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anushka

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 24.11.2025
Rupflin, Alexander

Protokoll eines Verschwindens


sehr gut

Gabriel ist seiner Schwester Isabella nach Deutschland gefolgt um den Gefahren und der Perspektivlosigkeit der Favela in Rio de Janeiro zu entkommen. Der junge Mann findet Arbeit in einer IT-Firma. Anschluss sucht er in Hamburgs Partyszene, wo er dem Krankenpfleger Fabio begegnet. Kurz darauf erhält Isabella einen Anruf, dass ihr Bruder vermisst wird.

Der Autor hat diesen wahren Fall intensiv verfolgt und journalistisch begleitet. Hier werden verschiedene Perspektiven beleuchtet und schon von Anfang an wenig offen gelassen. Es wird relativ schnell klar, was passiert ist, der Fokus dieses Buchs liegt deutlich stärker darauf, die einzelnen Geschichte zu erzählen. Isabella sucht verzweifelt nach ihrem Bruder, wird von den deutschen Behörden jedoch ziemlich allein gelassen. Es gibt auch Einblicke in die Herkunft von Gabriel. Parallel wird Fabios Geschichte erzählt, der ein Zimmer seiner Wohnung untervermietet und regelmäßig Sex mit seinen Mietern hat, notfalls unter Zuhilfenahme von Betäubung. Gleichzeitig geht er mit der netten alten Dame von nebenan zu kulturellen Veranstaltungen, während seit Monaten eine Leiche in seiner Wohnung liegt. Viele Szenen sind sehr explizit und lassen ein "Wegsehen" kaum zu. Hier habe ich mich gefragt, ob diese Ausführlichkeit wirklich immer nötig war, da es durchaus voyeuristisch wirkte. Der Autor führt später auch Interviews mit Fabio, in denen gewisse Persönlichkeitszüge von Fabio durchscheinen, die jedoch wenig eingeordnet werden. Es geht aber auch darum, wie es sein kann, dass über Monate hinweg eine Leiche in einer Wohnung liegt und niemand es bemerkt bzw. meldet. Demgegenüber stehen die Emotionen von Gabriels Familie. Der Autor räumt hier der Familie und ihrer Trauer mehr Platz ein und versucht, den Fokus stärker auf das Opfer und auch die weiteren Opfer von Fabio zu legen. Das gelingt meiner Meinung nach nicht immer, weil der Kriminalfall doch zu spektakulär aufgemacht wird und die Details zu stark ausgeschmückt werden. Auch kommen die Enden der Erzählstränge am Ende des Buchs nicht so recht zusammen und es bleibt unklar, mit welcher Intention jenseits des Erzählens eines aktuellen spektakulären Kriminalfalls diese Geschichte erzählt wird.

Für Fans von True Crime ist dies meiner Meinung nach ein gutes und fesselndes Buch. Der Autor hält sich wenig mit Nebensächlichkeiten auf und ist nah an den beteiligten Personen dran. Dennoch konnte ich ein gewisses Unwohlsein aufgrund der Skrupellosigkeit des Täters, aber auch der direkten und schonungslosen Schilderung der Details nicht abschütteln während die große Nähe zu den Angehörigen gleichzeitig ein Gefühl von Betroffenheit hinterlässt.

Bewertung vom 22.11.2025
Puchner, Eric

Weißes Licht


gut

Eine Geschichte über Freundschaft und Verfehlung, die emotional auf Distanz bleibt

Garrett lebt als Gepäckabfertiger in der idyllischen Landschaft Montanas. Zu seinem Studienfreund Charlie in Kalifornien hat er nur noch wenig Kontakt, da er sich schuldig am Tod eines gemeinsamen Freundes fühlt. Da Charlie jedoch viel an dieser ungleichen Freundschaft liegt, bittet er Garrett, ihn und seine Freundin Cece zu trauen. Als Cece schon einige Wochen vorher in das Haus von Charlies Familie am See zieht, um die Hochzeit vorzubereiten, verliebt sich Garrett in die Freundin seines besten Freundes ...

