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anushka

Bewertungen

Insgesamt 142 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


sehr gut

Frauenschicksale über die Zeit hinweg, atmosphärisch, aber nicht immer spannend

Nina braucht eine Auszeit. Die Stelle als Assistenzärztin hat sie völlig ausgebrannt. Aus einem Impuls heraus schafft sie sich einen Hund an und mietet für 4 Wochen eine Ferienhütte im Stettiner Haff. Bei einem Waldspaziergang gräbt der Hund menschliche Knochen aus und Nina beginnt, ihre Umgebung mit anderen Augen zu sehen.
1979 lebt Siggi mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Säuglingsalter im Stettiner Haff. Es ist die Zeit der DDR. Hat sich Siggi bislang nicht viel dabei gedacht und sich immer wieder angepasst, beginnt sie nun mit einer Freundin gemeinsam kleine Freiheiten zu genießen, die sie das politische System in Frage stellen lassen.
1936 wird die 14jährige Gine zum Landjahr ins Stettiner Haff geschickt. Das ist nicht etwa eine Belohnung, denn Gine wird wegen ihrer künstlerischen Eltern zur Umerziehung geschickt. Trotz seiner schönen Natur hält das Haff viel Dunkles für Gine bereit.

"Unter dem Moor" verbindet die Geschichten dreier Frauen über verschiedene Zeiten und Gesellschaftssysteme hinweg. Dabei begehren alle in der ein oder anderen Form gegen ihre Lebensumstände auf. Relativ schnell baut der Erzählstil eine eher düstere Atmosphäre auf und die Autorin weiß durch Details wie ein Tellereisen und das Zucken eines Hundeohrs eine bedrohliche Stimmung aufzubauen. Die Naturbeschreibungen entschleunigen, aber tragen auch gut zur Atmosphäre von Ninas Handlungsstrang bei. Erst nach und nach zeigen sich die Zusammenhänge, die man zwischenzeitlich vielleicht anders angenommen hat. Hier zeigt sich, wie Menschen und Schicksale über die Zeit hinweg verbunden sein können. Auch wenn der Stil atmosphärisch und bildhaft ist, die Geschichten auf den einzelnen Zeitebenen interessant und die Verknüpfungen gut gelungen sind, hat mich das Tempo nicht immer bei der Stange halten können. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und vielschichtig, mir hat es aber wiederholt an Spannung gefehlt. Bei "Unter dem Moor" handelt es sich entgegen meiner Erwartung weniger um einen Kriminalroman als vielmehr um einen belletristischen Roman.

Bewertung vom 25.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Roman mit mehreren Bedeutungsebenen und viel Interpretationsspielraum

Sam und Elena leben auf San Juan Island im Bundesstaat Washington, an der Grenze zu Kanada. Wo vor allem Besserverdienende ihren Urlaub machen, bieten sich für die Schwestern abseits des Tourismus wenig Verdienstmöglichkeiten oder Zukunftsperspektiven. So arbeitet Sam auf einer Fähre und Elena im örtlichen Golfclub. Beide hängen auf der Insel fest, da sie seit über 10 Jahren die schwer kranke Mutter pflegen. Als Sam eines Abends beobachtet, wie ein Bär zu ihrer Insel schwimmt, ändert sich für die beiden Schwestern alles. Die eine Schwester entwickelt Furcht, die andere eine Obsession.

