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Melancholische Komik auf den Rübenfeldern von Yorkshire:
J. L. Carrs „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“
VON TOBIAS LEHMKUHL
Sinderby, dieser wohl nicht ganz fiktive Ort im Norden Englands, ist tiefste Provinz, tief, im wahrsten Sinne des Wortes: Nur wenn es ordentlich regnet, saugt sich der Boden ausreichend mit Wasser voll, um das Land auf Meeresspiegelhöhe zu hieven. In dieser Gegend ist also nicht unbedingt mit heraus- oder gar überragenden Leistungen zu rechnen. Meist bescheiden sich die Menschen damit, ihre Rübenäcker zu bestellen, von denen das Dorf umgeben ist. Und als der zugezogene Joe Gidner, ein verkrachter Theologe und Verfasser von Gruß- und Glückwunschkarten, den Vorsitzenden des Fußballvereins, Mr. Fangfoss, einmal fragt, was eigentlich hinter den ganzen Feldern liegt, bekommt er schlicht „noch mehr Felder“ zu Antwort.
„Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ handelt nun davon, wie es der örtlichen Fußballmannschaft, samt einer Fanschar, die sich nicht nur aus den Einwohnern des 547-Seelen-Dorfes speist, gelingt, über die Rübenfelder hinaus bis ins Wembleystadion vorzudringen.
Der Autor dieses bezaubernden kleinen Buches, J. L. Carr, ist bereits 1994 verstorben und wurde erst im vergangenen Jahr mit der Novelle „Ein Monat auf dem Land“ bekannt. Das ebenfalls schmale Buch war nicht nur bei der Kritik ein ziemlicher Erfolg. Die Gründe dafür sind vielfältig: Geschichten vom Land scheint es nicht genug zu geben, auch das vom Dörlemann-Verlag vor vier Jahren wiederentdeckte Büchlein „Ein Sonntag auf dem Lande“ von Pierre Bost faszinierte viele Leser.
In Carrs 1980 für den Booker-Preis nominiertem „Monat auf dem Land“ geht es zudem auf stille und hintergründige Weise um Trauerarbeit und Traumabewältigung und erfüllt damit eine der Hauptfunktionen von Literatur: Trost zu spenden. Außerdem, und das haben „Ein Monat auf dem Land“ und „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ gemein, spielen Carrs Kurzromane in einer nahen und doch fernen Zeit – Fernsprecher hat es zwar bereits gegeben, aber Fernsehen höchstens in Schwarz-Weiß, und Smartphones schon einmal gar nicht.
Ja, es beschleicht einen in diesen auch etwas wehmütig erzählten Büchern ein wohlig-nostalgisches Gefühl. Es war, so erscheint es, eine Zeit, in der man sich mit seinem Seelenschmerz in den hintersten Winkel des Landes zurückziehen konnte, und dort auch wirklich in Ruhe gelassen wurde. Freilich war man in England schon immer etwas toleranter, was die Schrullen und Dachschäden anderer angeht.
Auch Joe Gidner ist ja nicht umsonst in diesem trüben Yorkshire gelandet, in dem das kalte Klima, wie es heißt, dafür sorgt, dass die Einheimischen nur zwischen zusammengebissenen Zähnen zu sprechen pflegen. Eine mietfreie Wohnung hat ihn hergelockt, er muss für die Unterkunft lediglich nach der durch einen Fahrradunfall sehr beschädigten Frau des Hauseigentümers schauen. Der heißt Alex Slingsby, ist siebenundzwanzig Jahre alt und hatte eigentlich eine vielversprechende Fußballerkarriere vor sich, bis die Sache mit seiner Frau geschah. Seither kümmert er sich um sie und unterrichtet nebenbei an der kleinen Schule Sinderbys.
Genau wie Dr. Kossuth, ein genialischer Ungar, der, von Slingsby auf die Spur gesetzt, sechs Regeln über Fußball aufstellt, die in Windeseile aus der Amateurmannschaft des Ortes einen Titelanwärter auf den FA-Cup, den englischen Fußballpokal machen. Regel Nr. 5 könnte aus einem Lehrbuch des deutschen Trainers Jürgen Klopp stammen, der inzwischen in Liverpool arbeitet: „Jeder Spieler bis auf den Mittelstürmer muss das eigene Tor verteidigen, und jeder Spieler, bis auf den Torwart, muss das gegnerische Tor angreifen.“
Die Idee, ein Provinzklub könnte einen solchen totaalvoetbal umsetzen und auch durchhalten, hat selbst etwas Nostalgisches an sich: Damals gab es, glaubt man gerne, auch für Underdogs noch Möglichkeiten (als der Roman 1975 erstmals erschien, feierte Ajax Amsterdam erste Erfolge mit dieser Philosophie). Heute schaffen es Mannschaften von der Sorte Sportfreunde Lotte allenfalls ins Viertelfinale. Sinderbys eigentliche Gegner heißen bis dato Cascop Colliery Welfare oder Vereinigte Bahnhofshallenwerke Culverly, und so wirkt ihr Sturmlauf gen Wembley noch fantastischer, und befeuert die Hoffnung, dass auch scheinbar Unerreichbares sich erreichen lässt.
Dafür braucht es allerdings nicht nur einen aufopferungsvollen Platzwart (den später zum Chronisten des Erfolgs aufgestiegenen Joe Gidner), einen leidenschaftlichen Kapitän (Alex Slingsby), sondern auch einen mit allen Wassern gewaschenen Vorsitzenden – Mr. Fangfoss eben, die heimliche Hauptfigur dieses Buches, ein Mann von „napoleonischem Format“.
Mr. Fangfoss hat zwar keine Ahnung von Fußball, sein Tatendrang und seine Entscheidungsfreude aber sind unwiderstehlich. Solch einem Mann sieht man auch nach, dass er gleich zwei Ehefrauen sein eigen nennt. Unter lauter Sonderlingen stellt er eine Art Häuptling Superkauz dar. Als der Erfolg der Wanderers um die Welt geht, schafft es sein Konterfei sogar bis auf die Titelseite eines japanischen Magazins, auch wenn seine Name Fangfoss dort zu einem Fungfass mutiert.
Die Kunst J. L. Carrs – der 1912 als Sohn eines Eisenbahners geboren wurde, selbst in Yorkshire lebte und dort lange Jahre Lehrer und Schulleiter war – ist es, die umwerfende Komik seiner Erzählungen ganz in einen melancholischen Grundton einzubetten. Sechs weitere Romane hat er geschrieben, die alle noch ihrer Übersetzung harren, und man bedauert schon jetzt, dass es nur noch sechs sind.
J. L. Carr: Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont-Verlag, Köln 2017. 192 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Es gab eine Zeit, da man im
hintersten Winkel des Landes
wirklich in Ruhe gelassen wurde
Der englische Autor J. L. Carr (1912 – 1994) in Yorkshire.
Foto: Bob Carr, Dumont verlag
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