Als großer amerikanischer Roman wird dieses Buch bezeichnet - und irgendwie trifft das, meiner Meinung nach, auch zu. Man begleitet vor allem die Generation von Garrett, Cece und Charlie über Jahrzehnte hinweg, lernt aber auch ihre Kinder und deren Sorgen kennen, wobei die allgegenwärtige amerikanische Drogenproblematik nicht fehlen darf. Die zentrale Handlung, also die geplante Hochzeit von Cece und Charlie, spielt 2004. In Rückblenden erfährt man, wie die Freundschaft der Männer entstanden ist und was genau passiert ist, was Garrett so belastet. Der Roman entwickelt aber auch eine Zukunftsvision über Jahrzehnte hinweg, in der die Luft im Sommer vor Waldbränden kaum noch atembar ist und zunehmend die Tierarten verschwinden, deren Erhalt Garrett sich verschrieben hat. Zentral für die Handlung ist aber vor allem die Entwicklung der Freundschaftsbeziehung zwischen Garrett und Charlie, und auch CeCe, nach dem ultimativen Verrat. Leider konnte mich das Buch aber nicht so richtig fesseln, und so haben sich die mehr als 500 Seiten ganz schön gezogen, da es etliche Längen gab. Die Szenerie von Montana, in der auch die Serie Yellowstone spielt, bietet gutes Material für überzeugende Naturbeschreibungen, die der Geschichte einen besonderen Flair verleiht. Jedoch konnten mich die menschlichen Protagonisten wenig erreichen. Den gesamten Roman über blieben mir vor allem CeCes Beweggründe und Emotionen fremd und wenig nachvollziehbar. Garrett selbst bleibt die ganze Zeit über unnahbar, aber wenigstens authentisch. Umso weniger nachvollziehbar ist CeCes alles verändernde Entscheidung. Auch Ceces ständige Unzufriedenheit mit dem Leben im ländlichen Amerika war nicht dazu geeignet, positive Gefühle zu ihr aufzubauen.

Ich hatte mir von dem Buch viel versprochen, von dem leider nicht alles erfüllt wurde. Auch wenn mir die Naturbeschreibungen und naturbezogenen Szenen gut gefallen haben, konnte mich die Gesamthandlung nicht wirklich packen, und die Figuren sind mir allesamt fremd geblieben. Noch dazu war die Handlung zwischenzeitlich zäh, sodass das Leseerlebnis insgesamt eher gemischt war. Man könnte sagen, dass hier durchaus die großen Probleme Amerikas thematisiert wurden, sie bilden aber eher die Kulisse für diese Dreiecksbeziehung, in der mir alle weitestgehend unsympathisch geblieben sind.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.11.2025
Schreiber, Jasmin

Da, wo ich dich sehen kann


ausgezeichnet

Schonungsloser Blick auf die Folgen eines Femizids

Im Leben der neunjährigen Maja ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr wie zuvor. Der von ihr geliebte Vater hat ihre Mutter Emma getötet und sitzt dafür im Gefängnis. Während das Umfeld versucht, Maja aufzufangen, kämpfen sie selbst mit den Folgen. Emmas Eltern haben ihr einziges Kind verloren und verzweifeln an ihren Schuldgefühlen, während sie gleichzeitig versuchen, Maja ein neues Zuhause zu geben. Liv hat mit Emma ihre beste Freundin seit Jugendtagen verloren und bereut die Entfremdung, die sich zwischen den beiden eingeschlichen hatte. Als Astrophysikerin zeigt sie Maja die Geheimnisse des Universums und übernimmt unfreiwillig zunehmend Verantwortung für ihr Patenkind, obwohl sie selbst nie Kinder wollte.

