Jenny Erpenbeck
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Entdeckungsreise zu einer Welt, die zumSchweigen verurteilt, aber mitten unter uns istWie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Wel...
Entdeckungsreise zu einer Welt, die zum
Schweigen verurteilt, aber mitten unter uns ist
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
Schweigen verurteilt, aber mitten unter uns ist
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u. a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Produktdetails
- Verlag: Knaus
- Seitenzahl: 351
- Erscheinungstermin: September 2015
- Deutsch
- Abmessung: 223mm x 146mm x 35mm
- Gewicht: 576g
- ISBN-13: 9783813503708
- ISBN-10: 3813503704
- Artikelnr.: 42685060
Herstellerkennzeichnung
Knaus Albrecht
Neumarkter Str 28
81673 München
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Jenny Erpenbeck hat einen brandaktuellen Tatsachenroman zur Lage der afrikanischen Flüchtlinge in Berlin geschrieben. Dabei ist "Gehen, ging, gegangen" kein Aufruf zur Weltverbesserung.
Der Berliner Senat bezahlt den Deutschunterricht auch für die Flüchtlinge, die nur geduldet sind und bald abgeschoben werden sollen, ja sogar für die, die nicht einmal geduldet sind, also rechtlich eigentlich gar nicht vorhanden. Da lernen sie dann das unregelmäßige Verb "gehen", Grimms Wörterbuch zufolge "ein nach Form und Gehalt überaus reich entwickeltes Wort, dessen erschöpfende Behandlung ein Werk für sich wäre". Die Konjugation enthält das ganze raumzeitliche Vorstellungsvermögen, und so erkennen auch die
Jenny Erpenbeck hat einen brandaktuellen Tatsachenroman zur Lage der afrikanischen Flüchtlinge in Berlin geschrieben. Dabei ist "Gehen, ging, gegangen" kein Aufruf zur Weltverbesserung.
Der Berliner Senat bezahlt den Deutschunterricht auch für die Flüchtlinge, die nur geduldet sind und bald abgeschoben werden sollen, ja sogar für die, die nicht einmal geduldet sind, also rechtlich eigentlich gar nicht vorhanden. Da lernen sie dann das unregelmäßige Verb "gehen", Grimms Wörterbuch zufolge "ein nach Form und Gehalt überaus reich entwickeltes Wort, dessen erschöpfende Behandlung ein Werk für sich wäre". Die Konjugation enthält das ganze raumzeitliche Vorstellungsvermögen, und so erkennen auch die
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afrikanischen Flüchtlinge im Verb der Bewegung bald ihr eigenes Schicksal wieder. Durch die Wüste sind sie gegangen, einen langen Weg über viele Grenzen von einem vorläufigen Ort zum anderen, und nun werden sie bald wieder gehen.
Richard, kürzlich pensionierter Professor für alte Sprachen, hadert mit der Zeit. "Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen." Seine Frau ist gestorben, seine Geliebte hat ihn verlassen. Kinder hat er nicht, so lebt er allein in seinem Haus vor den Toren Berlins, das ihm mit viel Glück aus DDR-Zeiten verblieben ist. Denen trauert er nicht nach, er hatte sich zwar arrangiert, galt aber ausweislich seiner Stasi-Akte als politisch unzuverlässig und untauglich für eine inoffizielle Mitarbeit. Für Politik hat er sich auch als Bürger der Bundesrepublik nicht sonderlich interessiert, er ist auch kein besonders moralischer Mensch, doch denkt er in der Tradition der Philosophen der Antike darüber nach, wie es denn mit "dem wirklich Richtigen" bestellt sei.
Unterwegs zum Einkaufen in Berlin kommt er an einer Demonstration auf dem Oranienplatz vorbei, mit der afrikanische Flüchtlinge, die sich weigern, ihre Identität preiszugeben, bei ihrem Hungerstreik unterstützt werden sollen. "We become visible" lautet das Motto. Die Bilder sieht er beim Abendbrot im Fernsehen und wundert sich, dass er nichts gesehen hat, als er am Schauplatz vorbeiging. Doch scheinen ihm solche Bilder beliebig, die Erzählung dahinter kann er nicht erkennen. Die Beendigung des Streiks bedauert er aber, denn die "Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen". Es erinnerte ihn an Odysseus, der dem Zyklopen entrann, weil er sich als "Niemand" ausgab.
