PAYBACK Punkte
0 °P sammeln!
»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst u...
»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess
»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.
Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.
Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der SWR-Bestenliste (2004), dem Arthur-Schnitzler-Preis (2012) und dem Wortmeldungen-Literaturpreis (2020). Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher 'Niemand lacht rückwärts' (1995), 'Abrauschen' (1997), 'Irres Wetter' (2000), 'really ground zero' (2001), 'wir schlafen nicht' (2004), 'die alarmbereiten' (2010), 'Nachtsendung. Unheimliche Geschichten' (2016) sowie gesammelte Essays und Theaterstücke unter dem Titel 'besser wäre: keine' (2013). Zuletzt erschienen ihr Roman 'Laufendes Verfahren', für den sie den Heinrich-Böll-Preis für Literatur (2023) erhielt, sowie der Essayband 'Nichts sagen. Nichts hören. Nichts sehen.' (2025). Kathrin Röggla ist seit 2020 Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Literaturpreise: Heinrich-Böll-Preis für Literatur (2023) Österreichischer Kunstpreis für Literatur (2020) Wortmeldungen-Literaturpreis (2020) Mainzer Stadtschreiberin (2012) Arthur-Schnitzler-Preis (2012) Franz-Hessel-Preis (2010) Anton-Wildgans-Preis (2009) Solothurner Literaturpreis (2005) Internationaler Preis für Kunst und Kultur des Kulturfonds der Stadt Salzburg (2005) Förderpreis des Schillergedächtnispreises (2004) Preis der SWR-Bestenliste (2004) Bruno Kreisky Preis 2004 für das beste politische Buch Alexander von Sacher-Masoch-Preis (2001) Italo-Svevo-Preis (2001) Nossack-Förderpreis (2003) RIAS Preis (2003) New York Stipendium des Literaturfonds (2001 Reinhard Priessnitz-Preis (1995) Meta-Merzpreis (1995) Salzburger Landesliteraturpreis (1992)
Produktdetails
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 208
- Erscheinungstermin: 26. Juli 2023
- Deutsch
- Abmessung: 205mm x 132mm x 23mm
- Gewicht: 312g
- ISBN-13: 9783103971552
- ISBN-10: 3103971559
- Artikelnr.: 67765640
Herstellerkennzeichnung
FISCHER, S.
Hedderichstraße 114
60596 Frankfurt
produktsicherheit@fischerverlage.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess sieht Rezensent Julian Weber das Dokumentarische im Vordergrund. Die skandalösen Hintergründe des Prozesses kann Röggla kaum aufarbeiten, bemerkt Weber, für vieles sind die Beweise verschwunden. Sie konzentriert sich auf die Schilderung des Prozesses: Die Figuren sind "eine kritische Masse", ein "Wir", das von der Zuschauertribüne über den Prozess diskutiert, erklärt der Kritiker. Dieses, so Weber, wird zur wichtigen Instanz, vor allem um das Ungesagte, zum Beispiel das Schweigen der Hauptangeklagten zu besprechen, was Weber für einen gekonnten Kniff hält. Beobachtungen, die im Buch zunächst banal erscheinen, wie ein mit Pflaster verklebtes Hakenkreuz-Tattoo, erweisen sich später als "penibel, peinsam, oft auch unheimlich zu lesen", staunt er. Das hier ist kein "Gerichtsdrama", sondern dekliniert juristische Formalitäten durch: Keine leichte Lektüre, meint der Kritiker, und das ist auch gut so.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Gericht ist kein Ort der Trauer
Kathrin Rögglas Roman "Laufendes Verfahren" spielt beim NSU-Prozess auf der Zuschauerbank - als ein Sittenbild von Gesellschaft und Justiz.
Was ist das für ein Roman, in dem die handelnden Personen Namen tragen wie Grundsatzyildiz, Gerichtsopa, Bloggerklaus oder Omagegenrechts? Einer, der typisiert. Aber auch einer, der ansonsten keine Namen nennt, obwohl er zur Handlungsgrundlage eines der spektakulärsten (und deshalb bekanntesten) deutschen Gerichtsverfahren hat: den NSU-Prozess, der in München vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 mit 438 Verhandlungstagen stattfand und in In- und Ausland ein gewaltiges Medienecho fand. Zu Recht, waren von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU doch in
Kathrin Rögglas Roman "Laufendes Verfahren" spielt beim NSU-Prozess auf der Zuschauerbank - als ein Sittenbild von Gesellschaft und Justiz.