Dieser Roman gibt einen schonungslosen Blick auf die Folgen von Gewalt gegen Frauen. Die Tat selbst steht nicht im Zentrum der Handlung und gleichzeitig ist sie allesbestimmend. Es geht nicht um den Täter und was genau wie passiert ist, sondern es geht vor allem um die Folgen für die Hinterbliebenen.
"Menschen hinterlassen mehr als Erinnerungen, sie hinterlassen Schwarze Löcher, die dich gnadenlos anziehen und in den Abgrund reißen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Wenn jemand geht, fehlt nicht nur die Person, sondern auch ein Stück von jedem, der bleibt." Und genau das setzt dieser Roman perfekt um. Das Schwarze Loch und die fehlenden Stücke bei jeder der Figuren sind intensiv spürbar. Regelmäßig hatte ich einen Kloß im Hals, weil die Autorin die Gedanken und Emotionen von Emmas Eltern, Liv und Maja so lebensnah dargestellt hat. Besonders anschaulich wird die Geschichte durch zusätzlich eingestreute Zeichnungen von Majas Bildern, aber auch für die erwachsenen Figuren gibt es jeweils einen Abschnitt, der einer imaginierten alternativen Realität nachspürt, in der die Figuren darüber nachdenken, was hätte sein können, hätten sie an entscheidenden Punkten anders reagiert. Ein Transkript des Anrufs bei der Polizei, gerichtliche Dokumente und die Unterlagen weiterer Institutionen und Hilfeeinrichtungen lassen das ganze wie einen echten Fall wirken.

Dieses Buch ist wirklich geeignet, einem das Herz zu brechen. Es widmet sich einem wichtigen gesellschaftlichen Thema und richtet den Blick auf die, die in Berichten über Femizide in der Presse und True-Crime-Podcasts selten eine Stimme bekommen. Es zeigt das Leid, das durch den Mord an einer Frau erzeugt wird extrem anschaulich und nachfühlbar und war mit das Schwerste und gleichzeitig Beste, was ich dieses Jahr gelesen habe.

Bewertung vom 11.10.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


gut

Bei einer Geburtstagsfeier in einer Hütte im Schwarzwald kommt es zu merkwürdigen Ereignissen: erst fällt der Strom aus, dann erhält Simon, der Ehemann der Protagonistin, eine ominöse Textnachricht. Währenddessen steigt im in die Jahre gekommenen Hotel von Lisas Vater eine merkwürdige Fremde ab, die nicht einmal Ersatzkleidung dabei hat. Lisa ist von dieser Frau, Daniela, berührt, greift ihr unter die Arme und lässt sie in ihr Leben. Doch zunehmend entfremden sich die Menschen in Lisas Leben von ihr.
Die Geschichte ist in einem fiktiven Ort im Schwarzwald angesiedelt. Es wird eine naturnahe, etwas düstere Stimmung transportiert, die zusammen mit dem etwas heruntergekommenen Hotel von Lisas Vater gut funktioniert und authentisch eine deutsche Kleinstadt auf dem Land vermittelt. Die Geschichte um Daniela wird in angemessenem Tempo aufgedröselt, doch an dem Punkt, an dem es beginnt, perfide zu werden, ist die Geschichte auch schon zu Ende bzw. nimmt eine ziemlich abstruse Wendung. Ansonsten ist die Geschichte leider ziemlich vorhersehbar und schon früh klar, was hier gespielt wird. Neben dem überhasteten, unglaubwürdigen Ende benehmen sich hier einige Figuren wenig nachvollziehbar und ziemlich unreif, insbesondere Simon. Und man darf dabei nicht vergessen, dass es sich hier um Menschen in mittlerem Erwachsenenalter (u.a. mit fast erwachsenen Kindern) handelt und nicht um Teenager oder sehr junge Erwachsene. Am Ende ist die Geschichte insgesamt wenig innovativ und nichts, was man so nicht schonmal gelesen hätte und hat mich dadurch nicht sonderlich gefesselt oder überzeugt.

Bewertung vom 11.10.2025
Gestern, Hélène

Rückkehr nach St. Malo


ausgezeichnet

Nach dem Tod des Vaters erbt Yann Kérambrun die Familienvilla in Saint Malo. Nach einer gescheiterten Ehe und kurz vor dem Burnout als Geschichtsprofessor an der Sorbonne in Paris zieht er an den Ort seiner Kindheit zurück. Schon nach kruzer Zeit entwickelt er eine Faszination für die felsige Insel Cézembre, die in Sichtweite von Saint Malo liegt. Der Name Kérambrun ist in der Gegend kein unbekannter. Seit über hundert Jahren baut das Unternehmen Schiffsmotoren und bildet die Malouinische Schifffahrtsgesellschaft. Beim Ausmisten der Familienbibliothek entdeckt Yann die Handelsbücher des Unternehmens und arbeitet nach und nach die Geschichte seiner Familie auf.