Langsam erwacht ein Interesse, so geht er zum Oranienplatz und schaut sich ein Protestcamp der Flüchtlinge an, das aufgrund einer windigen Vereinbarung mit dem Senat gerade abgebaut wird. Unversehens wird ein Projekt aus seinem undefinierten Interesse, doch wird ihm schnell klar, wie wenig er weiß. Nicht einmal die Hauptstädte der afrikanischen Staaten weiß er zu benennen. Er möchte erforschen, was die Flüchtlinge denken, zugleich aber, was ihn selbst beschäftigt, was Zeit bedeutet, die er nun im Überfluss hat. Daher verfällt er auf die Idee, dass man dazu am besten mit denen spricht, "die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will." So stellt er sich einen Fragenkatalog zusammen, wie es empirische Forschung erfordert, und sucht die Afrikaner vom Oranienplatz in ihrer Notunterkunft auf.
Die Flüchtlinge antworten erstaunlich bereitwillig auf seine Fragen. Wenn jemand irgendwo ankommen wolle, dürfe er nichts verbergen, sagt Awad. Er wurde in Ghana geboren, seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Seine Großmutter hat ihn aufgezogen. Mit seinem Vater ist er dann nach Libyen gegangen. Beide hatten Arbeit in Tripolis. "Es war ein gutes Leben." Dann wurde der Vater erschossen, die Wohnung verwüstet. Während Awad noch hilflos auf der Straße stand, kam eine Militärstreife, die ihn und andere Schwarzafrikaner aufgriff und ihnen alles wegnahm. Wie um ihr Gedächtnis zu vernichten, wurden die Sim-Karten ihrer Telefone vor ihren Augen zerbrochen. Während noch die europäischen Bomben fielen, wurden sie auf ein Boot getrieben. Auf der Überfahrt nach Sizilien starben viele. Mit dem in einer Küche verdienten Geld buchte Awad einen Flug nach Berlin. Vom Flughafen aus leiteten ihn andere Flüchtlinge direkt auf den Oranienplatz. Als er die Zelte sieht, fängt er an zu weinen, er hat noch nie in einem Zelt übernachtet. Doch bekommt er einen Platz zum Schlafen und zu essen. Wenn man ein Fremder geworden ist, sagt er, hat man keine Wahl. Den Oranienplatz will er gleichwohl in Ehren halten als einen Ort, an dem man ihn aufgenommen hat.
Aus den Geschichten, die Richard hört und abends aufschreibt, ergeben sich weitere Fragen. Diese Männer wollen alle arbeiten, warum dürfen sie es nicht? Und warum werden sie nicht nach ihren Geschichten gefragt und entsprechend als Kriegsopfer behandelt? Nach der Lektüre der europäischen Verordnung "Dublin II" versteht er, dass diese Geschichten hier gar nicht gefragt sind. Zuständig ist das europäische Land, das die Flüchtlinge zum ersten Mal betreten haben. In Awads Fall Italien. Alle Länder, die keine Mittelmeerküste haben, sind also für diese Geschichten nicht zuständig. Italien lässt die Flüchtlinge gern gehen, aber ankommen dürfen sie nirgends, denkt Richard. Er versucht, sich vorzustellen, wie sich das anhört, wenn man solche Gesetze auf Arabisch erklärt. Nicht nur Richard denkt, auch die Flüchtlinge. "Wir denken und denken, weil wir nicht wissen, was wird."
Vieles in den Geschichten versteht Richard nicht auf Anhieb, aber immer erneutes Fragen hilft. Zunehmend aber sind es Richards neue Freunde, die Fragen stellen. Warum hat er sich denn entschieden, keine Kinder zu haben? Das können die Afrikaner nicht verstehen. Das trifft einen wunden Punkt, und beinahe kann Richard es im Rückblick auch nicht mehr verstehen. Dass man Menschen mit einer Mauer gehindert hat zu gehen, findet Rufu kurios. Ebenso, dass man einen Pass bekam, wenn man es dennoch geschafft hatte. "Es waren alles Brüder und Schwestern?", fragt Rufu.
Ein Freund von ihm hatte den Zaun von Melilla überwunden, wurde aber gleich wieder nach Marokko zurückgeschickt. Da weiß Richard nicht mehr weiter. In deutsch-deutschen Fragen scheitert also die Kommunikation. Besser funktioniert deutscher Gesang. In seinem Auto stimmt Richard die Weise an: "Hab' mein Wagen voll geladen, voll mit Afrikanern!" Da johlen und klatschen alle. Eigentlich ist ja in dem Lied von jungen Weibern die Rede, "aber was die Silbenzahl angeht, sind die Afrikaner perfekt", findet der Altphilologe.