Ich bin mit großen Erwartungen an diesen Roman herangegangen. Ich mag natur- und tierbezogene Romane und war gespannt auf die Geschichte um diesen Bären. Das Buch ist jedoch so ganz anders. Es geht nicht wirklich um den Bären und seine Lebensweise, obwohl er in der Geschichte eine zentrale Rolle übernimmt. Der Bär ist aber vor allem Projektionsfläche für die innerfamiliären Konflikte. Für Elena stellt er einen Glücksbringer in ihren tristen Leben dar und verkörpert alles Gute, was den Schwestern von jetzt an passieren wird. Im Umgang mit dem Bären zeigt sich symbolisch der Umgang der Menschen mit der Wildness: entweder ein Versuch, aus einem wilden Tier ein Haustier zu machen oder eine übertriebene Angst und Verteufelung als Bestie und damit ein Zerstörungswunsch. Zwischen den Szenen der Familiengeschichte schimmert zudem einiges an Gesellschaftskritik durch an einer Gesellschaft, in der die Krankheit eines Familienmitglieds den finanziellen Ruin der gesamten Familie bedeutet. Sam und Elena müssen schon früh die finanzielle Versorgung übernehmen, sodass ihnen wenig Möglichkeiten bleiben, eine Ausbildung oder sogar ein Studium aufzunehmen. Stattdessen türmt sich der Schuldenberg immer höher, nicht zuletzt, weil durch die Coronapandemie der Tourismus zum erliegen kam. Nachdem die Geschichte lange Zeit vor sich hin dümpelt und die Natur- und Tierbeschreibungen eher oberfächlich bleiben (und mich dadurch auch nicht fesseln konnten), überschlagen sich am Ende die Ereignisse und man hat das Gefühl, an der ein oder anderen Stelle wesentliche Hinweise verpasst zu haben. Mein zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Buch stammt aber auch von den Figurbeschreibungen und -entwicklungen. Sam wird immer egoistischer und kindischer, dabei soll sie Ende zwanzig sein. Gleichzeitig ist sie sehr bedürftig und abhängig von ihrer Schwester. Elena hingegen hütet ihre eigenen Geheimnisse, die die Beziehung der Schwestern belasten. Letztlich war mir keine der Figuren wirklich sympathisch oder boten Identifikationsmöglichkeiten. "Cascadia" ist deutlich angelehnt an das Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot", ist aber keine direkte Neuerzählung. Ich denke, dieses Buch ist sehr gut geeignet für Lesekreise, es bietet viele Szenen zum diskutieren und interpretieren, was hier nicht möglich ist, ohne zu spoilern.

Bewertung vom 11.07.2024
Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1
Nore, Aslak

Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1


sehr gut

Weniger Thriller, mehr Familienroman

Die Falcks sind keine harmonische Familie. Da gibt es den Zweig um Olav Falck, der sich in Norwegen ein Imperium aufgebaut hat. Und dann gibt es da den verarmten Familienzweig in Bergen um den humanistischen Arzt Hans Falck, der fast schon ein Engel der Verfolgten in Krisengebieten, vor allem im Nahen Osten, ist. Als Vera Falck, die Großmutter, stirbt, ist das Testament nicht auffindbar. Es gibt Gerüchte, dass sie es kurz vor ihrem Tod geändert habe. Könnte sie den Bergenser Familienzweig bedacht haben? Sasha wird von ihrem Vater Olav beauftragt, das Testament zu finden. Dabei kommt ans Licht, dass Vera, eine bekannte Schriftstellerin und Überlebende eines Schiffuntergangs, Jahrzehnte zuvor ihre Memoiren geschrieben hat, die jedoch vor der Veröffentlichung vom Staatsschutz beschlagnahmt wurden. Sasha ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, selbst wenn sie sich dafür gegen ihren Vater auflehnen muss ...

Dieses Buch wird als literarischer Thriller ausgewiesen. Ich bin mir nicht sicher, was das sein soll. Für mich hat das Buch etwas zu wenig Spannung, um als Thriller durchzugehen. Es ist eher ein Familienroman, der weitere Elemente enthält. Neben der Lebensgeschichte von Vera, die im Zentrum steht, spielen auch der norwegische Geheimdienst und der ein oder andere Söldner eine Rolle. Außerdem ist die Familiengeschichte eng verbunden mit dem norwegischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn es nicht die Spannung eines Thrillers hatte, war das Buch dennoch fesselnd, mit der ein oder anderen Überraschung. Es wird eine Vielzahl an Themen aufgemacht, die dennoch recht gut zusammenpassen. Neben dem historisch belegten Untergang der Prinsesse Ragnhild geht es um Kollaboration mit und Widerstand gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg, Fremdkämpfer in Syrien und Kurdistan, aber auch die unbändige Macht und den uneingeschränkten Einfluss von Reichtum. All das verwebt sich zu einem Gesamtbild, wobei die Rolle einzelner Personen noch nicht ganz durchschaubar ist und dadurch offensichtlich noch Raum bleibt für die geplanten Fortsetzungen. Mich hat das Buch gut unterhalten und mit den Figuren ließ sich mitleiden und mitfiebern. Garniert wurde das Ganze mit Naturbeschreibungen der norwegischen Küste und der Lofoten. Das Buch ist auf jeden Fall eine Empfehlung für Norwegen-Fans, aber auch für Fans von Familiengeschichten mit historischen Bezügen. Ich bin ausreichend gespannt zu erfahren, wie es mit den Falcks weitergeht, um auch den nächsten Band lesen zu wollen.