Zunächst war ich skeptisch, was an der Unternehmensgeschichte einer Schiffsmotorengesellschaft spannend sein kann. Doch von Anfang an hat mich der atmosphärische Schreibstil überzeugt, der die Küstenstadt Saint Malo und noch mehr das geheimnisvolle Cézembre zum Leben erweckt. Durch die historischen Dokumente und die Ressourcen, die Yann als Historiker einer namhaften Universität zur Verfügung stehen, wirken die Enthüllungen glaubhaft. Vor allem der Wechsel zwischen den Zeitebenen wirkt dadurch sehr natürlich. Zwischendurch erzählt ein dritter, in kursiv abgehobener Erzählstrang von einzelnen Ereignissen aus der historischen Perspektive. Zunehmend zieht die Spannung an und mit den Gezeiten und Wellen treibt man immer schneller durch die Geschichte, die sich am Ende in einen richtigen historischen Krimi entwickelt. Am Ende wurde aus einem regionalen Roman eine überraschend spannende Familiengeschichte mit bretonischer Atmosphäre. Hinzu kommt aber auch eine psychologische Tiefe, denn Yann arbeitet die Familiengeschichte auch auf, um zu verstehen, warum die Männer der Familie wenig Liebe für ihre Söhne aufgebracht und somit Generationen nach ihnen geprägt haben. Nicht zuletzt Yann hatte ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater, der ihn sein Leben lang in das Familienunternehmen drängen wollte. Yann muss sich auch selbst hinterfragen, wie er mit seinem eigenen Sohn umgeht. Und so erhält der Roman auch psychologische Vielschichtigkeit ohne übertrieben, klischeehaft oder kitschig zu sein. Insgesamt war der Roman trotz einiger Längen eine absolute positive Überraschung, die auf über 500 Seiten sehr gut unterhalten hat.

Bewertung vom 11.10.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


sehr gut

In einem Waldschloss auf dem südungarischen Land lebt die Adelsfamilie von Lázár. Als nach der Tochter endlich der ersehnte Sohn und Erbe geboren wird, ist dieses bleiche, fast durchsichtige Kind nicht das, was sich Lajos Lázár vorgestellt hat. Und so beginnt die Geschichte einer Adelsfamilie mitten in den großen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Vor der Tapestrie der ungarischen Geschichte - zunächst noch als habsburgische Monarchie, dann unter der deutschen und zuletzt der russischen Besatzung - spielen sich die kleinen und großen Dramen einer Familie ab, die schon durch die Vorfahren geprägt ist von Alkoholismus, Suizid und Wahnsinn.

