Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
anushka

Bewertungen

Insgesamt 133 Bewertungen
Bewertung vom 28.12.2023
Die Kinder des Don Arrigo
Sciapeconi, Ivan

Die Kinder des Don Arrigo


gut

Wichtige Geschichte über Zivilcourage, die mich emotional nicht abgeholt hat

Nathan versteht die Welt nicht mehr, alles um ihn herum wird feindseliger, die Erwachsenen vorsichtiger. Nur sein Vater erzählt weiterhin scheinbar unbekümmert Geschichten und Witze. Doch dann kommen eines Tages die Braunhemden und holen seinen Vater ab. Eines Tages klingelt eine Frau an der Tür und bietet an, Nathan außer Landes zu bringen. Sein Bruder sei noch zu klein und so können er und die Mutter nicht mitkommen. Der Name der Frau ist Recha Freier. Zusammen mit anderen Kindern reist Nathan quer durch Europa, immer knapp vor den Braunhemden. Schließlich landen sie in dem kleinen Dorf Nonantola. Nicht alle sind begeistert von den Neuankömmlingen, doch viele halten zu ihnen. Und so schmiedet der Pfarrer Don Arrigo einen tollkühnen Plan als die Braunhemden auch Nonantola erreichen und sich auf die Suche nach versteckten Juden und Jüdinnen machen.

Das vorliegende Buch ist ein Versuch, den Sprung vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch zu schaffen. Das merkt man ihm auch an, denn der Schritt in das Erwachsenengenre gelingt noch nicht ganz. Die Geschichte hat mich nicht wirklich abgeholt, sie wirkt nicht gut ausgearbeitet und bringt nicht viel emotionale Tiefe mit. Zugegeben, die Geschichten der einzelnen Kinder sind tragisch und eigentlich berührend, aber es sind teilweise zu viele und man lernt die Kinder selbst wenig kennen. Zum Thema des Buches und insbesondere zu dieser Epoche gibt es bereits zahlreiche Bücher, sodass sich dieses Buch durchaus messen lassen muss. Die Kinder ziehen quer durch Europa, immer verfolgt von den politischen Entwicklungen. Bei mir kam allerdings nie so richtig Spannung auf. Auch bleibt der Erzähler reserviert und emotional wenig greifbar. Die eigentliche Handlung in Nonantola wirkte auch etwas oberflächlich und im Vergleich zum gesamten Buch recht kurz abgehandelt. Insgesamt erzählt das Buch eine wichtige Geschichte über die Zivilcourage vieler einzelner Personen, deren Zusammenwirken es ermöglicht hat, zahlreiche jüdische Kinder zu retten. Doch als Roman hat es mich nicht überzeugt und konnte mich emotional nicht abholen.

Bewertung vom 29.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


sehr gut

Sehr gutes Buch über Misogynie im Wandel der Zeit

Um 1580 im Hamburger Marschland führt Abelke Bleken allein einen großen Hof. Für eine Frau zu dieser Zeit ist das nicht ungefährlich, insbesondere, wenn sie auch noch weiß, was sie tut. Dank weiser Voraussicht ist ihr Hof von einer Springflut weniger betroffen als andere Höfe. Das ruft Neid, Missgunst und Misstrauen auf den Plan.
450 Jahre später zieht Britta Stoever in das Hamburger Marschland. Als studierte Geologin würde sie sich sicherlich als emanzipierte Frau betrachten. Erste Risse zeigen sich, doch werden ignoriert, als ihr Mann die Kaufentscheidung für das Haus trifft. Nun sitzt Britta ohne Job und Beschäftigung in ihrem “Eispalast” im Marschland. Ihr bleiben lange Spaziergänge und die Hausarbeit. Bei ihrem Engagement für den Heimatverein stößt sie auf die Geschichte von Abelke Bleken und taucht immer tiefer in diese ein. Und stellt dabei fest, dass ihre Lebensumstände mehr mit denen von Abelke gemein haben, als ihr lieb ist.

Ich muss zugeben, dass ich dieses Buch zunächst mit anderen Erwartungen gelesen habe. Ausgegangen war ich von einem historischen Roman zu einer wahren Geschichte. Nachdem ich dann recht zu Beginn der Geschichte nach Abelke Bleken gegoogelt habe, hatte ich mir auch etwas die Spannung genommen. Spannung ist etwas, das man von diesem Buch insgesamt weniger erwarten kann, insbesondere im Handlungsstrang um Britta. Die Geschichte geht auch weit darüber hinaus, nur ein historisches Ereignis wiederzugeben. Es geht vielmehr um das Erkennen von Mustern. Neben der Lebensgeschichte von Abelke Bleken seziert “Marschlande” vor allem das Aufkommen neuer Strukturen. War es zunächst noch üblich, dass die Menschen seit Generationen Bauern waren und ihre eigenen Höfe und Ländereien bewirtschafteten, werden wir hier Zeuge des aufkommenden Kapitalismus. Zunehmend geht es um Investitionen von Hamburger Bürgern, das Aufkaufen von Land, und die Ansammlungen von Besitzungen. Dabei steht Abelkes Geschichte eigentlich nur symptomatisch für etwas, das zunehmend mehr Bauern ereilt hat. Was Brittas Geschichte damit zu tun hat, wird erst auf den zweiten Blick deutlich und irritiert daher ein ums andere Mal, wenn der Handlungsstrang wechselt. Gerade das Nachwort der Autorin bietet hier noch einmal viel Substanz, die zum Verständnis beiträgt.