Wie Verständnis und Unverständnis ineinanderpassen, zeigt sich in einer beinahe komödiantischen Szene von Jenny Erpenbecks Roman, in der Richard den langen Ithemba zu seinem Anwalt begleitet, um die Abschiebung zu verhindern. Ithemba ist durch die Hölle gegangen, aber angesichts der vielen Akten ergreift ihn Furcht. "Papier kann man nicht essen", sagt er. Der Anwalt mit klassischer Bildung, der einem Uhu ähnelt, aber scherzt, man esse Papier in Deutschland, womit er unter anderem meint, "dass die Ausländerbehörde die italienischen Papiere der afrikanischen Flüchtlinge einbehält, um sie zur Ausreise zu zwingen". Das dürfen die gar nicht, ruft der Uhu aus. Illegal sind die Flüchtlinge hier, aber die Behörden und die europäischen Staaten handeln noch großzügiger wider Recht und Vereinbarung. Die die Überquerung des Mittelmeers überlebt haben, müssen nun "in Meeren aus Akten ertrinken", denkt Richard.
Er lernt die wenig feinen Unterschiede in der Verwaltung von Flüchtlingen kennen. Seine Freunde vom Oranienplatz, erfährt Richard beim Anwalt, haben nicht einmal eine Duldung, "und selbst wenn sie eine hätten: So eine Duldung ist kein Aufenthaltsstatus." Sondern lediglich "eine Aussetzung der Abschiebung". Die Anwesenheit der Afrikaner ist also dadurch definiert, dass sie gehen müssen. Der junge Tuareg, den Richard zuerst befragt, interpretiert das stolz als Freiheit: "wenn ich gehen muss, kann ich gehen".
"Wir haben nichts zu verschenken", sagt das Gesetz und sagen die Leute, "die afrikanischen Probleme müssen in Afrika gelöst werden." Bei den Germanen war das anders, sagt der Anwalt und rezitiert Tacitus: "Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein." Das hatte der Altphilologe früher nur gelesen, nun deutet er es praktisch. Er quartiert einige der Männer bei sich ein und veranlasst seine Freunde, ein Gleiches zu tun. Aus seiner Perspektive ist das weniger ein Werk der Barmherzigkeit, vielmehr ein Versuch, an der Stelle, an der man ist, das Rechte zu tun, anstatt die Verbesserung der Welt nur zu fordern.
Jenny Erpenbecks gründlich recherchierter Tatsachenroman erscheint an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit. Das könnte Missverständnisse erzeugen. Es handelt sich nämlich nicht um einen flammenden Aufruf zur Weltverbesserung, sondern um eine Geschichte aus individuellen Geschichten, eine erzählerische Konstruktion symbolischer Zuständigkeit für das Erleben und Erleiden der Flüchtlinge, die in der Wirklichkeit der Flüchtlingsverwaltung nicht gegeben ist.
Obwohl diese Geschichten sehr bewegend sind, appelliert "Gehen, ging, gegangen" nicht vordergründig an das Mitleid des Lesers. Vielmehr bringt dieser Roman sehr reflektiert und durchaus unterhaltsam die Literatur als Medium des Verstehens zur Geltung, in dem sich das Fremde und das Eigene als zwei Seiten eines Zusammenhangs erweisen. Oder wie der Anwalt die alten Römer zu zitieren pflegt: "Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an."
FRIEDMAR APEL
Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen". Roman.
Knaus Verlag, München 2015. 352 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Richard, kürzlich pensionierter Professor für alte Sprachen, hadert mit der Zeit. "Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen." Seine Frau ist gestorben, seine Geliebte hat ihn verlassen. Kinder hat er nicht, so lebt er allein in seinem Haus vor den Toren Berlins, das ihm mit viel Glück aus DDR-Zeiten verblieben ist. Denen trauert er nicht nach, er hatte sich zwar arrangiert, galt aber ausweislich seiner Stasi-Akte als politisch unzuverlässig und untauglich für eine inoffizielle Mitarbeit. Für Politik hat er sich auch als Bürger der Bundesrepublik nicht sonderlich interessiert, er ist auch kein besonders moralischer Mensch, doch denkt er in der Tradition der Philosophen der Antike darüber nach, wie es denn mit "dem wirklich Richtigen" bestellt sei.