Bewertung vom 13.06.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Kleines Buch mit großer Wucht

Jimmy verbringt die dröge Zeit der Sommerferien mit Sammeln und Suchen. Er versteht sich als ehrlicher Finder und sucht die Automaten des Ortes nach vergessenem Wechselgeld ab, damit er sich damit diverse Chipssorten kaufen kann, in denen seine heißgeliebten Flippos drin sind. Er hat eine wichtige Mission, denn er sammelt nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Freund, dessen Eltern sich nur die No-Name-Chips leisten können. Denn Jimmys Freund Tristan ist eines von acht Kindern der albanischen geflüchteten Familie Ibrahimi. Als der Asylantrag der Ibrahimis abgelehnt und sie zur Ausreise aufgefordert werden, fassen die Kinder einen Plan ...

Diese Geschichte mit ihren nicht einmal 130 Seiten zieht einen mitten hinein in die tragische Geschichte einer ungleichen Freundschaft. Jimmy war Außenseiter bis Tristan in die Klasse kam. Tristan konnte kein Wort der neuen Sprache und kannte sich in Belgien nicht aus. So gibt diese Freundschaft den beiden Kindern unterschiedliche Dinge und mit unterschiedlichen Motiven sind sie nun Teil dieses Plans, der die Abschiebung der Ibrahimis verhindern soll. Eindringlich zeigt die Autorin in kleinen, wenig voyeuristischen oder sensationsgierigen Szenen, wie Krieg und Flucht alle Mitglieder der Familie geprägt haben. Aber auch die unbändige Hilfsbereitschaft des Ortes wird spürbar, von einer Bevölkerung, die die Abschiebung nicht hinnehmen will. Vor allem Jimmys Innenleben wird hier beleuchtet und die Hoffnungen, die er in die Freundschaft steckt, denn viel anderes hat er nicht. Durch ihn erlebt man die Familie und mit welchen Traumata sie zu kämpfen haben. Eine Geschichte, die ganz nah dran ist an der Lebensrealität zahlreicher Familien in Europa. Für mich ist es aber auch eine Geschichte, die durchaus hätte länger sein können. Sie verfehlt ihre emotionale Wirkung nicht, hätte aber noch stärker wirken und einen noch tiefer hineinziehen können. Gerade das sehr abgekürzte Ende lässt die Geschichte noch etwas skizzenhaft wirken. Insgesamt zeigt die Autorin aber ein weiteres Mal, dass sie sehr gut schreiben und ein Thema tiefgründig und menschlich vermitteln kann.

Bewertung vom 11.06.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Die Geschichte der Mütter

Issa ist auf dem Weg nach Kamerun. Eigentlich will sie da nicht hin, aber ihre Mutter hat ihr stark zugesetzt, dass sie, jetzt wo sie schwanger ist, noch die traditionellen Rituale vollziehen muss. Also reist Issa zu ihrer Verwandschaft, für die sie immer zu weiß ist, während sie in Deutschland immer zu schwarz bleibt. Und so wird dieser Familienbesuch unerwartet zu einer Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Platz im Leben.