Mich hat dieses Buch sehr positiv überrascht. Man traut es sich kaum zu schreiben, weil dann viele dieses Buch von vornherein nicht lesen, obwohl es für sie aufschlussreich und interessant sein könnte: ja, dieses Buch ist deutlich feministischer ausgerichtet, als ich erwartet hatte. Dass die Hexenprozesse der Vergangenheit viel mit Misogynie und Machtverhältnissen zu tun hatten, ist längst bekannt. Dennoch empört und berührt es einen, Abelkes Geschichte zu lesen. Bei Britta fällt einem das Mitfühlen deutlich schwerer, weil sie unsympathischer wirkt. Auch sind die Probleme hier subtiler und damit nicht immer so eindeutig ungerecht. Gleichzeitig sind die Geschichten jedoch in eine faszinierende Umgebung verpackt. Die Autorin hat einen atmosphärischen Erzählstil: die vielen gelungenen Natur- und Tierbeschreibungen erwecken eine klamme, düstere und manchmal bedrohliche Stimmung, die der ganzen Geschichte einen sehr passenden Rahmen gibt. Auch sprachlich ist das Buch ein Genuss.

“Marschlande” hat mir sehr viele Denkanstöße mitgegeben und das oft auf eine fesselnde Art (zumindest bei Abelke). Der Handlungsstrang im Britta war mir allerdings für einen Roman dann doch etwas fade. Und dennoch ist dieses Buch eines meiner Jahreshighlights, weil es so wichtige Botschaften auf zumeist tolle Weise mit einem tollen Schreibstil vermittelt.

Bewertung vom 25.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


sehr gut

Bissige Familiengeschichte vor der Kulisse des Klimawandel

Dass das Klima sich verändert, leugnet hier keiner mehr: Die Mutter der Familie, Ottilie, ersetzt Teile ihrer Gerichte durch Insekten und Raupen und versucht insgesamt, mehr durch Selbstversorgung abzudecken. Sowohl sie als auch ihr Mann ächzen unter der monatelangen Trockenheit und Waldbrandgefahr in Kalifornien. Da geht es bei Cat, der Tochter, ganz anders zu. War ein Haus am Strand auf einer Halbinsel Floridas vor Jahren noch ein begehrtes Objekt, sind die Straßen nun ständig überschwemmt. Damit der knallrote Tesla von Cats Freund nicht korrodiert, muss sie ihn außerhalb der Halbinsel parken und ständig zu Fuß durch die überschwemmten Straßen waten. Um ihre Karriere als Influencerin in die Gänge zu bringen, kauft sie sich einen Tigerpython. Und dann ist da noch Cooper, Sohn der Familie, Bruder von Cat, und Insektenforscher. Auf Parties ist er mit seinem Weltuntergangsgerede die absolute Spaßbremse, umso mehr, nachdem ein Schicksalsschlag sein Leben drastisch verändert.

Ich habe zugegebenermaßen etwas mit diesem Buch gekämpft. Nicht, weil es nicht gut geschrieben oder nicht interessant wäre. Sondern weil Boyle so plastisch schreibt und seine Beschreibungen so realistisch sind, dass es meine Phobie extrem getriggert hat. Dazu ist das Buch vergleichsweise aufwendig gestaltet, mit Illustrationen von Schlangenkörpern zwischen den großen Abschnitten der Geschichte. Der wiederholte Alarmzustand meines Körpers hat das Lesevergnügen doch zwischendurch immer wieder um einiges eingeschränkt. Die entsprechenden Beschreibungen konnte ich zeitweise nur grob überfliegen. Als potentielle*r Leser*in mit entsprechender Phobie sollte man das vorab besser wissen.

Ansonsten erzählt Boyle hier eine bissige Familiengeschichte von Figuren, die den Klimawandel und etliche Einschränkungen spüren, ihr Leben daran anpassen, aber nicht wirklich viel verändern. Ottilie lässt sich ihre Insektenzucht von Amazon liefern und als diese alle an einer Krankheit eingehen, wird das Gefäß ohne zu zögern entsorgt und ein neues bestellt. In abwechselnden Kapitel über die jeweiligen Familienmitglieder geht es um die sozialen und emotionalen Auswirkungen, wenn beispielsweise die Nachbarn ihr Haus an einen Waldbrand verlieren und man sich nun gemeinsam in einem Haus arrangieren muss. Insgesamt wirft Boyle hier viele Themen in einem Topf und garniert sie mit der Klimawandelthematik: überforderte Mutter, deren Partner die ganze Zeit auf Reisen ist; Shitstorm in den sozialen Medien für öffentlich gewordenes Fehlverhalten; Behinderung und die Anpassungsschwierigkeiten daran; Influencertum; und vieles mehr. Dabei lässt er seine Figuren ganz schön leiden, erzählt ihre jeweiligen Geschichten überspitzt böse-humorvoll und zeigt dabei immer wieder ohne Moralkeule ihre Doppelmoral auf. Es bleibt einem aber auch immer wieder das Lachen im Halse stecken, wenn man darüber nachdenkt, wie präsent die Klimaveränderungen sind und wie sie die "normalen" Probleme noch potenzieren.