Dem Autor ist hier mit diesem, für eine Familiengeschichte vergleichsweise kleinen Buch etwas Großes gelungen. Die Sprache ist über weite Strecken ein Genuss, Ein trockener Humor verbindet sich mit opulenten Bildern und sprachlichen Schleifen. Teilweise mutet die Geschichte märchenhaft an. Als die Tochter Ilona einmal im Wald verloren geht, dachte ich beim Lesen wirklich, sie käme als "Wechselbalg" zurück (dieser folkloristische Glaube daran, dass Feen oder andere übernatürliche Wesen Menschenkinder durch ihre eigenen Nachkommen ersetzen). Doch die Geschichte bleibt realistisch, auch wenn am Rande des Blickfelds im Wald immer irgendetwas zu lauern droht. Der Erzählstil ist äußerst atmosphärisch und baut vor allem eine düstere Stimmung auf, die die historischen Entwicklungen fast schon vorweg nimmt. Die Geschichte fesselt, doch immer, wenn man etwas Sympathie oder Mitgefühl aufgebaut hat, zeigt sich die Familie wieder von ihrer egoistischen und opportunistischen Seite. Über drei Generationen hinweg beobachtet man, was die Familie tut, um ihren Adelsstand zu erhalten. Man ist nah dran, wenn sie ihre verschiedenen Residenzen bereisen und dort die Sommermonate vorüberziehen lassen, aber auch, wenn sie schließlich enteignet auf engstem Raum lebend zum ersten Mal arbeiten müssen. Die Geschichte der Familie ist eindrucksvoll erzählt , opulent und gleichzeitig komprimiert (das muss man erstmal hinbekommen) und die Wendungen der Geschichte sind nachvollziehbar und nachfühlbar dargestellt. Doch manches Mal macht der Erzählstil einen Schlenker zu viel, überschlägt sich und fühlt sich überladen an. Gleichzeitig bleiben die Figuren etwas holzschnittartig und wie Abziehbilder ihrer Vorgänger. Bis auf den "verrückten Onkel Imre" (schon ein ziemliches Klischee) heben sich die Figuren wenig voneinander ab, sodass die Generationen kaum auseinander zu halten sind. Und auch wenn ich den Erzählstil meist sehr genossen habe, gab es doch einige drastische Szenen, die mir nicht gefallen haben und die sich als Bruch anfühlten. Insbesondere die verschiedenen Sexszenen hätten weniger explizit sein können. Im Kontext dieser, auf ihr Erscheinen bedachten Adelsfamilie wirkten die Szenen fast schon obszön.

Alles in allem ist "Lázár" ein beeindruckendes Buch und ich werde sicherlich zu weiteren Büchern des Autors greifen. Ich werde nicht in die Überraschung einstimmen, wie ein so junger Autor so ein Buch schreiben konnte, denn warum sollte er nicht? Warum glauben wir (immer noch), dass nur ältere Menschen beeindruckende Werke hervorbringen? Mich hat das Buch unabhängig vom Autor gepackt und auch unabhängig von der Tatsache, dass diese Geschichte wohl auf einer realen Geschichte basiert. Sie war auch ohne dieses Wissen glaubwürdig, realistisch und lebensnah. Ich kann die Begeisterung verstehen, die dieses Buch bei vielen ausgelöst hat. Mir ging es, bis auf ein paar Kritikpunkte, ähnlich.