"Issa" ist ein eindrucksvoller Debütroman, der von mehreren Frauengenerationen aus Issas Familie handelt, die jedoch beispielhaft für viele Familien stehen können. Während Issa die Merkwürdigkeiten über sich ergehen lässt, denen ihre Familie noch anhängt und denen sie mit ihrem westlichen Blick wenig abgewinnen kann, springt die Geschichte regelmäßig in der Zeit zurück zu den vorangegangenen Muttergenerationen, beginnend bei Issas Ururgroßmutter im Jahr 1906, als Kamerun unter der Kolonialherrschaft Deutschlands stand. Wie sich dieser Kolonialismus bis heute auswirkt, erfährt man Stück für Stück durch die Geschichte der Mütter und Großmütter.
Mit Humor und Ironie kommentiert Issa zunächst die verschiedenen Rituale und Weltanschauungen, doch zunehmend lässt sie sich darauf ein und beginnt zu verstehen. Parallel lernen auch die Lesenden sehr viel über Kamerun, seine vielen Völker und Clans, und die Kultur. Im Vordergrund steht dabei das Schicksal der Frauen, die wiederholt als Eigentum betrachtet und behandelt werden, sich oft den Mann mit anderen Ehefrauen teilen müssen, viel Leid erfahren und über ihr Leben hinweg unglaubliche Stärke zeigen. Nicht immer gelang es mir dabei, den einzelnen Frauen genau zu folgen, da einige Schicksale deutlicher im Fokus stehen und andere schneller und kürzer abgehandelt werden. Das machte es mir nicht immer einfach, die Schicksale auseinander zu halten. Dennoch sind mir während des Lesens die Figuren ans Herz gewachsen, ich habe mitgelitten und mitgefiebert und bin ich eine für mich völlig fremde Welt eingetaucht. Mit "Issa" ist der Autorin ein grandioses Buch über Identitätssuche, Rassismus und Kolonialismus gelungen, das einem eine fremde Kultur und völlig andere Lebenslinien erfahrbar macht.

Bewertung vom 11.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


ausgezeichnet

Eindrucksvolle Schnitzeljagd durch ein von Bürgerkrieg gebeuteltes Land

Saba ist noch ein Kind als er mit seinem Vater und seinem zwei Jahre älteren Bruder vor dem Bürgerkrieg in Georgien nach England flieht. Doch das Geld reicht nicht für die Mutter. Jahrelang müht sich der Vater ab, doch es kommt nie genug Geld zusammen, um die Mutter nachzuholen. Weitere Jahre später macht sich der Vater auf die Suche nach der Mutter und reist nach Georgien. Als seine Kommunikation abbricht, reist der ältere Bruder Sandro ebenfalls nach Georgien, doch auch seine Lebenszeichen bleiben aus. Sowohl Vater als auch Bruder haben eine Brotkrumenspur hinterlassen und so entschließt sich Saba, trotz Warnungen dieser Spur in Georgien folgen.