Insgesamt ist Boyle meiner Meinung nach eine gute Mischung aus Familiengeschichte und Gesellschaftskritik gelungen, die nicht mit dem Holzhammer daherkommt, sondern im Gewand einer neuen Normalität. Die Ereignisse und Veränderungen sind faktisch fundiert und stimmig, Das Buch ist keine Endzeit-Dystopie, sondern erzählt alltägliche Geschichten, in die sich die Endzeit längst eingeschlichen hat. Auch wenn meiner Meinung nach nicht alle Themen ausreichend Aufmerksamkeit bekommen haben bzw. es vielleicht zu viele Themen insgesamt waren, und die Frage letztlich bleibt, wohin die Geschichte insgesamt eigentlich führen sollte, ist dieses Buch für mich dennoch eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 24.07.2023
Malibu Rising
Reid, Taylor Jenkins

Malibu Rising


sehr gut

Netter Sommerschmöker

Malibu, Sommer 1983. DIE Party des Jahres steht bevor und zwar im Haus von Nina Riva, Surfstar, Supermodel, Tochter eines berühmten Schauspielers. Jedes Jahr sorgt diese Party für viel Promi-Klatsch und noch mehr Skandale. Alle hoffen auf eine Einladung. Und natürlich versammelt sich hier dementsprechend alles, was in der Prominenz Malibus und darüber hinaus Rang und Namen hat. Oder gern hätte. Und obwohl ihre kaum weniger berühmten Geschwister voller Eifer die Party bereits vorbereiten, wäre Nina am liebsten überall sonst, nur nicht hier. Denn nach der frischen Trennung von ihrem Ehemann, was zu diesem Zeitpunkt immer noch ein Skandal ist, steht ihr absolut nicht der Sinn danach, von allen neugierig beäugt zu werden. Alles, was sich in der letzten Zeit zugetragen hat, kulminiert in dieser Party und die Geschwister und ihre Verbindungen werden nach dieser Party niemals wieder so sein vorher ...

Lange bin ich um dieses Buch herumgeschlichen, weil ich vom angekündigten Plot, der schon recht klischeehaft klingt, abgeschreckt war. Aber dann hat die Farbgestaltung des Covers mich rumgekriegt, sowie die Tatsache, dass es sich um ein Taschenbuch handelt, das mich bei einem Fehlgriff nicht ganz so teuer zu stehen kommt. Von der Autorin hatte ich vorher noch nichts gelesen, aber die begeisterten Stimmen zu "Evelyn Hugo" mitbekommen.

"Malibu Rising" ist eine Geschichte, die zwar wenig Neues bietet, nicht wirklich tiefschürfende Themen aufmacht, aber gut unterhalten konnte. In dieser Familiengeschichte lernen wir auf dem Weg zur Party alle zentralen Figuren und ihre Vergangenheiten einzeln kennen, das ganze immer mit der Patina der 1980er, als Malibu noch nicht ganz so reich und verschnöselt war und rückblickend alles so einfach wirkte. Natürlich wohnen die Figuren dennoch in einer zauberhaften Villa direkt am Strand und wie in einer guten Seifenoper sind die Probleme genau so dosiert, dass man nicht den Eindruck eines sorgenfreien Lebens bekommt, dass es aber auch den Wohlfühlfaktor beim Lesen nicht zu stark beeinträchtigt. Jede Figur hat ihre ihr eigenen Probleme und es fällt dadurch leicht, ihnen zu folgen. Die Familiengeschichte wird bis hin zu den Eltern der Eltern nachvollzogen um so auch zu erzählen, wie deren Verhalten sich auf die Riva-Geschwister ausgewirkt hat. Schicksalsschläge lassen beim Lesen auch mal emotional werden, aber auch hier bleibt alles wohl dosiert, sodass man am Ende das Buch mit einem guten Gefühl zuklappt. Interessant fand ich den Berührungspunkt mit einem anderen Buch der Autorin; Carrie Soto hat hier einen kurzen Gastauftritt, was die Neugier auf dieses Buch weckt, falls man es noch nicht gelesen hat und einem "Malibu Rising" zusagt.

Dieses Buch fängt ein gewisses Sommergefühl ein und lässt sich gut weglesen, mit Verwicklungen und etwas Herzschmerz, aber auch Wohlfühlfaktor und Ablenkung von den aktuellen Problemen der Welt. Es ist genau das, was man in den Sommerurlaub mitnimmt, wenn man sich mit guter, nicht allzu herausfordernder, Unterhaltung entspannen will. Eben ein netter Sommerschmöker.