Bewertung vom 20.09.2025
Slocombe, Penelope

Sunbirds


ausgezeichnet

Auf der Suche im Tal des Todes

Anne und Robert leben auf einer schottischen Insel. Mit 18 Jahren reiste ihr Sohn Torran nach Indien und kehrte nie zurück. Im Kullu-Tal im vorderen Himalaya-Gebirge verliert sich seine Spur. Das ist nun 7 Jahre her und es gibt keinerlei Hinweise auf seinen Verbleib oder sein Schicksal. Zunächst suchten Anne und Robert noch gemeinsam, doch irgendwann kehrte Robert nach Schottland zurück, während Anne in Indien blieb. Regelmäßig erneuert sie die Suchposter und befragt Einheimische sowie Touristen. Den Kontakt zu ihrem Ehemann hat sie nahezu abgebrochen. Plötzlich taucht Esther, ihre Nichte und Journalistin, mit neuen Hinweisen in Indien auf. Auf einem Roadtrip durch Indien jagen die Frauen zum einen Torran nach, aber auch ihrer eigenen Vergangenheit, aus der sie einiges aufzuarbeiten haben.
Angelehnt scheint die Geschichte an reale Fälle. Das Kullu-Tal hat es unter dem Begriff "Death Valley" tatsächlich in die internationale Presse geschafft, weil hier in den vergangenen Jahrzehnten Dutzende westliche Touristen und Backpacker verschwunden sind. Kullu ist ein pittoreskes Tal und liegt im vorderen Himalaya-Gebirge. Mit seiner atemberaubenden Natur, spirituellen Religionen, einem ganz anderem Lebensstil, sowie seinem Malana Cream (Premium-Haschisch) und zahllosen Moonshine-Raves verursacht Indien scheinbar einen Kulturschock und lässt zahlreiche Menschen glauben, die Erleuchtung gefunden zu haben. Andere verunglücken beim Wandern oder fallen Räubern und Drogenbaronen zum Opfer. Auch Anne ist in diesem Umfeld gezwungen, sich mit den Fragen ihres Lebens auseinander zu setzen. Mit den neuen Möglichkeiten, die Esthers Hinweise eröffnen, fragt sie sich aber auch, ob sie Torran wirklich finden will. Sollte er noch am Leben und freiwillig verschwunden sein, muss sie sich fragen, warum er seine Familie jahrelang im Ungewissen gelassen hat.
Mich hat diese Geschichte emotional berührt, aber auch wütend gemacht. Auf der Reise begegnen Anne und Esther neben suchenden Angehörigen auch sogenannten Aussteigern. Menschen, die aus Ländern stammen, die teilweise extrem restriktive Gesetze für Einwanderer haben, reklamieren für sich selbst, sich aufgrund ihrer spirituellen Selbstfindung versteckt in diesem weitläufigen Gebirge ohne Aufenthaltserlaubnis niederzulassen. Gleichzeitig lassen sie alles Weltliche hinter sich, auch ihre Angehörigen, die zum Teil nie das Schicksal ihrer Geliebten erfahren. Gleichzeitig verschlimmert ihre Nachfrage nach bewusstseinserweiternden Substanzen die Probleme dieser instabilen Region.
Für mich ging es in diesem Buch nicht romantisiert um Loslösung, Selbstfindung und Spiritualität, sondern um eine gut verpackte Kritik an westlichen Reisenden. Gleichzeitig wird aber auch auf der emotionalen Ebene sehr gut beleuchtet, wie Familien jahrelang leiden können, wenn ein - sogar volljähriges - Kind verschwindet. Die Figuren waren komplex und überzeugend, wenn auch nicht immer sympathisch, gezeichnet. Die Geschichte war sehr atmosphärisch und die Naturbeschreibungen haben mich vollends abgeholt.

Bewertung vom 20.09.2025
Rubik, Kat Eryn

Furye


sehr gut

"Laugh in places you cried"

Ein Unfall, der keiner ist, auf einer Küstenstraße. Eine Familie, die in den Tod stürzt. Eine Protagonistin, die sich in ihrer Jugend nach einer der Furien benannt hat: Alec. Die namenlose Erzählerin ist eine erfolgreiche Businessfrau, hat unlängst das Vogue-Cover geziert und lebt ein Leben, das sich viele wünschen. Doch ihr Privatleben ist eher trist. Der Vater ist vor Kurzem gestorben, die Mutter gewöhnt sich erst langsam an die neuen Lebensumstände und wird von der Erzählerin auf Singlereisen geschickt. Sie selbst wünscht sich einen neuen Lebensinhalt, doch ein Anruf macht diese Hoffnung zunichte. So fährt sie, mit ihrem Tagebuch von damals im Gepäck, zurück in die Stadt am Meer, die sie zwanzig Jahre zuvor hinter sich gelassen hat und zurück zu den Erinnerung an ihre Zeit mit Meg und Tess. Sie drei, die sich nach den Furien der griechischen Mythologie benannt haben, und in diesem Sommer doch die tragischen Figuren waren. Als Tochter von Auswanderern hat Alec seit Jahren ein Stipendium an einer Elite-Schule und bewegt sich als Außenseiterin in dieser Welt voller Privilegien und Macht. Doch an ihren Freundinnen sieht sie, dass Geld längst nicht glücklich macht. Meg wird von einer alkoholkranken Mutter vernachlässigt, Tess von einem gewalttätigen Vater tyrannisiert. Währenddessen liegt der Sommer vor den Mädchen, eine Zeit voller Lebensfreude, Partys und der ersten großen Liebe. Es ist der Versuch der erwachsenen Protagonistin, ganz im Sinne des Sprichworts "Laugh in places you cried" die Geschichte umzuschreiben.