Unterwegs zum Einkaufen in Berlin kommt er an einer Demonstration auf dem Oranienplatz vorbei, mit der afrikanische Flüchtlinge, die sich weigern, ihre Identität preiszugeben, bei ihrem Hungerstreik unterstützt werden sollen. "We become visible" lautet das Motto. Die Bilder sieht er beim Abendbrot im Fernsehen und wundert sich, dass er nichts gesehen hat, als er am Schauplatz vorbeiging. Doch scheinen ihm solche Bilder beliebig, die Erzählung dahinter kann er nicht erkennen. Die Beendigung des Streiks bedauert er aber, denn die "Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen". Es erinnerte ihn an Odysseus, der dem Zyklopen entrann, weil er sich als "Niemand" ausgab.
Langsam erwacht ein Interesse, so geht er zum Oranienplatz und schaut sich ein Protestcamp der Flüchtlinge an, das aufgrund einer windigen Vereinbarung mit dem Senat gerade abgebaut wird. Unversehens wird ein Projekt aus seinem undefinierten Interesse, doch wird ihm schnell klar, wie wenig er weiß. Nicht einmal die Hauptstädte der afrikanischen Staaten weiß er zu benennen. Er möchte erforschen, was die Flüchtlinge denken, zugleich aber, was ihn selbst beschäftigt, was Zeit bedeutet, die er nun im Überfluss hat. Daher verfällt er auf die Idee, dass man dazu am besten mit denen spricht, "die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will." So stellt er sich einen Fragenkatalog zusammen, wie es empirische Forschung erfordert, und sucht die Afrikaner vom Oranienplatz in ihrer Notunterkunft auf.
Die Flüchtlinge antworten erstaunlich bereitwillig auf seine Fragen. Wenn jemand irgendwo ankommen wolle, dürfe er nichts verbergen, sagt Awad. Er wurde in Ghana geboren, seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Seine Großmutter hat ihn aufgezogen. Mit seinem Vater ist er dann nach Libyen gegangen. Beide hatten Arbeit in Tripolis. "Es war ein gutes Leben." Dann wurde der Vater erschossen, die Wohnung verwüstet. Während Awad noch hilflos auf der Straße stand, kam eine Militärstreife, die ihn und andere Schwarzafrikaner aufgriff und ihnen alles wegnahm. Wie um ihr Gedächtnis zu vernichten, wurden die Sim-Karten ihrer Telefone vor ihren Augen zerbrochen. Während noch die europäischen Bomben fielen, wurden sie auf ein Boot getrieben. Auf der Überfahrt nach Sizilien starben viele. Mit dem in einer Küche verdienten Geld buchte Awad einen Flug nach Berlin. Vom Flughafen aus leiteten ihn andere Flüchtlinge direkt auf den Oranienplatz. Als er die Zelte sieht, fängt er an zu weinen, er hat noch nie in einem Zelt übernachtet. Doch bekommt er einen Platz zum Schlafen und zu essen. Wenn man ein Fremder geworden ist, sagt er, hat man keine Wahl. Den Oranienplatz will er gleichwohl in Ehren halten als einen Ort, an dem man ihn aufgenommen hat.
Aus den Geschichten, die Richard hört und abends aufschreibt, ergeben sich weitere Fragen. Diese Männer wollen alle arbeiten, warum dürfen sie es nicht? Und warum werden sie nicht nach ihren Geschichten gefragt und entsprechend als Kriegsopfer behandelt? Nach der Lektüre der europäischen Verordnung "Dublin II" versteht er, dass diese Geschichten hier gar nicht gefragt sind. Zuständig ist das europäische Land, das die Flüchtlinge zum ersten Mal betreten haben. In Awads Fall Italien. Alle Länder, die keine Mittelmeerküste haben, sind also für diese Geschichten nicht zuständig. Italien lässt die Flüchtlinge gern gehen, aber ankommen dürfen sie nirgends, denkt Richard. Er versucht, sich vorzustellen, wie sich das anhört, wenn man solche Gesetze auf Arabisch erklärt. Nicht nur Richard denkt, auch die Flüchtlinge. "Wir denken und denken, weil wir nicht wissen, was wird."
Vieles in den Geschichten versteht Richard nicht auf Anhieb, aber immer erneutes Fragen hilft. Zunehmend aber sind es Richards neue Freunde, die Fragen stellen. Warum hat er sich denn entschieden, keine Kinder zu haben? Das können die Afrikaner nicht verstehen. Das trifft einen wunden Punkt, und beinahe kann Richard es im Rückblick auch nicht mehr verstehen. Dass man Menschen mit einer Mauer gehindert hat zu gehen, findet Rufu kurios. Ebenso, dass man einen Pass bekam, wenn man es dennoch geschafft hatte. "Es waren alles Brüder und Schwestern?", fragt Rufu.
