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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In Kimberly Brubaker Bradleys bewegendem Roman „Gras unter meinen Füßen“ findet ein englisches Mädchen durch die Kinderlandverschickung zu sich selbst.
Ada darf nicht aus dem Haus. Niemals. Sie ist zehn Jahre alt und kennt nur den schäbigen Raum, in dem sie mit ihrer Mutter und dem Bruder haust, meist ist sie dort allein. Sie darf sich ans Fenster setzen, nur das, doch wehe, sie versucht, mit jemandem auf der Straße zu sprechen. Dann schlägt die Mutter zu – oder zwingt sie in ein Kabuff unter der Spüle, in dem die Schaben über sie hinweghuschen.
Und das alles nur, weil Ada einen schlimm verdrehten Fuß hat. Es ist ein sogenannter Klumpfuß, und im England der Dreißigerjahre ließe sich das eigentlich nach der Geburt richten. Doch niemand hat Ada operieren lassen; ihre verwitwete, in einem Londoner Pub geringstverdienende Mutter versteckt sie stattdessen als Krüppel und tut so, als wäre sie auch im Kopf nicht ganz dicht.
Wenn man also wissen will, wie Armut plus schlimmste Verwahrlosung aussehen, dann ist man schon nach wenigen Seiten des mehrfach ausgezeichneten Jugendromans „Gras unter meinen Füßen“ von der US-amerikanischen Autorin Kimberly Brubaker Bradley ausreichend bedient. Ja, dies ist eine wirklich krasse Geschichte. Doch wer sie einmal zu lesen beginnt, wird nicht so schnell wieder damit aufhören – und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur bewegt, sondern auch bereichert fühlen.
Das hat zu einem großen Teil mit der eindringlichen Erzählstimme zu tun: Es ist Ada selbst, die in einem Abstand von vier Jahren ihre Geschichte berichtet und die Leser in schnörkellosen, aber detailsatten Sätzen mit in ihre enge Welt nimmt. Eine Welt, die sich im Laufe eines Jahres und Buches wundersam weiten wird. Denn was schnell ebenfalls klar wird: Ada ist ein überaus starkes, resilientes und kluges Mädchen. Und damit wird sie, als sie zum ersten Mal die Treppen herunterrutschend das Haus verlässt, nicht nur die Nachbarn ziemlich überraschen.
Denn Ada flüchtet. Sie hat sich selbst eine Art Humpeln beigebracht – und hängt sich so heimlich an die Kinderlandverschickung dran, mit der ihr sechsjähriger Bruder 1939 zum Schutz vor Hitlers Bomben aufs Land gebracht wird. Als sie in einem Dorf in Kent ankommen, will zwar erst niemand das armselig aussehende Geschwisterpaar aufnehmen. Dass die beiden einer einsamen Frau aufgedrückt werden, erweist sich dann allerdings als Glücksfall. Drastischer gesagt, wie es auch der englische Originaltitel „The war that saved my life“ ausdrückt: Der Krieg rettet in diesem Fall Leben.
„Es gibt alle möglichen Arten von Krieg“, diesen Satz vom Anfang belegt das Buch. Zwar nimmt der Zweite Weltkrieg darin tatsächlich immer mehr Raum ein, wird die Heftigkeit von Rationierungen, von Luftangriffen deutlich, bekommen schwer verletzte Soldaten ein Gesicht, „überall Blut, Schmutz, Erschöpfung“. Noch wichtiger ist jedoch, in der deutschen Ausgabe durch die Titelwahl hervorgehoben, die einfühlsam erzählte Geschichte der Selbstfindung dieser verstörten Kinder – und ihrer Pflegemutter.
Denn Miss Smith, die später zu Susan wird, hängt nach dem Tod ihrer Freundin (nur als Subtext läuft mit, dass queere Menschen damals ebenso stark Vorurteilen und Ausgrenzung ausgesetzt sind wie körperlich beeinträchtigte) in einer Depression fest und kümmert sich zunächst eher ruppig-zerstreut um die ungebetenen Gäste. Die Bemühungen der Mathematikerin treffen auf zwei unterernährte und geradezu Kaspar-Hauser-ähnlich unwissende Kinder: Sie haben noch nie Erbsen oder gar eine Suppe gegessen, sie wissen nicht, was Wörter wie Bank oder Bettlaken bedeuten, sie haben niemals von der Existenz großer Wassermengen namens Meer gehört, und Begriffe wie Freiheit sind ihnen sowieso unbekannt.
Kein Wunder, dass Ada und ihr Bruder völlig überfordert sind. Wie die Autorin deren allmähliche Aneignung von Welt und Worten und die oft widerstreitenden Gefühle Adas einfängt, ist beeindruckend vielschichtig: Einerseits wird das traumatisierte Mädchen von Panikattacken und Wut geschüttelt, was sich lange in garstiger Abwehr der Pflegemutter entlädt. Andererseits kommt Ada mutig Schritt für Schritt voran, ob auf Krücken oder einem Pony.
Denn dieser Roman führt fein und dabei schön zielgruppengerecht vor, wie sehr die Natur und der Umgang mit Tieren heilend wirken können. Da mögen Ada anfangs noch so sehr die Worte für ihre Gedanken und Gefühle fehlen: Auf dem Rücken von Pferden brechen sich ihre tief verborgenen Sehnsüchte Bahn. Sie kann springen, sie kann fliegen. Sie ist frei.
ANTJE WEBER
Das Mädchen Ada
humpelt trotz
Klumpfuß in die Freiheit
Kimberly Brubaker
Bradley:
Gras unter meinen
Füßen.
Aus dem Englischen von Beate Schäfer.
Dtv, München 2024.
328 Seiten, 16 Euro.
Ab elf Jahren.
Kimberly Brubaker Bradley ist US-Amerikanerin, schreibt aber überzeugend über ein Mädchen, das auf englischen Wiesen seine Freiheit findet. Foto:
Amy McMurray
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