Bewertung vom 18.06.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Ein Roman um Kolonialismus und kulturelle Aneignung mit einem mythischen Felsen als stummen Zeugen

Ein weißer Fels vor der Küste Mexikos. Den Legenden der Wixárika nach ist er als die erste feste Form der Welt aus dem Meer gestiegen. Als stiller, stoischer Beobachter hat er zahllose menschliche Schicksale bezeugt.
Vier davon werden, einen Zeitraum von 250 Jahren umspannend, hier miteinander verknüpft. Da ist die Schriftstellerin, die sich im Jahr 2020 auf einer Reise durch Mexiko befindet, zu den heiligen Orten der Wixárika, um sich bei den Göttern zu bedanken. Jahre zuvor hatte sie um ein Kind gebeten. Dieses ist nun 3 Jahre alt und befindet sich mit ihr auf der Reise, die am Weißen Fels ihr Ende finden soll, genauso wie die Ehe der Schriftstellerin. Da ist 1969 ein Sänger, der in den USA ein gefeierter Star ist, sich aber eigentlich nach Ruhe sehnt und sich ungestört Alkohol und Drogen hingeben will. Am Weißen Fels hofft er auf irgendeine Erleuchtung. 1907 ist da ein Mädchen, eine Ureinwohnerin der Gegend von Arizona auf einem Deportationsschiff, für die der Weiße Fels die Unumkehrbarkeit ihrer Reise und ihres Schicksals als Sklavin bedeutet. Und schließlich ist da 1775 ein Marineleutnant auf dem Weg nach Nordamerika, um das Land zum Eigentum seines Königs zu erklären, doch am Weißen Fels verliert er den Verstand.
All diese Menschen stehen irgendwie am Abgrund. Die Schriftstellerin fürchtet den gesellschaftlichen Zusammenbruch am Vorabend der weltweiten Coronapandemie, der Sänger fürchtet seine Verhaftung und das Ende seiner Karriere, das Mädchen fürchtet den Tod auf den Sklavenplantagen und der Schiffsoffizier fürchtet die Eroberung Nordamerikas.

Die Geschichten scheinen, wenn überhaupt, nur lose verbunden. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie beispielsweise zum Thema kulturelle Aneignung klar verbunden waren. Dort segeln die einen los, das Land zu erobern, dort werden die Ureinwohner deportiert und am Ende macht man sich ihre Mythen und Legenden auch noch zu eigen, um seine eigenen kleinen Wünsche erfüllt zu bekommen. Gerade der Handlungsstrang der Schriftstellerin macht diesen Gedanken deutlich auf, inwiefern es moralisch akzeptabel ist, von den Geschichten der Wixárika und Yoeme zu profitieren. Und das trifft ja auch direkt auf das vorliegende Buch zu. Insofern lässt sich hier länger darüber nachdenken, ohne eine schnelle und einfache Lösung finden zu können. Hier gibt Anna Hope etliche Denkanregungen. Mich hat es beispielsweise dazu gebracht, stundenlang weiter zu den Yoemem und den Wixárika zu recherchieren und mit Schrecken festzustellen, dass sie auch heute noch oft auf verlorenem Posten um die Rückerlangung ihrer historischen Landgebiete kämpfen.
Stilistisch ist das Buch ungewöhnlich aufgebaut: die Geschichten werden zur Hälfte erzählt, rückschreitend in die Vergangenheit, bis schließlich der Fels selbst zu Wort kommt und die Geschichten dann wieder in der Zeit vorwärts schreitend zu Ende erzählt werden. Wer den “Wolkenatlas” von David Mitchell kennt, wird diese Erzählform wiedererkennen. Besonders gelungen fand ich auch, dass die Abbildungen zwischen den einzelnen Abschnitten den Fels immer aus einer anderen Perspektive zeigen und somit noch einmal hervorgehoben wird, dass jede und jeder ihn anders sieht.
An der ein oder anderen Stelle hätten gerade der Strang der Schriftstellerin und des Sängers noch etwas spannender sein können. Zudem fand ich die Rolle des Sängers in diesem Buch am schwierigsten einzuordnen, aber letztendlich geht es auch hier um die Ausbeutung von Ritualen, rituellen Drogen und kulturellen Eigenheiten zur eigenen Bedürfnisbefriedigung, wenn das auch deutlich abstrakter ist als in den anderen Kapiteln. Insgesamt finde ich aber, dass es der Autorin gut gelungen ist, Stimmungen einzufangen und die Geschichten plastisch zu schildern. Noch einmal intensiver wird das Buch dadurch, dass allen Geschichten zumindest ein wahrer Kern zugrunde liegt, während der Strang der Schriftstellerin sogar eng verknüpft ist mit der Autorin selbst.