Ein Freund von ihm hatte den Zaun von Melilla überwunden, wurde aber gleich wieder nach Marokko zurückgeschickt. Da weiß Richard nicht mehr weiter. In deutsch-deutschen Fragen scheitert also die Kommunikation. Besser funktioniert deutscher Gesang. In seinem Auto stimmt Richard die Weise an: "Hab' mein Wagen voll geladen, voll mit Afrikanern!" Da johlen und klatschen alle. Eigentlich ist ja in dem Lied von jungen Weibern die Rede, "aber was die Silbenzahl angeht, sind die Afrikaner perfekt", findet der Altphilologe.
Wie Verständnis und Unverständnis ineinanderpassen, zeigt sich in einer beinahe komödiantischen Szene von Jenny Erpenbecks Roman, in der Richard den langen Ithemba zu seinem Anwalt begleitet, um die Abschiebung zu verhindern. Ithemba ist durch die Hölle gegangen, aber angesichts der vielen Akten ergreift ihn Furcht. "Papier kann man nicht essen", sagt er. Der Anwalt mit klassischer Bildung, der einem Uhu ähnelt, aber scherzt, man esse Papier in Deutschland, womit er unter anderem meint, "dass die Ausländerbehörde die italienischen Papiere der afrikanischen Flüchtlinge einbehält, um sie zur Ausreise zu zwingen". Das dürfen die gar nicht, ruft der Uhu aus. Illegal sind die Flüchtlinge hier, aber die Behörden und die europäischen Staaten handeln noch großzügiger wider Recht und Vereinbarung. Die die Überquerung des Mittelmeers überlebt haben, müssen nun "in Meeren aus Akten ertrinken", denkt Richard.
Er lernt die wenig feinen Unterschiede in der Verwaltung von Flüchtlingen kennen. Seine Freunde vom Oranienplatz, erfährt Richard beim Anwalt, haben nicht einmal eine Duldung, "und selbst wenn sie eine hätten: So eine Duldung ist kein Aufenthaltsstatus." Sondern lediglich "eine Aussetzung der Abschiebung". Die Anwesenheit der Afrikaner ist also dadurch definiert, dass sie gehen müssen. Der junge Tuareg, den Richard zuerst befragt, interpretiert das stolz als Freiheit: "wenn ich gehen muss, kann ich gehen".
"Wir haben nichts zu verschenken", sagt das Gesetz und sagen die Leute, "die afrikanischen Probleme müssen in Afrika gelöst werden." Bei den Germanen war das anders, sagt der Anwalt und rezitiert Tacitus: "Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein." Das hatte der Altphilologe früher nur gelesen, nun deutet er es praktisch. Er quartiert einige der Männer bei sich ein und veranlasst seine Freunde, ein Gleiches zu tun. Aus seiner Perspektive ist das weniger ein Werk der Barmherzigkeit, vielmehr ein Versuch, an der Stelle, an der man ist, das Rechte zu tun, anstatt die Verbesserung der Welt nur zu fordern.
Jenny Erpenbecks gründlich recherchierter Tatsachenroman erscheint an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit. Das könnte Missverständnisse erzeugen. Es handelt sich nämlich nicht um einen flammenden Aufruf zur Weltverbesserung, sondern um eine Geschichte aus individuellen Geschichten, eine erzählerische Konstruktion symbolischer Zuständigkeit für das Erleben und Erleiden der Flüchtlinge, die in der Wirklichkeit der Flüchtlingsverwaltung nicht gegeben ist.
Obwohl diese Geschichten sehr bewegend sind, appelliert "Gehen, ging, gegangen" nicht vordergründig an das Mitleid des Lesers. Vielmehr bringt dieser Roman sehr reflektiert und durchaus unterhaltsam die Literatur als Medium des Verstehens zur Geltung, in dem sich das Fremde und das Eigene als zwei Seiten eines Zusammenhangs erweisen. Oder wie der Anwalt die alten Römer zu zitieren pflegt: "Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an."
FRIEDMAR APEL
Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen". Roman.