Was ist das für ein Roman, in dem die handelnden Personen Namen tragen wie Grundsatzyildiz, Gerichtsopa, Bloggerklaus oder Omagegenrechts? Einer, der typisiert. Aber auch einer, der ansonsten keine Namen nennt, obwohl er zur Handlungsgrundlage eines der spektakulärsten (und deshalb bekanntesten) deutschen Gerichtsverfahren hat: den NSU-Prozess, der in München vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 mit 438 Verhandlungstagen stattfand und in In- und Ausland ein gewaltiges Medienecho fand. Zu Recht, waren von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU doch in
Mehr anzeigen
den Jahren von 2000 bis 2007 zahlreiche Anschläge begangen worden, bei denen zehn Menschen ermordet wurden. Auf die Spur kamen die Ermittler den drei Haupttätern erst, als diese 2011 ihre Unterkünfte abbrannten, wobei zwei starben. Die überlebende dritte Täterin und ihr Unterstützerumfeld waren in München angeklagt. Und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand dort auch das Versagen der Ermittler vor Gericht.
Ein ernstes Thema, eines, das die Republik (zumindest deren rechtsstaatsgläubigen Teil) in ihren Grundfesten erschüttert hat. Und darüber ein Roman mit Figuren, deren Bezeichnungen man als frivol ansehen könnte? Kathrin Rögglas gerade erschienenes "Laufendes Verfahren" ist indes alles andere als das. Die 1971 geborene österreichische, für fast drei Jahrzehnte in Berlin und heute in Köln lebende Schriftstellerin ist - was man dem Abstand ihrer Publikationen ablesen kann - eine höchst skrupulöse Autorin. Ihr letzter Prosaband, "Nachtsendung", liegt sieben Jahre zurück. Kein Wunder, denn damals und in der Zwischenzeit saß sie selbst immer wieder dort, wo ihr neuer Roman nun spielt: im Zuschauerraum des Sitzungssaals 101 des Oberlandesgerichts München.
München - das ist phonetisch ganz nahe an Münchhausen, aber dazwischen liegen Welten. Münchhausen, so ist ganz am Ende des Romans zu lesen, steht fürs Geschichtenerzählen: "Wo die Welt als eine Ansammlung an skurrilen Ereignissen und Begebenheiten erscheint, wo einem Dinge einfach zufällig zustoßen und nicht etwa geplant und eingerichtet. Ein herrlicher Ort." Das Gegenteil dessen, was der NSU-Gerichtssaal darstellt.
In ihn treten wir (und das ist Rögglas Erzählperspektive: "wir", aber nicht als Pluralis Majestatis, sondern als Verkörperung des Kollektivs der Prozessbeobachter) mitten im laufenden Verfahren, und Stellen wie der folgenden liest man die Vertrautheit Rögglas mit dem Besuch der Verhandlungen ab: "Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird." Das Wiederholungsprinzip ist auch eines der Stilmittel im Roman "Laufendes Verfahren".
Er ist jedoch nicht redundant, es passiert immens viel - es steht ja das ganze Land vor den Schranken des Gerichts, mitangeklagt und/oder als Beobachter. Und die im Roman namenlosen Akteure des Prozesses ("die Person mit den Haaren", "Tätervater", "Vorsitzender") treten wortlos auf, denn alles, was gesprochen wird, ist gefiltert durch die Wahrnehmung der Zuschauer. Röggla war schon immer eine genaue Analytikerin der medial vermittelten Gesellschaftsordnung, nicht umsonst gewann sie 2020 mit ihrem Essay "Bauernkriegspanorama", in dem sie über die seit Ende der Achtzigerjahre (ihrem eigenen Einstieg in die intellektuelle Welt) gewandelten Sprecherpositionen nachdenkt, den hoch dotierten Wortmeldungen-Preis. Für "Laufendes Verfahren" ist ihr schon vor Erscheinen des Romans der diesjährige Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zugesprochen worden, der dezidiert einem politischen Verständnis von Literatur gilt.