Nicht nur die Brotkrumenspur verbindet diese Geschichte mit der Märchenwelt. Saba und Sandro lieben Literatur und ihre Kindheitserinnerungen bestehen unter anderem aus einer Mutter, die ihnen Märchen erzählt. So sind auch die Hinweise, die Sandro hinterlässt, immer wieder Märchen entlehnt und führen Saba auf eine Schnitzeljagd durch das unbekannte Heimatland. Auch die Stimmung der Geschichte ähnelt oft einem düsteren Märchenwald, wenn Saba beispielsweise durch den dunkelnden Stadtpark läuft, während die Sicherheitsbehörden die nach einer Flut entlaufenen Zootiere suchen, unter denen sich auch Wölfe und Tiger befinden. Und dennoch bleibt die Stimmung nicht durchweg düster, sondern vermittelt oft auch Leichtigkeit und Lesespaß. Saba trifft bereits bei seiner Ankunft am Flughafen in Tbilissi auf den Taxifahrer Nodar, zu dem sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die beiden frotzeln miteinander herum und vermitteln dadurch eine eigene Art von Humor. Dabei verkörpert Nodar die gute georgische Seele und das Sprichwort "Ein Gast ist ein Geschenk". Über Nodar erfährt man beim Lesen viel über die Gepflogenheiten in Georgien und dadurch, dass Saba das Land so jung verlassen hat, muten Nodars Erklärungen auch nicht konstruiert an.
Das Buch hat jedoch auch eine sehr ernste Seite, denn Georgien ist geprägt von einem Bürgerkrieg und die überwunden geglaubten sowjetischen Machtstrukturen bestehen fort, der Machtapparat ist durchzogen von Korruption, Einschüchterung und Gewalt. Auch der anhaltende Konflikt mit Russland, welcher dem Buch eine aktuellpolitische Dimension gibt, klingt immer wieder an, besonders im Alltag der Figuren. Fast alle haben im Bürgerkrieg Verluste erlitten, so bekommt auch Nodar abseits der Clownereien eine tiefere, traurige Dimension. Auch Saba wird durch die Geister seiner Verlorenen, die regelmäßig und teilweise zu den ungünstigsten Zeitpunkten mit ihm sprechen, immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Einige davon sind lauter als andere. So hat das Buch passend zum Märchenthema noch Elemente magischen Realismus`.
Das Buch wechselt hin und her zwischen leichten und teils skurrilen Momenten, Spannung und berührenden Emotionen. Saba muss die Leute überlisten, die hinter seinem Vater, seinem Bruder und nun auch ihm her sind. Dadurch bekommt das Buch Züge eines Schelmenromans. Am Ende verfliegt diese Leichtigkeit und die Nachwirkungen des Bürgerkriegs kommen noch einmal eindringlich zur Geltung, wenn Saba in das immer noch umkämpfte Ossetien reist.

Mit diesem Buch bekommt man einen unterhaltsamen, berührenden und nachdenklich machenden Eindruck eines Landes, von dem man abseits der tagesaktuellen Nachrichten wenig weiß und welches noch immer von Konflikten mit Russland geprägt und teilweise traumatisiert ist. Vermittelt wird dies über einen sympathischen Protagonisten, der ähnlich wenig weiß über sein Herkunftsland und mit dem man auf eine eindrucksvolle Reise in einem klapprigen Wolga geht, die ein großes Lesevergnügen und viel Verständnis beschert.

Bewertung vom 19.05.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Packendes moralisches Gedankenspiel

Hunter White, welch programmatischer Name, ist ein reicher Amerikaner, der nach Afrika reist, um das letzte Tier seiner Big Five Liste zu erlegen, ein männliches Nashorn. Trotz akribischer Vorbereitung und Vorsichtsmaßnahmen kommen ihm Wilderer zuvor. Hunter ist frustriert, hat er seiner Frau doch eine tolle Trophäe versprochen. Da bietet ihm sein Freund und Organisator der Jagd etwas völlig neues an. Ob er schon einmal von den Big Six gehört habe? Wie wird Hunter sich entscheiden?

Der vorliegende Roman testet Grenzen aus. Ich habe mich etwas vor dem Lesen gefürchtet, da man ja schon erahnen kann, was es mit den Big Six auf sich hat. Dies hätte durchaus in einem platten brutalen Thriller enden können, doch die Autorin behält den Anspruch und das Romangenre die gesamte Zeit über bei. Die Naturbeschreibungen sind grandios und über Strecken liest sich das Buch wie ein Abenteuerroman. Die Szenerie wirkt realistisch und sehr bildhaft. Das Leben in Afrika ist nahbar und faszinierend, doch neben weiter Landschaft und exotischer Tierwelt zeigt der Roman auch die Mechanismen und Korruption auf. Das wichtigste an diesem Roman ist allerdings die Erzählperspektive. Die Autorin versetzt einen beim Lesen in eine Perspektive, aus der man an vielen Stellen am liebsten ausbrechen möchte, weil sie sich oft nicht mit den eigenen Moralvorstellungen deckt. Schoeters zeigt die moralische Akrobatik auf, die reiche (weiße) Hobbyjäger betreiben, um ihr Handeln zu rechtfertigen. So redet sich auch Hunter sein privilegiertes Treiben mit dem Artenschutz schön. Das löst beim Lesen durchaus Widerstände aus, die jedoch durch wiederholte Widersprüche in Hunters Argumentationen befriedigt werden, ohne auch nur ansatzweise moralisierend zu wirken. Dennoch möchte man oft genug in das Buch hineingreifen und Hunter durchschütteln. Glaubt er ernsthaft, dass die Jagd fair sei; nur er gegen das Großwild, dass in einem Augenblick des Blickaustauschs angeblich die Jagd und die eigene Niederlage anerkenne? Während gleichzeitig noch weitere Männer im Hintergrund stehen, die bei einem unerwarteten Angriff Hunter dann doch durch einen Schuss vor dem Tod bewahren? Die Autorin erzeugt viel Mitgefühl mit der Beute durch die Schilderung von deren Alltag und Gewohnheiten.