Ich habe wiederholt gelesen und gehört, dass Lesende das Buch nicht mochten oder es nicht spannend fanden. Viele der Begründungen kann ich nachvollziehen. Mein Eindruck ist, dass dieses Buch stärker als andere davon lebt, was man selbst hineininterpretiert. Mich hat es berührt, inspiriert und zum Nachdenken und Nachforschen angeregt. Und so hat der Weiße Fels auch hier wieder für jeden eine ganz eigene Bedeutung.

Bewertung vom 08.03.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


gut

Der Völkermord zwischen den Zeilen

Kaan wächst behütet in Bayern auf. Das einzige, was daran erinnert, dass er türkische Wurzeln hat, ist sein Name. Seine Mutter hat hart daran gearbeitet, sich anzupassen und Kaans Erfolg zu fördern. Sein musikalisches Talent wird früh entdeckt, als Erwachsener ist er ein bekannter Musiker und Komponist. Als seine Großmutter in hohem Alter stirbt, reist Kaan das erste Mal seit Jahren wieder in die Türkei und wird nach und nach mit der Vergangenheit seiner armenisch-türkischen Familie konfrontiert, in der das Trauma des Völkermords am armenischen Volk noch spürbar ist.

Ich hatte mir so viel von diesem Buch versprochen und hatte mir schon vorab Formulierungen zurecht gelegt wie "meisterhaft und feinsinnig komponiert", was natürlich einerseits klug und literarisch klingen sollte und andererseits zeigen sollte, dass auch ich auf den Komponistenhintergrund des Autors anspielen kann. Leider kam es dann etwas anders. Das Buch beginnt zwar mit einer schockierenden Szene im frühen 20. Jahrhundert, aber dann wechselt es in die 1990er Jahre und wir begleiten das egozentrische, unsympathische Musikgenie recht lange dabei, wie er erst die Liebe seines Lebens aufreißt und sie dann über Jahre hinweg heruntermacht. Wenn es nicht im Klappentext stünde, wäre ich selbst nicht unbedingt auf das Thema Transgenerationale Weitergabe von Traumata gekommen. Mein Eindruck wäre, dass Kaan eigentlich zu wenig Zeit mit seiner armenischen Großmutter verbracht hat, um durch Sozialisierung solche Dinge weitergegeben bekommen zu haben. Aber die Symptome, die sich dafür in der Literatur und verschiedenen Berichten finden, sind so unspezifisch, dass auch Kaans Probleme darunter fallen könnten. Ansonsten ist Kaan als Protagonist einfach nur umsympathisch, selbstabsorbiert, selbstverliebt und unreif.

Das Buch kommt sehr künstlerisch und verkopft daher, sodass man vieles über den Völkermord nur zwischen den Zeilen erzählt bekommt. Hauptsächlich dreht sich das Buch um den umsypathischen Protagonisten, ohne dass dieser jedoch seine möglichen Probleme reflektiert. Es werden Situationen geschildert, ohne dass sie eingeordnet werden (können) und teilweise driftet die Geschichte sogar ins Mystische ab. Die Geschichte selbst ist sehr fragmentiert und springt zwischen verschiedenen Zeiten und Perspektiven hin und her. Dies war mitunter verwirrend und es war schwierig, die verschiedenen Teile der Geschichte zu einem zusammenhängenden Ganzen zu verknüpfen. Der Schreibstil ist recht poetisch mit Verweisen auf die Musik, dies verleiht dem Buch eine gewisse Schönheit, aber es führt auch dazu, dass man sich beim Lesen von der Brutalität der Ereignisse entfremdet fühlt.

Ich möchte dem Autor gar nicht seine autobiographischen Bezüge absprechen oder abwerten. Aber ich kann unzufrieden mit diesem Buch sein. Ich habe es in die Hand genommen mit dem Ziel mich von der schrecklichen Geschichte vieler Menschen berühren zu lassen und mehr über diesen Völkermord zu lernen. Doch beides hat dieses Buch bei mir verfehlt. Insgesamt ist das Buch in seinem Stil künstlerisch, aber aufgrund seiner Fragmentierung und seines unsympathischen Protagonisten war es für mich schwer zugänglich. Es ist sicherlich ein wichtiges Werk, das den Völkermord an den Armeniern auf eine neue und kreative Weise behandelt, aber es ist nicht unbedingt für jeden Leser oder jede Leserin geeignet.

Bewertung vom 08.03.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


gut

Wenig sibirische Gefangenschaft, viel deutsche ländliche Einöde

1945: Nachdem die Familie über Generationen in Galizien gelebt hat, wurden die Ambachers 1939 zunächst von den Nazis ins Wartheland umgesiedelt. Nun, nach Ende des Krieges, werden der 10-jährige Josef Ambacher, sein kleiner Bruder, seine Mutter, Tante und Großeltern nach Sibirien deportiert. Auf dem Weg stirbt bereits sein kleiner Bruder und das wird nicht der einzige Verlust bleiben. Die Ambachers sind nur einige der Zivilverschleppten.