Knaus Verlag, München 2015. 352 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Im Mittelpunkt von Jenny Erpenbecks Roman steht ein emeritierter Professor, für Judith von Sternburg ist die Wahl dieser Figur "auf den ersten Blick verfehlt, auf den zweiten genial". Dieser Richard sei ein lebensferner Akademiker, der sich den Flüchtlingen in seiner Stadt annähert - ohne spezielle Vorurteile, aber auch ohne große Ahnung. Erpenbeck nutze diese Ausgangslage geschickt für eine "höfliche Bloßstellung" ihres Protagonisten, wie Sternburg es formuliert. Die Autorin entwerfe keine Utopie, sondern erzähle vielmehr von der Kläglichkeit des Provisorischen, dem guten Willen. Dabei gestalte Erpenbeck ihre Geschichte subtil und erzähle virtuos, so Sternburg, mit einem schonungslosen Realismus, der im besten Fall "eindringliche Momente" schaffe. Die Kritikerin hätte gern mehr davon gehabt, in diesem von ihr immerhin als "Roman der Stunde" geadelten Werk.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"(...) dieser Roman ist realistisch: Nicht weil er Verhältnisse real darstellt, sondern weil er eine literarische Wirklichkeit aufbaut, die die Weltrealität reflektiert." NZZ am Sonntag, Stefana Sabin
Richard, frisch emeritierter Professor, fällt wie so viele vor ihm zu Beginn dieses neuen Lebensabschnittes in eine Leere, die er versucht mit Sinn zu füllen. Da seine Arbeit ihm das einzig Sinngebende scheint, entschließt er sich zu einem neuen Projekt: Was ist Zeit? Die richtigen …
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Richard, frisch emeritierter Professor, fällt wie so viele vor ihm zu Beginn dieses neuen Lebensabschnittes in eine Leere, die er versucht mit Sinn zu füllen. Da seine Arbeit ihm das einzig Sinngebende scheint, entschließt er sich zu einem neuen Projekt: Was ist Zeit? Die richtigen Gesprächspartner dazu sieht er in den Flüchtlingen, die in der Nähe seines Hauses untergekommen sind. Denn wer wenn nicht sie, die 'Aus-der-Zeit-Gefallenen', könnten ihm am besten erklären, was Zeit ist? Immer wieder besucht er sie und lässt sich ihr Leben erzählen; ihre Kindheit; ihre Flucht; ihr Ankommen; ihre Wünsche; ihre Träume. Je mehr er zuhört, umso mehr beginnt er zu verstehen, was diese Leute antreibt und überleben lässt. Richards Vorstellungen von der Welt und den Menschen beginnen sich zu ändern, langsam, Stück für Stück...
Die ersten 50 Seiten war ich kurz davor, das Buch zur Seite zu legen. Nichts als die selbstmitleidigen Gedanken eines Pensionärs, der nicht weiß wie er seine Tage füllen soll. Doch dann beginnt er mit seinem Projekt und nach und nach nimmt die Geschichte an Fahrt auf. Nicht in Form von Spannung und Action - der emeritierte Professor lässt sich auf die Geschichten der Flüchtlinge ein und man kann ihm buchstäblich dabei zusehen, wie sich seine Gedanken und seine Einstellungen ändern. Es ist nicht nur die Vergangenheit der Befragten, die so erschütternd ist, sondern auch die Aussichtslosigkeit des Lebens, das den Meisten bevorsteht. Keine Anerkennung als Flüchtling, keine Arbeit, Abschiebung wer weiß wohin, nirgendwo ein Leben mit Perspektive. Und alles nur, weil sie zur falschen Zeit im falschen Land geboren wurden.
Es ist kein mitleidheischendes Buch, der Ton ist vielmehr so sachlich-kühl, dass es mir fast schon wieder zu viel war. Und mit noch einem Punkt hadere ich ein bisschen: Fast Alle waren gut, niemand hatte böse Absichten und/oder kriminelle Energien. Selbst die einzige Person mit einer vielleicht nicht so weißen Weste blieb im Vagen und verursachte mehr schlechtes Gewissen als alles Andere. Schön, wenn es wirklich so wäre - für überzeugend halte ich es nicht.