Mich hat dieses Buch absolut begeistert. Ich mag Naturromane und an Naturszenen bekommt man hier viel geboten. Zudem wird hier ein hochaktuelles Thema verhandelt und ethisch beleuchtet, ohne mit dem Holzhammer daherzukommen. Man wird mit den Argumenten und den logischen Lücken in den Argumentationsketten vertraut gemacht durch den Protagonisten, dem man unfreiwillig folgen muss und der ein skrupelloser, privilegierter Unsympath ist. Zudem war das Buch meiner Meinung nach sehr spannend. Ich habe dieses packende moralische Gedankenspiel beim Lesen sehr genossen und zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder den Eindruck gehabt, dass Literatur nicht nur einem Selbstzweck dient, sondern Lesende konfrontieren und herausfordern kann. Absolut lesenswert.

Bewertung vom 15.05.2024
Der Wind kennt meinen Namen
Allende, Isabel

Der Wind kennt meinen Namen


gut

Wichtiges Thema, aber nicht das stärkste Buch der Autorin

Samuel Adler erlebt mit 6 Jahren den Aufstieg der Nazis in Wien. Irgendwann ringt sich seine Mutter vor Verzweiflung dazu durch, ihn mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Sein Lebensweg führt ihn schließlich als Musiker in die USA.
Jahrzehnte später flüchtet das kleine Mädchen Letitia mit ihrem Vater in die USA, nachdem ihr gesamtes Dorf in El Salvador einem Massaker zum Opfer gefallen ist.
Und wiederum Jahrzehnte später flüchtet die sehbehinderte 7jährige Anita mit ihrer Mutter vor willkürlicher Gewalt aus El Salvador in die USA. Doch die Einwanderungsbehörden trennen Mutter und Kind. Nun ist Anita allein und wird von der Sozialarbeiterin Selena Duran und dem hochkarätigen Anwalt Frank Agileri vertreten, die einerseits versuchen, Anita das Aufenthaltsrecht zu erstreiten und andererseits, sie mit ihrer Mutter wieder zu vereinen.