Wer nun befürchtete, dass es abstrakt und thetisch zugeht in Rögglas Buch, der täuschte sich. So bedeuten die charakterisierenden Namen der Personen auf der Zuschauertribüne keine Anonymisierung dieser Figuren, sondern eine Konkretisierung: Bereinigt um ihre bürgerlichen Namen, treten sie aus dem Kontext des staatlich verfassten Justizsystems heraus und gehen ganz in ihrer Rolle als Repräsentanten auf, die deshalb auch typisiert sprechen können. Im Laufe des zweihundertseitigen Geschehens - auch das eine Kunst: fünf Jahre auf diesen Prosaumfang zu verdichten - lernen wir sie mit ihren Marotten und Manierismen lieben, sie werden Vertraute selbst dann, wenn uns ihre Einstellungen zum Prozess nicht sympathisch sein sollten - und so viel sei gesagt: An irgendeinem aus Rögglas Personal wird sich jeder Leser reiben. Doch alle tragen Mosaiksteinchen zum Romangeschehen bei, das eine Beobachterin allein nicht würde erzählen können: "Wir werden uns ablenken lassen. Wir werden plötzlich an den Kyffhäuserkreis denken und an Nordthüringen, aber Baden-Württemberg nicht auf dem Kieker gehabt haben, wir werden beim Baden-Württembergischen Untersuchungsausschuss nicht anwesend gewesen sein und auch nicht beim Thüringischen; 'schon wieder habt ihr nicht aufgepasst', informiert uns der Bloggerklaus, 'schon wieder wisst ihr nicht, was los ist'." Das Beharren auf ihren jeweils subjektiv wahren Blicken ist ein wiederkehrendes Motiv der typisierten Prozessbesucher. Bisweilen ist das sogar komisch. Wie wohl jeder Blick ins Intimleben, auch in das eines Prozesses.
Warum auch nicht? Denn das, was so viele Beobachter, Kommentatoren und vor allem Angehörige der Opfer sich vorgestellt haben: dass Trauerarbeit geleistet werde, das widerspricht dem Charakter der Institution Recht. "Wie bekommt man sie ins Gericht hinein, die Trauer, beginnen wir uns zu fragen. Das Gericht ist kein Ort dafür, es gibt hier keine Gesten, die diesbezüglich zuzuordnen sind, und wenn sie doch kommen, werden sie vom Richter schnell unterbrochen, ja, abgebrochen." Kathrin Röggla hat den Rechtsstaat und dessen Grenzen nicht auf den Begriff, aber auf einen Roman gebracht. ANDREAS PLATTHAUS
Kathrin Röggla:
"Laufendes Verfahren". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein ernstes Thema, eines, das die Republik (zumindest deren rechtsstaatsgläubigen Teil) in ihren Grundfesten erschüttert hat. Und darüber ein Roman mit Figuren, deren Bezeichnungen man als frivol ansehen könnte? Kathrin Rögglas gerade erschienenes "Laufendes Verfahren" ist indes alles andere als das. Die 1971 geborene österreichische, für fast drei Jahrzehnte in Berlin und heute in Köln lebende Schriftstellerin ist - was man dem Abstand ihrer Publikationen ablesen kann - eine höchst skrupulöse Autorin. Ihr letzter Prosaband, "Nachtsendung", liegt sieben Jahre zurück. Kein Wunder, denn damals und in der Zwischenzeit saß sie selbst immer wieder dort, wo ihr neuer Roman nun spielt: im Zuschauerraum des Sitzungssaals 101 des Oberlandesgerichts München.
München - das ist phonetisch ganz nahe an Münchhausen, aber dazwischen liegen Welten. Münchhausen, so ist ganz am Ende des Romans zu lesen, steht fürs Geschichtenerzählen: "Wo die Welt als eine Ansammlung an skurrilen Ereignissen und Begebenheiten erscheint, wo einem Dinge einfach zufällig zustoßen und nicht etwa geplant und eingerichtet. Ein herrlicher Ort." Das Gegenteil dessen, was der NSU-Gerichtssaal darstellt.
In ihn treten wir (und das ist Rögglas Erzählperspektive: "wir", aber nicht als Pluralis Majestatis, sondern als Verkörperung des Kollektivs der Prozessbeobachter) mitten im laufenden Verfahren, und Stellen wie der folgenden liest man die Vertrautheit Rögglas mit dem Besuch der Verhandlungen ab: "Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird." Das Wiederholungsprinzip ist auch eines der Stilmittel im Roman "Laufendes Verfahren".