"Furye" ist ein sehr eindringlicher Roman. Passend zum Cover liegt der Sommer irgendwie über allem, und gleichzeitig liegen Tiefe und Dunkelheit darunter. Man sollte keine leichte Sommerunterhaltung erwarten, es geht um unerfüllte Wünsche und tiefe menschliche Abgründe, die alle mit diesem einen Sommer in Verbindung stehen. Die Geschichte handelt von Macht und Machtmissbrauch, Vertrauen, Verrat und Verlust. In einem Zeitstrang erleben wir die Protagonistin, die noch erwartungsvoll und zuversichtlich in die Zukunft schaut, im zweiten Handlungsstrang erleben wir sie zwischen unerfüllten Wünschen und dem Verlangen nach Vergebung und Vergeltung. Die Atmosphäre ist eher düster als sommerlich. Auch wenn die Handlung zwischenzeitlich etwas zäh und langsam wirkte, hat sie mich weitgehend gepackt. Das Buch deutet Dinge geschickt an, die teilweise nie explizit erläutert werden und Raum für die eigene Deutung lassen. Die Unumkehrbarkeit der Ereignisse fühlt sich manchmal regelrecht erdrückend an und hebt dadurch die Bedeutung von Entscheidungen hervor, die schon in jungen Jahren von einem selbst oder von anderen getroffen werden. Dieser Roman verbindet viele große Themen geschickt, ohne sie alle auszudiskutieren. Auch wenn die Geschichte letzten Endes gut im Kontext der Mythologie interpretierbar ist, hätte ich mir dennoch ein wenig mehr Erläuterung gewünscht, wie die Mädchen darauf kamen, sich nach den Furien zu benennen, denn wirklich wütend oder "rasend" ist zunächst nur Meg.

Insgesamt ist "Furye" ein gelungener Roman, der gut zum Sommer passt, auch wenn er kein sommerlicher Unterhaltungsroman ist. Der Roman ist tiefgründig, düster und regt zum Nachdenken an, wobei man etliches selbst deuten und einige Längen in Kauf nehmen muss. Die Vielschichtigkeit und die Mühelosigkeit, mit der zahlreiche gesellschaftliche Themen angesprochen werden, haben mir jedoch gut gefallen, genauso wie der eingängige Schreibstil mit seinen zahlreichen Metaphern.

Bewertung vom 20.09.2025
Teige, Trude

Wir sehen uns wieder am Meer


sehr gut

Zweiter Weltkrieg aus einer norwegischen Perspektive - Berührend und spannend

1944, Bodø: Norwegen ist während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen besetzt. Birgit Johansen entschließt sich zu einer Ausbildung als Krankenschwester und geht in den Norden Norwegens um dort zu helfen. Durch eine Affäre mit ihrem Russischlehrer hat sie eine Faszination für das Land und die Sprache gelernt. Dadurch ist es ihr möglich, unter anderem mit der 16-jährigen ukrainischen Zwangsarbeiterin Nadia zu sprechen und sich für sie einzusetzen. Als kurze Zeit später ein schwer verletzter russischer Kriegsgefangener eingeliefert wird, schließt sich Birgit dem Widerstand an und begibt sich in höchste Gefahr.