Inhaltlich bietet dieses Buch die geballte Tragik. Es greift verschiedene Fluchtgeschichten zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Geschichte auf und zeigt viele Parallelen sowie die Not der Geflüchteten auf. Allende versucht zu vermitteln, dass niemand aus Spaß flieht und dass die Flucht kein Spaziergang ist. Meiner Meinung nach gelingt es ihr aber nicht immer, die Emotionen auch passend zu vermitteln. An manchen Stellen fand ich die Geschichte auch etwas dick aufgetragen. Natürlich hat auch Selena einen Fluchthintergrund, der mit ihrer Urgroßmutter begann. Und damit Frank sich nicht so fehl am Platz fühlt, bekommt er im Verlauf des Buchs ebenfalls eine Migrationsgeschichte großväterlicherseits aus Italien. Ein bisschen Klischee darf auch nicht fehlen: Frank, der hochkarätige Anwalt, der Anwärter auf eine Partnerschaft in der Kanzlei, entdeckt zunehmend seinen weichen, unkapitalistischen Kern. Und auch wenn er immer wieder (bis zum Abwinken) betont, dass Selena so gar nicht in sein Beuteschema passt (zu moppelig, zu ungepflegt, zu wenig stilbewusst), kann man ja vielleicht trotzdem ein bisschen; schließlich hat sie irgendwie Ausstrahlung. Als dann alle Figuren zusammenfinden, gibt es auch noch ein bisschen Feel-Good-Vibes. Ich war auch etwas überrascht von dem eher einfachen Erzählstil. Ich hatte Allende von ihren früheren Büchern eher als gehobene Unterhaltungsliteratur in Erinnerung.
Ich weiß nicht, ob es der Zynismus des Asylsystems ist oder ein Detail des Buches, aber zwischenzeitlich weiß man gar nicht, ob man Anita nicht doch lieber wünschen sollte, dass ihre Mutter verschwunden bleibt. Denn dann würde sie als unbegleitete Minderjährige gelten und erhielte leichter das Aufenthaltsrecht. Dieser Zwiespalt wurde mir zu wenig beleuchtet. Überhaupt lässt Allende einige Gelegenheiten zur Gesellschaftskritik ungenutzt liegen. Gerade das Ende, das mir etwas abrupt kam, hätte man nochmal richtig kritisch beleuchten können, denn das Asylrecht spielt eine große Rolle dabei. Aber ich hatte das Gefühl, dass Allende lieber nicht allzu viel am großen Nachbarn kritisieren wollte. Dennoch muss man ihr auch dankbar sein, denn sie bringt das Thema Fluchterfahrungen und Behandlung von Geflüchteten in die Unterhaltungsliteratur und bereitet es so auf, dass es gut verdaulich bleibt, ohne einen großen Teil der Lesenden abzuschrecken. Und das ist durchaus wichtig, denn es gibt ja durchaus Studien, die zeigen, dass Literatur die Empathie fördern kann. Und wenn durch dieses Buch ein paar Menschen mehr ihre Menschlichkeit und ihr Mitgefühl mit den weniger Glücklichen entdecken, dann ist doch auch schon viel gewonnen. Für mich war dieses Buch jedenfalls nicht eines der stärksten der Autorin.

Bewertung vom 15.05.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Der große Roman über die amerikanische Drogenkrise

Demons Leben beginnt schon suboptimal. Als er geboren wird, auf dem Badfußboden im Wohnwagen, ist seine junge Mutter komplett zugedröhnt. Danach gibt sie sich Mühe, doch sie scheitert immer wieder und stolpert mehr schlecht als recht von einem Entzug in den nächsten. Demon wird von einer Pflegefamilie zur nächsten herumgereicht. Nur wenige Menschen behandeln ihn gut, hier im von Armut geprägten "Hinterland" der USA, als Teil jener Bevölkerungsgruppe, die landesweit als Hillbillys verlacht und Gegenstand vieler hämischer Scherze sind. Er versucht, die Schule als Chance zu nutzen, doch die Perspektivlosigkeit und das finanziell schwache Umfeld lassen die Motivation schnell schwinden. Und trotz nahegehender schlechter Beispiele landet auch Demon durch eine Schmerzbehandlung mit Oxycodon irgendwann bei den Drogen ...

Auf über 800 Seiten erzählt Kingsolver die berührende Geschichte eines Jungen, der schon von Anfang an kaum eine Chance hatte. Unbekümmert, flappsig und ironisch erzählt Demon seine Kindheit und Jugend aus seiner Perspektive. Dabei berührt sein unbändiger Lebenswille immer wieder. Als Adaptation des Klassikers "David Copperfield" erzählt die Autorin hier eine große Geschichte von Armut, Perspektivlosigkeit und Drogenkrise. Selbst Familien, die sich alle Mühe geben, haben hier in Lee County keine Chance und steigen gnadenlos ab. Der Detailreichtum und der nahbare Erzähler machen das Buch zu einem Genuss, indem man trotz der ernsten und bedrückenden Thematik tief in die Geschichte einsteigt und in dem Jungen, der trotz vieler Schicksalschläge nicht aufgibt, einen Sympathieträger findet. Vielleicht hätte die Geschichte an der ein oder anderen Stelle gestrafft werden können, aber insgesamt vermittelt die Autorin ein glaubhaftes und Mitgefühl hervorrufendes Bild einer von der Politik vergessenen und dem Kapitalismus ausgebeuteten Gesellschaftsschicht, deren harte Schicksale als Grundlage zahlloser schlechter Witze dienen. Eine Gesellschaftsschicht, in der schon die jüngsten kaum einen anderen Ausweg sehen als das Leben durch Opioide oder Alkohol erträglich zu machen. Demon Copperhead erzählt von dem weniger glamourösen Amerika, mit viel Sozialkritik und gut ausgearbeiteten Figuren. Das Buch behandelt viele Themen, die jedoch gut ineinander greifen und ein komplexes Bild zeichnen. Am Ende ist dieses Buch aber vor allem auch aufwühlend und eine definitive Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.05.2024
Mein Name ist Estela
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