Er ist jedoch nicht redundant, es passiert immens viel - es steht ja das ganze Land vor den Schranken des Gerichts, mitangeklagt und/oder als Beobachter. Und die im Roman namenlosen Akteure des Prozesses ("die Person mit den Haaren", "Tätervater", "Vorsitzender") treten wortlos auf, denn alles, was gesprochen wird, ist gefiltert durch die Wahrnehmung der Zuschauer. Röggla war schon immer eine genaue Analytikerin der medial vermittelten Gesellschaftsordnung, nicht umsonst gewann sie 2020 mit ihrem Essay "Bauernkriegspanorama", in dem sie über die seit Ende der Achtzigerjahre (ihrem eigenen Einstieg in die intellektuelle Welt) gewandelten Sprecherpositionen nachdenkt, den hoch dotierten Wortmeldungen-Preis. Für "Laufendes Verfahren" ist ihr schon vor Erscheinen des Romans der diesjährige Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zugesprochen worden, der dezidiert einem politischen Verständnis von Literatur gilt.
Wer nun befürchtete, dass es abstrakt und thetisch zugeht in Rögglas Buch, der täuschte sich. So bedeuten die charakterisierenden Namen der Personen auf der Zuschauertribüne keine Anonymisierung dieser Figuren, sondern eine Konkretisierung: Bereinigt um ihre bürgerlichen Namen, treten sie aus dem Kontext des staatlich verfassten Justizsystems heraus und gehen ganz in ihrer Rolle als Repräsentanten auf, die deshalb auch typisiert sprechen können. Im Laufe des zweihundertseitigen Geschehens - auch das eine Kunst: fünf Jahre auf diesen Prosaumfang zu verdichten - lernen wir sie mit ihren Marotten und Manierismen lieben, sie werden Vertraute selbst dann, wenn uns ihre Einstellungen zum Prozess nicht sympathisch sein sollten - und so viel sei gesagt: An irgendeinem aus Rögglas Personal wird sich jeder Leser reiben. Doch alle tragen Mosaiksteinchen zum Romangeschehen bei, das eine Beobachterin allein nicht würde erzählen können: "Wir werden uns ablenken lassen. Wir werden plötzlich an den Kyffhäuserkreis denken und an Nordthüringen, aber Baden-Württemberg nicht auf dem Kieker gehabt haben, wir werden beim Baden-Württembergischen Untersuchungsausschuss nicht anwesend gewesen sein und auch nicht beim Thüringischen; 'schon wieder habt ihr nicht aufgepasst', informiert uns der Bloggerklaus, 'schon wieder wisst ihr nicht, was los ist'." Das Beharren auf ihren jeweils subjektiv wahren Blicken ist ein wiederkehrendes Motiv der typisierten Prozessbesucher. Bisweilen ist das sogar komisch. Wie wohl jeder Blick ins Intimleben, auch in das eines Prozesses.
Warum auch nicht? Denn das, was so viele Beobachter, Kommentatoren und vor allem Angehörige der Opfer sich vorgestellt haben: dass Trauerarbeit geleistet werde, das widerspricht dem Charakter der Institution Recht. "Wie bekommt man sie ins Gericht hinein, die Trauer, beginnen wir uns zu fragen. Das Gericht ist kein Ort dafür, es gibt hier keine Gesten, die diesbezüglich zuzuordnen sind, und wenn sie doch kommen, werden sie vom Richter schnell unterbrochen, ja, abgebrochen." Kathrin Röggla hat den Rechtsstaat und dessen Grenzen nicht auf den Begriff, aber auf einen Roman gebracht. ANDREAS PLATTHAUS
Kathrin Röggla:
"Laufendes Verfahren". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schließen
literarisch bewundernswert [...] Rögglas Roman wird bleiben. Gießener Allgemeine 20231111
In Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess sieht Rezensent Julian Weber das Dokumentarische im Vordergrund. Die skandalösen Hintergründe des Prozesses kann Röggla kaum aufarbeiten, bemerkt Weber, für vieles sind die Beweise verschwunden. Sie konzentriert sich auf die Schilderung des Prozesses: Die Figuren sind "eine kritische Masse", ein "Wir", das von der Zuschauertribüne über den Prozess diskutiert, erklärt der Kritiker. Dieses, so Weber, wird zur wichtigen Instanz, vor allem um das Ungesagte, zum Beispiel das Schweigen der Hauptangeklagten zu besprechen, was Weber für einen gekonnten Kniff hält. Beobachtungen, die im Buch zunächst banal erscheinen, wie ein mit Pflaster verklebtes Hakenkreuz-Tattoo, erweisen sich später als "penibel, peinsam, oft auch unheimlich zu lesen", staunt er. Das hier ist kein "Gerichtsdrama", sondern dekliniert juristische Formalitäten durch: Keine leichte Lektüre, meint der Kritiker, und das ist auch gut so.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Beobachter-Clique auf der Empore
Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, …
Mehr
Die Beobachter-Clique auf der Empore
Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?
Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, - es berichtet nur.
Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.
Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Kathrin Röggla hatte schon ein Theaterstück über den NSU-Prozess gemacht, jetzt folgt der Roman.
Über den Ablauf und Inhalt des NSU-Prozess erfährt man nicht so viel, da muss man Kenntnisse darüber schon mitbringen.
Röggla zeigt unabhängige Zuschauer aus der …
Mehr
Kathrin Röggla hatte schon ein Theaterstück über den NSU-Prozess gemacht, jetzt folgt der Roman.
Über den Ablauf und Inhalt des NSU-Prozess erfährt man nicht so viel, da muss man Kenntnisse darüber schon mitbringen.
Röggla zeigt unabhängige Zuschauer aus der Mitte der Gesellschaft. Erzählt wird in einer Wir-Form. Daher haben die erzählenden Figuren kein eigenes Profil, aber ihr Blick auf das geschehen lässt einen allgemeinen Eindruck zu. Und es gibt die Figuren in der Zuschauerumgebung des Wir. Da ist z.B. Bloggerklaus, Omagegenrechts und ähnliche skurrile Figuren.
Durch die gediegene Erzählform gelingt es Kathrin Röggla Ironie und Leichtigkeit in den ernsten Stoff hinauszubringen. Teilweise finde ich das sehr interessant, streckenweise bleibe ich aber auch ratlos.
Immerhin bekommt man einen Eindruck, wie dieser entscheidende Prozess auf die Zuschauer wirkte.
Weniger
Antworten 0 von 1 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 1 finden diese Rezension hilfreich
eBook, ePUB
Die „Wir-Erzählerin“ sitzt im Gerichtssaal. Auf einer Empore mit vielen anderen Zuschauern. Sie hat einen guten Blick zum Richter, den Angeklagten und den Verteidigern. Für das Verfahren wurden extra Räume umgebaut und viele Stühle platziert. Das Interesse war sehr …
Mehr
Die „Wir-Erzählerin“ sitzt im Gerichtssaal. Auf einer Empore mit vielen anderen Zuschauern. Sie hat einen guten Blick zum Richter, den Angeklagten und den Verteidigern. Für das Verfahren wurden extra Räume umgebaut und viele Stühle platziert. Das Interesse war sehr groß und der Platz nur begrenzt. Zumal auch eine Vielzahl an Medienvertretern der Verhandlung folgten. „Laufendes Verfahren“ beschreibt ebenfalls, dass selbst Männer mit Hakenkreuztattoo im Nacken zur Aussage zugelassen wurden. Unmöglich in Deutschland? Nein, eine Tatsache.
Ich behaupte mal, dass kein Prozess so sehr beachtet wurde, wie dieser sogenannte NSU-Prozess. Und eine Bundeskanzlerin versprach den Betroffenen sogar „rückhaltlose Aufklärung“. Was war es zum Schluss? „Pflaster drauf und gut ist´s“? 5 Jahre dauerte das Hin und Her. Formfehler wurden beanstandet, Verteidiger ausgewechselt und immer wieder wurde vertagt. Es gab Nebenkläger, die davon derart zermürbt waren, dass sie ihre Klage zurücknahmen.
Die Autorin schreibt tatsächlich immer „wir“. Sie beobachtet gemeinsam mit einer „Omagegenrechts“, einem „Gerichtsopa“, einer „Grundsatzyiliz“ und einem „Bloggerklaus“. Sie zitiert manchmal wörtlich aus den Akten und dann wieder humorvoll, aus ihrer Phantasie. Und trotzdem bleibt nach dem Lesen ein fader Geschmack. Eins wird nämlich deutlich: zu viele Fakten wurden verschwiegen und das gilt besonders für den Verfassungsschutz und dessen V-Männer. In meinen Augen haben die Verantwortlichen versagt und die Täter mit Samthandschuhen angefasst. Das Buch ist durchaus lesenswert, wenngleich auch die Gedankengänge der Autorin nicht immer nachvollziehbar sind.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Andere Kunden interessierten sich für