1990: Leila stromert mit ihrem Freund Arnold durch das niedersächsische Örtchen Mühlheide und die umliegende Natur. Fasziniert lauscht sie immer wieder den Geschichten ihres Vaters aus seiner Kindheit und merkt dabei immer wieder deutlich, dass sie anders sind als viele der Mühlheidener. Als 1990 mit dem Ende der Sowjetunion viele Russlanddeutsche, die Neuankömmlinge, nach Mühlheide verschlagen werden, ist Josef Ambacher ihr Anker und Leila muss sich neben dem Erwachsenwerden auch damit auseinandersetzen, was diese Menschen, aber auch ihr Vater, in der Vergangenheit erlebt haben und wie sie alle versuchen, neue Wurzeln zu schlagen.

Auf dieses Buch habe ich mich sehr gefreut und ich hatte große Erwartungen. Generell finde ich die Idee gut, zwei Kindheiten zu unterschiedlichen Zeiten parallel laufen zu lassen, um die völlig verschiedenen Lebensbedingungen darzustellen. Josef, der in der kasachischen Steppe wortwörtlich mit seiner Familie ums Überleben kämpft vs. Leila, die in Mühlheide gut versorgt ist, aber als Kind von Russlanddeutschen eben doch immer wieder ausgegrenzt wird. Letztlich lebt in ihr das Erbe von Josefs Kindheitserfahrungen weiter. Trotzdem war mir das zu wenig. Die Verbindungen waren mir zu schwach verknüpft, dafür wurden für meinen Geschmack unnötig lang viele von Leilas mitunter recht trivialen Erlebnissen ausgewalzt. Die Perspektive wechselte regelmäßig zurück zu Josef in Sibirien, jedoch stand der Umfang der beiden Handlungsstränge in keinem ausgeglichenen Verhältnis. Die Szenen aus Sibirien waren mir zu kurz und immer, wenn es hier spannend wurde, wechselte die Handlung zurück in das gemächliche Mühlheide. Da ich bislang so wenig wusste über die Zivilverschleppung, hätte ich gern deutlich mehr darüber erfahren. Auch hätten die Erfahrungen der Familie Ambacher in Sibirien insgesamt deutlicher beleuchtet werden können. Mitunter bekam ich den Eindruck, für Josef war es weniger traumatisierend und mehr ein großes Abenteuer, obwohl eigentlich überall Mangel herrschte. Auch konnte ich mit zu wenig Hintergrundwissen, das in dem Buch auch nicht vermittelt wurde, die Handlung nicht gut einordnen. Glücklicherweise bin ich während des Lesens dieses Buches auf eine TV-Dokumentation über Zivilverschleppte gestoßen, die mir erst einmal deutlich gemacht hat, dass die Ambachers wohl zu Adenauers Rückgeführten gehört haben müssen, während viele andere erst 1990 aus der Gefangenschaft entlassen wurden in ein Land, dem sie zwar des Passes zufolge angehörten, das aber schon ihre Vorfahren gar nicht mehr kannten, weil seit Jahrhunderten in Polen, Russland oder der Ukraine siedelten. Erst mit diesem Zusatzwissen wurde auch vieles aus dem Mühlheide-Handlungsstrang nachvollziehbarer. Insgesamt war ich von diesem Buch also eher enttäuscht und hätte mir mehr Sibirien und weniger deutsche ländliche Einöde erhofft. Auch wenn hier wichtige und bislang wenig thematisierte historische Ereignisse beleuchtet werden, konnte mich das Buch emotional leider nur wenig erreichen. Nebenstränge wie die zu einem alten SS-Offizier oder lebenslang gehegte Schuldgefühle konnten weder die Spannung noch meine emotionale Beteiligung am Geschehen retten. Ich bleibe trotz einiger Denkanstöße insgesamt eher verwirrt und unzufrieden zurück.

Bewertung vom 26.01.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

Familiengeschichte, anhand derer die Geschichte der Ukraine begreifbar wird

Als Russland im Jahr 2014 die Krim annektiert und die Seperatisten im Osten der Ukraine unterstützt, gerät bei Vika etwas ins Wanken. Als Jugendliche mit ihrer Mutter zusammen in die USA ausgewandert, entwickelt sich jetzt ein dringendes Bedürfnis, ihr Heimatland besser kennenzulernen und die Situation zu verstehen. Da hilft es nicht gerade, dass sie sich mit ihrem Onkel überwirft, der auf der russischen Seite steht. Und dann stößt sie bei ihrer Suche nach der eigenen Geschichte auf den Namen Nikodim, ein Großonkel, der in den 1930ern verschwand und über den in der Familie nicht gesprochen wird seitdem.