sehr gut

Interessanter Roman über soziale Ungleichheit in Chile

Estela ist schon über 30 als sie in die Hauptstadt Chiles geht, um dort sieben Jahre lang als Hausangestellte bei einer reichen Familie zu arbeiten. Er ist Arzt, sie Geschäftsführerin, später kommt noch ein Kind dazu, das entgegen Estelas Protesten an sie abgeschoben wird. Nun ist das Kind tot und Estela sitzt in einem Verhörraum. Stück für Stück erzählt sie ihre Geschichte, die von unüberbrückbaren Klassenunterschieden, schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen und einer dysfunktionalen Familie erzählt.

„Mein Name ist Estela“ ist kein einfaches Buch. Mit jedem Kapitel wird es beklemmender und Estelas Leben immer enger. Außerdem hat die Erzählstimme eine, wie ich zunächst fand, schnodderige Art, die ich den Ereignissen unangemessen fand. Später kommt der Verdacht auf, dass sie vor allem aufmüpfiger wird. Estela erzählt, wie sie Teil des Haushalts, aber nie der Familie wird. Selbst wenn sie zum Weihnachtsessen eingeladen wird, wird von ihr erwartet, den Tisch auf- und abzudecken. Immer wieder erlebt sie Situationen, in denen ihr ihr Platz in der Welt klargemacht wird. Auch wenn sie wiederholt sagt, dass sie sich nicht um ein Kind kümmern möchte, bleibt es doch letztlich an ihr hängen. Das Verhältnis ist jedoch ambivalent. Von dem Kind wird viel erwartet, die Eltern sind ehrgeizig und die Erziehungsmethoden fragwürdig. So bilden Estela und das Kind bald eine Zwangsgemeinschaft. Doch die Kleine probiert bei Estela auch immer wieder ihre Privilegien aus und auch Estela instrumentalisiert das Kind in ihren kleinen Sabotageakten der Familie.
Dieser Roman ist nicht immer einfach, denn er lässt viel Raum für Interpretation und an der ein oder anderen Stelle wären kulturelle Hintergrundinfos sicherlich hilfreich. Deutlich wird jedoch die Kritik an den immer noch bestehenden gravierenden Klassenunterschieden. Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund der Proteste gegen die soziale Ungleichheit in Chile. Natürlich geht es auch darum, wie das Kind zu Tode kam und welche Rolle Estela dabei gespielt haben könnte. Aber die Handlung kann man auch vor dem größeren Rahmen betrachten und überlegen, ob Estelas Geschichte nur als Beispiel dient um die soziale Ungleichheit in Chile zu verdeutlichen. Viele doppeldeutige oder unnötig wirkende Szenen bieten zudem weiteren Interpretationsspielraum. Am Ende gibt die Autorin wenig vor, wie die Dinge zu interpretieren sind. Das kann an der ein oder anderen Stelle etwas unbefriedigend sein, denn der Bezug mancher Szene ist schwer nachzuvollziehen. Insgesamt bekommt man mit diesem Roman einen interessanten Einblick in die aktuelle chilenische Gesellschaft und deren Diskussionspunkte, gleichzeitig aber auch Spannung und Emotionen (in erster Linie eher Erschütterung und Empörung).