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Mea culpa
Nach dem mäßigen Vorgänger hatte ich an den neuen Roman «Gehen, ging, gegangen» von Jenny Erpenbeck keine hohen Erwartungen; allein mein Vorhaben, alle sechs Romane der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises zu lesen, hat mich denn doch zur …
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Mea culpa
Nach dem mäßigen Vorgänger hatte ich an den neuen Roman «Gehen, ging, gegangen» von Jenny Erpenbeck keine hohen Erwartungen; allein mein Vorhaben, alle sechs Romane der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises zu lesen, hat mich denn doch zur Lektüre bewogen. Zudem wurde dieser Roman auch noch als Favorit gehandelt vom Feuilleton, was ja ebenfalls neugierig macht. Es war im übrigen mein letzter der sechs Finalisten-Romane, und im Rückblick kann ich nun die diesjährige Jury nur loben für ihren Sachverstand und Mut, Frank Witzels so gar nicht massentauglichen Roman über die Alte Bundesrepublik mit dem Preis zu ehren und nicht etwa den vorliegenden Roman mit seiner aktuellen Flüchtlingsthematik. Denn ein an sich begrüßenswerter Impetus und fleißige Recherchearbeit allein ergeben keinen guten Roman, wenn es wie hier an einer adäquaten literarischen Umsetzung fehlt.
Doch zunächst zum Plot: Richard, emeritierter Altphilologe, verwitwet, saturiert im eigenen Haus an einem See am Rande Berlins wohnend, mit viel Zeit, die er kaum zu nutzen weiß, wird unvermittelt mit den Problemen afrikanischer Flüchtlinge konfrontiert, die auf dem Oranienplatz ein Protestcamp errichtet haben, um auf ihre Situation hinzuweisen. Er kommt mit den allesamt jungen, männlichen Asylsuchenden in Kontakt, besucht sie immer wieder, führt lange Gespräche mit ihnen und erfährt so manches aus ihrem Leben, den bedrückenden Verhältnissen in ihren afrikanischen Heimatländern und der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer nach Italien. Zunehmend tut sich ihm eine neue Welt auf, er hilft, wo er kann, nicht nur als Begleiter und Berater beim Verkehr mit Behörden, sondern auch finanziell und vor allem als persönlicher Freund. So ermöglicht er einem der Männer, an seinem Klavier zu üben, besorgt einem anderen eine Pflegejob, kauft einem Dritten ein Grundstück in seiner Heimat, mit dem die dort zurückgelassene Familie eine Existenzbasis erhält. Jenny Erpenbeck schildert sehr anschaulich und kenntnisreich den menschenverachtenden Behördenwahnsinn, der das Trauma dieser Gestrandeten zum Horror werden lässt. Als schließlich die Abschiebung unmittelbar bevorsteht, nehmen Richard und einige seiner Freunde die Männer der Oranienplatz-Gruppe privat bei sich auf. Die Geschichte endet mit Richards Geburtstagfeier, bei der alle Freunde und Asylsucher in seinem Haus zusammenkommen.
In einer bunten Mischung aus inneren Monologen, häufigen Reflexionen des auktorialen Erzählers und einsilbig knappen Dialogen, zuweilen mit englischen und italienischen Sätzen angereichert, wird eine Geschichte erzählt, in der so gut wie nichts passiert. Der Plot verharrt in einem spannungslosen Schwebezustand, der dem ungeklärten Asylstatus der jungen Afrikaner ähnelt und, wie man am Ende dann endlich weiß, auch zu nichts hinführt. Die Figuren, allen voran Richard, bleiben seltsam konturlos, sie sind allesamt nicht dazu angelegt, als Sympathieträger zu fungieren für den Leser.
Im Präsenz erzählt, sprachlich einfach und knapp gehalten, sehr direkt wirkend dadurch, wird die Lektüre besonders an den vielen Stellen schnell ermüdend, wo Richard seine Asylanten laienhaft nach ihrer Vorgeschichte befragt, man ahnt als Leser oft die Antworten voraus, vieles kommt einem jedenfalls bekannt vor. Die immer wieder mal eingestreuten Konjugationen werden irgendwann ebenfalls lästig, auch wenn sie wohl eine Sprachbarriere verdeutlichen sollen. Gleiches gilt für die reichlich eingebauten Redensarten, Liedtexte und Sprichwörter, die diese Geschichte vermutlich auflockern sollen, aber nur unsäglich albern wirken. Und wenn der Satz «Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei Ihnen bleiben, dazu war ihr Zimmer zu klein» zum zehnten Mal vorkommt, fehlt mir jedes Verständnis dafür, der immer wieder erwähnte Ertrunkene im See nervt ebenfalls. Eine seltsame Erzählweise, die literarisch nicht geglückt ist, der ich jedenfalls absolut nichts abgewinnen kann – mea culpa!
