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2 Kundenbewertungen

Navid Kermanis großer, lang erwarteter neuer Roman - ein Fest der Literatur!
Eine Schriftstellerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und zugleich am Tiefpunkt ihres Lebens: Die Ehe gescheitert, die Mutter gestorben, und plötzlich ist auch der Lebensentwurf als öffentliche Intellektuelle in Frage gestellt. Denn der sah vor, dass der Mann sich um Kind und Haushalt kümmert, während sie sich um das Elend der Welt sorgt. Virtuos verknüpft Navid Kermani die Grundfragen unserer Existenz, Geschlecht, Krieg und Vergänglichkeit, mit dem Alltäglichsten. So wie seine Heldin ist auch sein Buch ein…mehr

Produktbeschreibung
Navid Kermanis großer, lang erwarteter neuer Roman - ein Fest der Literatur!

Eine Schriftstellerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und zugleich am Tiefpunkt ihres Lebens: Die Ehe gescheitert, die Mutter gestorben, und plötzlich ist auch der Lebensentwurf als öffentliche Intellektuelle in Frage gestellt. Denn der sah vor, dass der Mann sich um Kind und Haushalt kümmert, während sie sich um das Elend der Welt sorgt. Virtuos verknüpft Navid Kermani die Grundfragen unserer Existenz, Geschlecht, Krieg und Vergänglichkeit, mit dem Alltäglichsten. So wie seine Heldin ist auch sein Buch ein Solitär: Roman und Journal, Essay und Meditation, ein Fest der Literatur. Etwas, das es so noch nicht zu lesen gab, weil es, wie alle großen Bücher, seine eigene Form erschafft.
Autorenporträt
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er u. a. den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015, den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017, den Staatspreis des Landes NRW 2017, den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2020 und den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels 2021. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder. 2022 folgte Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Diedrich Diederichsen wird soghaft hineingezogen in Navid Kermanis neues Buch, das im Gegensatz zu seinem letzten in seiner Themenwahl einen deutlichen Hang zu "Doom und Verzweiflung" aufweise: "Sterbeerzählung", Trauer, Älterwerden. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, beginnt ein Projekt, das es dem Autor laut Rezensent erlaubt, sein spezielles Talent zu entfalten, nämlich das "Abenteuer des Lesenden" zu erzählen: sie beginnt, ihre Bibliothek "von A bis S" durchzulesen. Diese Vermischung von "Philologie, Rezension und Fanfiction" beschert dem Rezensenten nicht nur faszinierende Leseerlebnisse, manches findet er gar zum Gähnen, trotzdem macht er fantastische Neuentdeckungen (zum Beispiel Péter Nadás) und liest auch Bekanntes in neuem Licht. Über die Frage, warum Kermani eine weibliche Figur gewählt hat, deren geistige Verwandtschaft mit dem Autor unübersehbar ist, stellt Diederichsen verschiedene Vermutungen an und hält schließlich fest, dass hier, obwohl die Taktik zunächst irritiert, starke Momente entstehen, weil in dieser Erzählstimme sowohl Kermani (den der Rezensent persönlich kennt) als auch die Schriftstellerin zu hören sind. Die Religiösität des Autors taucht hier in vielen Formen auf, schließt Diederichsen, sowohl "als spirituelle Poesie" als auch "als theologische Nerdigkeit".

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2023

Im Tod wie im Glauben verschwimmen die Geschlechter

Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst in seinem Roman "Das Alphabet bis S" den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios. Und die Fragen, mit denen sich seine Hauptfigur den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott.

Dies ist ein Tagebuch mit nummerierten Einträgen und Markierung der Jahreszeiten, aber ohne Daten. Es beginnt im Winter, am offenen Grab der Mutter mit der Frage: Was ist Trauer? In Erinnerung an den Jahreswechsel in der vergangenen Nacht und den Anblick des Feuerwerks über dem Kölner Dom folgt gleich auf der nächsten Seite die Antwort: "Das ist Trauer, wenn das Glück, das es doch gibt, nicht mehr zu einem durchdringt. Du siehst es, es ist da, und du verbeugst dich davor oder schüttelst ihm die Hand wie einem Besucher am Grab, mehr aber auch nicht."