"Wir sind der Hinterhof eines Landes, das sich immer noch für ein Kaiserreich hält. bis Russland von seinen imperialistischen Ansprüchen ablässt, werden wir hin- und hergerissen werden." (S. 314)

Victoria Belim, im Ukrainischen auch Vika genannt, erzählt ihre Familiengeschichte auf charmante Art. Natürlich sind die Themen mitunter sehr ernst. Zu Beginn entzweit sie sich mit ihrem Onkel, ist völlig schockiert von dessen Ansichten und Einstellungen zu diesem Krieg. Und dabei handelt es sich gar nicht um den aktuellen russischen Angriffskrieg, denn zu diesem Zeitpunkt war das Buch bereits fertig. Dennoch wirkt alles prophetisch, denn die Risse, die durch Vikas Familie gehen, dürften seit fast einem Jahr durch noch mehr Familien gehen. Doch nicht nur die Krim-Krise wirft einen Schatten auf die Familie. Je mehr Vika in die Vergangenheit ihrer Familie vordringt, desto deutlicher wird, dass jede Generation, die sie noch kennengelernt hat, Kriege oder politische Konflikte miterlebt hat. Nicht selten haben sich Familienmitglieder auch aufgelehnt gegen die jeweiligen Besatzer. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Hahnenhaus, das durch zwei rote Sirenen flankiert wird und in dem Nikodim verschwand und nie mehr zurückkehrte. Und auch später machten Familienangehörige mit dem Haus Bekanntschaft, sodass bis in die heutige Zeit in der Familie Angst vor diesem Haus herrscht.
Und dennoch hat die Geschichte viele charmante oder sogar skurrile Momente. Vika gibt ihre Suche nach Nikodim zwischenzeitlich sogar auf, als sie nicht weiterkommt. Dann konzentriert sich die Erzählung auf ihre Reisen durch die Ukraine und mitunter skurrile Fahrten über das Land zusammen mit ihrer eher mürrischen Großmutter. Dabei lernt man ein Land kennen, in dem die Menschen gastfreundlich gegenüber Fremden sind, jeder irgendwen kennt, der hilfreich sein könnte oder überraschende Familienbande auftauchen. Die Autorin nimmt uns mit in eine spannende Kultur, zeigt Bräuche und kulturelles Erbe und streut immer wieder auch historische Entwicklungen mit ein.
Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Geschichte der Ukraine keine einfache ist, dass die Beziehung zu Russland in der Vergangenheit komplex und zwiespältig war und dass noch viele Einflüsse der Sowjetunion im Alltag und in den Köpfen der Menschen zum Zeitpunkt des Buches vorhanden sind. Aber vor allem wird deutlich, dass die Ukrainer in den letzten 100 Jahren und darüber hinaus viel Leid von ihrem Nachbarn erfahren haben und oft, teilweise unter hohen Verlusten, um ihre Souveränität und Identität kämpfen mussten. Leider scheint sich die Geschichte nun zu wiederholen.
Auch wenn das Buch, das die Familiengeschichte der Autorin erzählt, dementsprechend nicht immer einer herkömmlichen Dramaturgie folgt und dadurch einige ruhigere Passagen enthält, habe ich doch einen wertvollen und lehrreichen Einblick in eine kulturelle Identität erhalten, zu der ich dringend Zugang brauchte, um die aktuellen weltpolitischen Ereignisse besser zu verstehen. Das ist der Autorin meiner Meinung nach mit diesem Buch sehr gut und auf sehr menschliche Weise gelungen.

Bewertung vom 27.12.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


ausgezeichnet

Ein aufwühlender Roman über die Diskriminierung der Sámi

Elsa ist Sámi und 9 Jahre alt, als sie den Mord an ihrem Rentier beobachtet. Völlig verängstigt schweigt sie über das, was sie gesehen hat. So wird dieser Vorfall zu den anderen Anzeigen gelegt und von der Polizei ignoriert. Das Rentier gilt ab diesem Zeitpunkt als gestohlen. Jahrelang lebt Elsa in Angst und beobachtet auch bei den erwachsenen Sámi Angst und Frustration, ob der wiederholten Diskriminierungen durch die schwedischen Mitmenschen und die staatlichen Einrichtungen. Als sie älter wird und die Rentierherden immer stärker bedroht sind, findet Elsa den Mut, ihre Stimme zu erheben. Doch damit bringt sie nicht nur die schwedischen Dorfbewohner und -bewohnerinnen gegen sich auf ...

Dieses Buch hat mich absolut gefesselt und unfassbar wütend gemacht. Es rückt ein Thema ins Zentrum, dessen wir uns in Zentraleuropa gar nicht so bewusst sind. Wir kennen die Geschichten der First Nations beispielsweise in Kanada aus der Presse. Aber dass auch in Europa indigene Urvölker sehr lange unterdrückt wurden und immer noch werden ist vielen sicherlich nicht bewusst. Eindringlich erzählt die Geschichte vom rauen Leben der Sámi, die vor allem von der Rentierzucht leben. Dass die Herden besonderem Schutz unterliegen und das auch mit Einschränkungen für die anderen Dorfbewohner:innen einhergeht, bringt diese gegen die Rentierherden auf. Auch Regelungen, dass die Sámi für Verluste entschädigt werden, schüren Neid und Missgunst. Die negative Stimmung ist in diesem Buch an vielen Stellen nahezu mit Händen greifbar. Elsas Sprachlosigkeit ist so eingängig beschrieben wie die ohnmächtige Wut der restlichen Familie, dass diese Wut auf die Ungerechtigkeiten, die der Familie durch andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft widerfahren, ansteckend ist. Auch wird deutlich, wie sehr vor allem die jungen Generationen unter der Diskriminierung leiden, Depressionen und Alkoholsucht sind weit verbreitet. Die Untätigkeit der Polizei erzeugt ein tiefgreifendes Gefühl von Hilflosigkeit. Und neben der Gefahr durch die Jagd auf die Rentiere erschwert auch der Klimawandel zunehmend das Leben der Rentierhalter:innen. Dies wird nicht vordergründig und moralisierend behandelt, sondern zeigt sich vor allem in den Sorgen der Alten und den Auswirkungen auf die Tiere selbst.