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Die Regisseurin und Autorin Jenny Erpenbeck ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb keine Unbekannte, wurden ihre Werke doch bereits seit 2001 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und auch ihr aktueller Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises …
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Die Regisseurin und Autorin Jenny Erpenbeck ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb keine Unbekannte, wurden ihre Werke doch bereits seit 2001 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und auch ihr aktueller Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Allerdings ist dies nicht weiter verwunderlich, stellt Erpenbeck doch in diesem Roman ein Thema in den Mittelpunkt, das seit geraumer Zeit nicht nur für Schlagzeilen, sondern auch für große Emotionen sorgt.
Im Zentrum der Handlung steht der Altphilologe Richard, Professor im Ruhestand, verwitwet und kinderlos, der mutterseelenallein am Rande Ostberlins ein Haus am See bewohnt. Ohne Kontakte, ohne Ansprache, seine einzige Gesellschaft ist der Fernseher. Die Tage plätschern dahin, angefüllt mit Banalitäten, die sein Leben bestimmen, und mittlerweile fehlen ihm auch die offenen Augen für das, was um ihn herum passiert.
So ist es kein Wunder, dass er bei einem Spaziergang durch die Stadt an einer Demonstration am Alexanderplatz vorbeiläuft, ohne zu registrieren, was dort gerade vor sich geht. Erst die Nachrichtensendung am gleichen Abend führt ihm vor Augen, was gerade in seiner Stadt geschieht: Flüchtlinge aus Afrika campieren in Zelten, um auf ihre hoffnungslose Situation aufmerksam zu machen. Heimatlos, ohne Arbeit, ständig von Abschiebung bedroht.
Richards Interesse an den Lebensbedingungen dieser Menschen ist geweckt, wobei aber nicht Mitgefühl der auslösende Faktor ist. Vielmehr ist es sein untätiges Leben als Ruheständler und die Reflexion über die Verluste in seinem Leben, die ihn aktiv werden lässt. Ganz der Akademiker versucht er natürlich mit einer wissenschaftlichen Systematik seinen Informationsbedarf zu decken. Und so sucht er mit einem Fragenkatalog ausgestattet den Dialog mit den Flüchtlingen. Anfangs ist die vorsichtige Annäherung eher einseitig, die Gespräche drehen sich fast ausschließlich um das Warum der Flucht, aber die daraus entstehenden Dialoge geben Richard auch Denkanstöße, sein Leben im Verlauf der Zeit, in Vergangenheit und Gegenwart, kritisch zu beleuchten. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Die Hauptfigur ist ein komischer Kauz, ganz der verkopfte Altphilologe, der im Denken der Antike verhaftet ist. So zieht er immer wieder Parallelen von den Flüchtlingen zu mythologischen Heldenfiguren und benamt diese auch entsprechend. Stellenweise sehr verkopft nimmt diese Überfütterung mit humanistischem Gedankengut dem Thema zwar einiges an politischer Brisanz, zeigt aber auch, dass sich eine anfangs eher intellektuelle und emotionslose Annäherung durchaus im Laufe der Zeit zu gegenseitigem Verstehen und „mit leiden“ entwickeln kann und zwar in beiden Richtungen.
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Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle Geschichte …
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Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle Geschichte vom alten Kind, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr zuletzt erschienener Roman "Aller Tage Abend" wurde von Lesern und Kritik gleichsam gefeiert und vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Joseph-Breitbach-Preis und 2015 mit dem Independent Foreign Fiction Prize.
Ein zutiefst menschlicher Roman, genau zur richtigen Zeit.
DeutschlandRadio Kultur
(…) Doch der Roman ist weit mehr als ein Zeugnis von Nächstenliebe, Scham und Ratlosigkeit. Jenny Erpenbeck weicht den Konflikten, die die Annäherung der Kulturen mit sich bringt, nicht aus.
F.A.Z., Felicitas von Lovenberg
Ich habe ganz großen Respekt für diesen Text von Jenny Erpenbeck, weil es ihr wirklich gelungen ist, Gefühlsduselei, Klischees und Schwarzweißmalerei zu meiden. Und dann bekommt man durch die Begegnung mit ihren Romanfiguren einen neuen Blick auf die Problematik.
NDR Kultur, Ulrike Sárkány
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Broschiertes Buch Grossartig, bin selbst viele Jahre mit Fremden (Flüchtlingen) in den Sprachunterricht gegangen und fühle mich mit der Autorin und den Protagonisten sehr verbunden. Die Metaphern und die Sprache fesselt.Danke ür dieses Buch
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