Es wird im Verlauf des Buchs noch weitere Beschreibungen der Trauer geben. Dass die eigene Trauer einen hinüberzieht zu anderen, die ebenfalls trauern, zum Beispiel. Und immer wieder wird der Text ums Sterben, um den Tod, die Toten kreisen, immer wieder von Totenwaschungen und davon, wie leicht die Körper werden, wenn die Seele sie verlassen hat, die Rede sein, von Beerdigungen, von den Kindern, die anders trauern als die Eltern, von Grabreden, Friedhofsbesuchen und schließlich, am Tag mit der Nummer 305 in Beirut, von der Erkenntnis darüber, wie die Trauer sich mischt mit Verwunderung. Verwunderung über den Tod: "dass es ihn wirklich gibt". Nicht das Alter, sondern der Tod ist die größte Überraschung im Leben.

Dieses Tagebuch ohne Daten ist also ein Trauerbuch. Ein Buch über Verluste, über die Angst. Doch nicht nur. Es geht auch um Familie, darum, was Mutter sein heißt und was Kind sein bedeutet, wie der Atem durch Jivamukti befreit wird, in welchem Verhältnis Leben und Schreiben zueinanderstehen und ob es zumutbar ist, wenn der Schriftsteller das Leben anderer sich als Material zu eigen macht. Geschrieben wird das fiktive Tagebuch - dass es fiktiv ist, das liegt in der Bezeichnung Roman - von einer Namenlosen, einer erfolgreichen Schriftstellerin und öffentlichen Figur, Essayistin auch und Intellektuellen, deren publizistische Interventionen und Reportagen etwa aus Afghanistan, Syrien, Iran oder Tschetschenien ihr Ruhm und Preise eingebracht haben. Das sind Attribute, die sie mit Navid Kermani, dem Verfasser des Romans "Das Alphabet bis S" teilt, wie auch die Wurzeln der Familie in Iran und einige persönliche Katastrophen.

Es wird, so viel ist schon am Anfang klar, ein schweres Jahr für diese Erzählerin werden, und so hat sie sich das Ziel gesetzt, sich ungelesenen oder auch halbvergessenen, weggelegten Büchern in ihrer Bibliothek in alphabetischer Reihenfolge zu widmen - ein Minimalrest von "Plot" in diesem ansonsten jeder Versuchung widerstehenden Text, ein Narrativ zu formen, das Kontrolle über das Geschehen suggerieren könnte, ein Geschehen, das neben den Toden eine Scheidung und eine schwere Erkrankung des Kindes umfasst. Insofern ist auch der Begriff der Erzählerin hier sehr weitgefasst. Es ist sie, die spricht. Eine Erzählung wird nicht daraus oder nur momentweise, wenn sie auf Reisen ist und darüber im Tagebuch eine Reportage schreibt.

Vom Plan einer Frau, all die lang weggelegten Bücher zu lesen

Nicht alle bisher ignorierten Bücher können von Anfang bis Ende gelesen werden, das ist selbstverständlich, aber jedes sollte einmal geöffnet worden sein. Ein ehrgeiziger Plan. Einer, der Überraschungen verspricht, Wiederbegegnungen, neue Verbindungen, Revisionen möglicherweise. Ein Plan auch, der den Tagen, der Arbeit Struktur gibt, neben dem Joggen und dem Yoga, dem Alltag - seit der Trennung von ihrem Mann ein geteilter Alltag -, mit dem Sohn, der Fürsorge für den alten Vater, den Lesungen, Reisen, Anfragen und E-Mail-Antworten. Und immer wieder einem kurzen Mittagsschlaf. Selbst darin ist die Erzählerin eine disziplinierte Frau. An manchen Tagen allerdings stockt das Schreiben über die Lektüren, und wir bekommen zum Teil zauberhafte Miniaturen zu lesen, über den Schnee zum Beispiel, übers Schwimmen oder eine Intimrasur, den "Faust" an der Volksbühne oder die Besonderheit des Schlafs im Zug.

Einer der Ersten, auf den die Namenlose in ihrer Bibliothek trifft, ist Peter Altenberg. Seinen Sexismus findet sie "trostlos", seine Pädophilie "abstoßend", aber dennoch kehrt sie lesend immer wieder zu ihm zurück, weil sie seinen dialektisch gedachten Ästhetizismus interessant findet, die Idee, Unrecht und Gewalt fänden möglicherweise ein Ende, weil "der Anblick uns enerviert". Für ihre eigenen Bücher vermutet oder hofft die Erzählerin, sie möchten die Einsicht fördern, das Elend lande vor der eigenen Haustür, "wenn man es in Afghanistan ignoriert".