Auch wenn mir das Cover mir sehr gut gefällt, finde ich, dass sowohl Cover als auch Titel mitunter falsche Erwartungen wecken. Die Natur wirkt romantisch, der Titel klingt nach einem Wohlfühlbuch. Doch das ist es wahrlich nicht und es hebt die Stimmung an dunklen Wintertagen eher wenig. Die Grundstimmung ist eher schwermütig und melancholisch. Die Natur- und Landschaftsbeschreibungen sind gut gelungen und schaffen eine Atmosphäre von verschneiter Einöde in einem Dorf auf dem schwedischen Land. Dennoch wären der Originaltitel ("Gestohlen") und das Originalcover, die beide auch für die englischsprachige Ausgabe übernommen wurden, passender gewesen.

Dieser Roman widmet sich einem wichtigen Thema und er vermittelt viel über die idigene Kultur der Sámi. Die Autorin pflegt gekonnt die Sitten und Bräuche der Sámi in die Geschichte ein und zeigt auf, dass auch innerhalb der Gemeinschaft Zerrissenheit herrscht zwischen traditionelleren Gruppen und denen, die der Modernität gern Rechnung tragen würden. Ich finde diesen Roman sehr gelungen, sehr empfehlenswert und eine absolute Bereicherung für den eigenen Horizont.

Bewertung vom 09.10.2022
Dieser Beitrag wurde entfernt
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


weniger gut

So viel verschenktes Potential

Kayleigh ist pleite und auf der Suche nach gut bezahlter Arbeit. Der Job bei HEXA kommt ihr daher gelegen. Hier muss sie den Content der Plattform prüfen, der alle Ausprägungen von Hassrede bis schlimmste Gewalt abdeckt. Die Arbeitsbedingungen sind hart, die Richtlinien so grenzwertig, dass noch genügend verstörendes Material online geht, doch Kayleigh kann sich gut davon abgrenzen. Mit ihrer Beziehung zu Sigrid wäre das Leben perfekt. Doch der Job zeigt Erosionserscheinungen bei den Kolleg:innen, zu längst zu Kayleighs Clique geworden sind, und schließlich auch bei Sigrid ... Kann Kayleigh ihr Privatleben noch ausreichend vom Job abschirmen oder hat er auch sie längst korrumpiert?

Zugegeben, der Titel hat mich jedes Mal irrtiert. Ob er nun auf englischen Seiten stand ("We had to remove this post") oder auf deutschen ("Dieser Beitrag wurde entfernt"), jedes Mal dachte ich zunächst reflexhaft, dass da an der Stelle wirklich etwas gelöscht wurde und aus welchem Grund das denn getan worden sein könnte. Also Gratulation an die Verlage, der Titel ist wirklich sehr gut gewählt.

Über den Inhalt kann ich leider aber nicht so viel Schmeichelhaftes sagen. Das Buch ist sehr kurz, eigentlich eher eine Novelle. Dementsprechend hat man es auch schnell durchgelesen und ist weniger versucht, es abzubrechen. Außerdem hatte ich bis zum Schluss immer noch die Hoffnung, dass da doch noch etwas mehr kommt. Mehr Substanz, mehr Gefühl, mehr Mensch hinter der Content Moderation. Ich beschäftige mich viel mit dem Thema und ich habe auch die zitierten Presseberichte alle gelesen, sodass ich sagen kann, dass dieses Buch aus kaum mehr besteht. Sogar die Beispiele kamen mir mitunter bekannt vor. Lediglich die handelnden Personen und ihre Liebesbeziehungen waren ein Produkt der Autorin. Wenn es jedoch zu den Inhalten kam, mit denen die Content Moderators konfrontiert waren und was dies bei ihnen auslöste, ging dieser Roman leider nicht über die Presseberichte hinaus. Und gerade hierin lag so viel Potential. Endlich hätte man die menschliche Seite dieser Arbeit beleuchten können, der moralische Konflikt und die Abstumpfung und es wäre keine rein sachliche, journalistische Darstellung geblieben. Aber genau hierhin wagte sich das Buch leider nicht. Zurückgelassen hat mich das Buch daher mit dem Gefühl, nichts neues gelesen zu haben, sondern fast alles davon schon aus Presseartikeln und Reportagen zu kennen. Das fand ich sehr schade, da ich mir deutlich mehr von dem Buch versprochen hatte.