Nachdem auch schon der erste Band davon handelte, wie Kriegstraumata sich auch auf nachfolgende Generationen auswirken, haben wir hier im dritten Band auch wieder eine Enkelin, die sich an die Enkelin von Tekla wendet, um die Geschichte ihrer Großmutter zu teilen, die eine der besten Freundinnen Teklas war. Ich habe mich in Anbetracht der Menge an Romanen mit Handlungen im Zweiten Weltkrieg gefragt, welche Geschichten noch erzählt werden können, ohne sich wie eine Wiederholung anzufühlen. Und doch ist es Trude Teige gelungen. Zum einen weiß man über Norwegens Rolle im Zweiten Weltkrieg vergleichsweise wenig und zum anderen endet die Handlung um Birgit nicht mit der Befreiung Norwegens, sondern reicht tatsächlich bis in den Kalten Krieg hinein. Dabei ist Birgit keine unrealistische Heldin, sondern findet sich zunächst eher unfreiwillig im Widerstand wieder aufgrund ihrer Russischkenntnisse. Durch die eingestreuten Kontakte zu Tekla und Anneliese werden Verknüpfungen zu den vorherigen Bänden geknüpft, aber auch andere Frauenschicksale des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Dennoch ist eine Kenntnis der vorherigen Bände nicht zwingend nötig. Neben dem norwegischen Widerstand widmet sich das Buch auch dem Thema der Kollaboration und dem der Zwangsarbeit, wofür Menschen bis nach Norwegen verschleppt wurden, um dort in Fischfabriken zu arbeiten. Das ganze passiert weitgehend einfühlsam und spannend, in einem unaufgeregten Stil wird eine dunkle Zeit der europäischen Geschichte erzählt und die Leiden vieler Menschen nachfühlbar vermittelt, wobei der Handlungsstrang in der Fischfabrik etwas farblos bleibt und einige Figuren weniger überzeugen als andere. Insgesamt ist dieses Buch ein guter Abschluss der Trilogie.

Bewertung vom 20.09.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


sehr gut

Ein grandioses Gedankenspiel, das aber nicht an den Vorgänger herankommt

In ihrem neuen Buch widmet sich Gaea Schoeters wieder einem sehr interessanten Gedankenspiel. Im Regierungsviertel Berlins, und später in der ganzen Stadt, tauchen plötzlich Elefanten auf. Wie der überraschte Bundeskanzler Hans Christian Winkler feststellen muss, sind sie ein Geschenk des Präsidenten von Botswana, als Reaktion auf ein neues Gesetz, dass die Einfuhr von Jagdtrophäen einschränkt. Nun sollen die Europäer mal mit Megafauna leben, so wie sie es im Geiste des Artenschutzes von anderen Ländern verlangen.
In relativ knappem Umfang lässt die Autorin eine neue Realität entstehen. Deutschland ist bald auch von fremden Plfanzen überwuchert, die Natur passt sich an. Den Menschen fällt es eher schwerer, es kommt zu Konflikten mit den Tieren. In einer pollitischen Satire nimmt die Autorin die heutige Denk- und Handlungsweise der Politik aufs Korn, zeigt die politischen Spielchen auf, die zwischen verschiedenen Parteien und Ministerien stattfinden, mit teils abstrusen Ideen zum Umgang mit den Elefanten. Auch, wie die ganze Situation den Populisten in die Hände spielt, ist sehr treffend nachgezeichnet, die Parallelen zum Umgang mit Migration und Flucht sind kaum zu übersehen. Viele kluge Gedanken und Ideen werden absolut zielgenau platziert, die Figuren glaubhaft und realistisch ausgearbeitet. Man leidet förmlich mit dem fiktiven Bundeskanzler mit, wie er versucht, mit der Situation umzugehen und die Regierungskoalition zu retten.
Die Autorin schafft eine unterhaltsame Geschichte mit einer guten Prise Humor und Satire, legt aber gleichzeitig, wie schon bei ihrem vorherigen Buch, den Finger in die Wunde. Welche Mitschuld haben die europäischen Staaten an der Situation der afrikanischen Länder? Was verlangen sie von anderen Bevölkerungen für ihr eigenes Verständnis von Umwelt- und Artenschutz? Welche Lebensrealitäten der einheimischen Menschen ignorieren sie dabei? Neben jeder Menge interessanten Wissens über die Elefanten selbst, bietet die Autorin wieder viele kluge Denkanstöße, die einen noch länger beschäftigen. Für mich kommt dieses Buch dennoch nicht ganz an den Vorgänger "Trophäe" heran. Die Autorin zeigt eine beeindruckende Kenntnis der deutschen Politik, ich hätte mir jedoch einen etwas längeren Roman gewünscht und weniger große Zeitsprünge. Die Geschichte hätte noch etwas intensiver und noch stärker an den Tieren und der Bevölkerung sein können. Insgesamt schreibt die Autorin aber auf einem ganz eigenen Level wunderbar kluge Geschichten mit gesellschaftlicher Relevanz.