeneigt sind und die aus ganz Mittelamerika anreisen, weil die Arbeit vergleichsweise gut bezahlt wird. Aber auch die Umwälzungen, die die älteren Figuren durch den Fortschritt erleben, der ihre traditionelle Lebensweise überrollt, sind gut nachspürbar. Die angekündigte Liebesgeschichte ist zart und dezent und überlagert nicht die restliche Handlung. Man fühlt beim Lesen vor allem, wie sich ein großer Schatten des "Risses" auf alle geschilderten Leben legt. Und gleichzeitig schildert die Autorin so bildhaft die Szenerie, dass man sich ein Staunen kaum verkneifen kann, wie der Mensch einen ganzen Kontinent durchschneidet, Bergketten durchtrennt und am Ende zwei Ozeane miteinander verbindet um der Natur ein Schnippchen zu schlagen und nicht länger einen ganzen Kontinent umsschiffen zu müssen, um auf die andere Seite zu kommen. Die Autorin schärft mit großer Empathie das Bewusstsein für ein Wunderwerk der Ingenieurskunst und seiner gleichzeitigen Auswirkungen auf die individuellen Menschen.