Es sind, bis auf einige herausragende Ausnahmen, Männer, in deren Bücher sie sich vertieft, Attila Bartis darunter und Julian Greene, dessen überlanges Tagebuch sie rückwärts liest, Cioran (mit seinem grausam schönen Satz: "In der Literatur ist alles langweilig, was nicht unbarmherzig ist"), Shichiro Fukazawa und ihr "Trauerbegleiter" Salvador Espiru und immer wieder Péter Nádas, der über alle Themen, die sie beschäftigen und besetzen, bereits nachgedacht hat. Sein Text über eine Nahtoderfahrung unterfüttert viele ihrer Gedanken zum Sterben und dem Tod; immer wieder kommt die Namenlose auf ihn zurück.

Die herausragenden Ausnahmen im Männerklub dieser Bibliothek sind Emily Dickinson und Helene Hegemann. Emily Dickinson immer wieder mit zweisprachig gedruckten Gedichten, Helene Hegemann in einer grandiosen Revision der Erzählerin, die nach der ersten kursorischen Lektüre von "Axolotl Roadkill" das Buch lustlos zur Seite gelegt hatte: "Spielte Neid hinein, dass ein junges Mädchen derart reüssiert?", fragt sie sich nun und vermutet, sie habe denselben Fehler gemacht wie so viele Kritiker, nämlich die Autorin wiederzuerkennen in ihrem Werk. Man ahnt in diesen Passagen, dass Kermani hier die Missverständnisse über sein Buch und die Figur, die spricht, vorwegnimmt.

Was die größte Herausforderung für den Leser bildet

Tatsächlich stellt sich bei der Lektüre, die über die Strecke an Intensität und Dringlichkeit gewinnt, die Frage, wozu Kermani seine Erzählerin braucht. Warum es eine Frau sein muss, die doch so offensichtlich denkt wie ein Mann, wenn man in den Klischees bleiben will. Die sich ihr Notizbuch in die Gesäßtasche steckt und behauptet, sie habe ihre Weiblichkeit "aus freien Stücken erstickt, Gelehrte und Philosophin". Deren Stimme reflektiert ist, schulmeisternd manchmal, oft fragend, tastend, dann wieder völlig sicher in ihren Beschreibungen anderer Bücher und worauf es ihnen ankommt. Eine Frau, die sich vom Sexismus etwa eines Paul Nizon von der Lektüre nicht abhalten lässt.

Was ist das für eine Figur? Möglicherweise ist es die größte Herausforderung des Lesers, sie nicht infrage zu stellen. Nicht an ihr zu zweifeln, weil der Autor, dem sie ihre Gedanken verdankt, ein Mann ist, der viele ihrer Eigenschaften teilt. Zuzulassen, dass im Tod wie im Glauben die Geschlechter verschwimmen. Und auch in der Literatur möglicherweise. "Selbstverständlich sei jeder Mensch Mann und Frau, und die Vergegenwärtigung des anderen Geschlechts in einem selbst mache nicht nur die Persönlichkeit reicher, sondern auch das Schreiben beweglicher, freier, tiefer", schreibt Julian Greene. Das ist, in Greenes Worten, fast schon der Ansatz einer Poetologie der Namenlosen wie auch von Navid Kermani.

Die Fragen, mit denen sich die Erzählerin den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott. Nicht, dass sie zweifelte. Aber sie findet ihn selbst bei Nádas, der ihn verneint, bei Greene natürlich, und auch bei Helene Hegemann. Ist der Glaube das Gegenteil oder Folge von Wissen, fragt sie. Die Bücher antworten ihr bei der Suche nach den letzten Dingen jenseits von Konfessionen auf jeweils eigene Art, auf ihre Frage nach Erlösung oder nach unserem Platz im Universum, das ohne Gott für die Erzählerin nicht denkbar ist, so scheint es. Und doch ist dies kein frommes Buch, das sich den Ungläubigen verschließt. Sondern ein offenes Gespräch, mit den Büchern und damit auch mit den Lesern.

Am letzten Tag des Jahres ist das Fundament fürs Familiengrab in den Boden des Friedhofs eingelassen, alles bereit für die heute noch Lebenden und die Erzählerin, die nach diesem Anblick beschwingt nach Hause geht. Sie ist bei ihrer Lektürereise bis S gekommen, das hatte der Titel des Buchs bereits verraten. Ohne den Tod der Mutter, ohne den Herzinfarkt des Sohnes, ohne die Scheidung und die Sorge um den alten Vater hätte sie es vielleicht bis Z geschafft und die Sache zu Ende gebracht. Closure. Aber Lesen wie Schreiben finden im Leben statt und brauchen keine Rekorde. Nicht einmal einen Schlusspunkt. S ist ein guter Buchstabe, um aufzuhören. S wie Nelly Sachs. VERENA LUEKEN

Navid Kermani: "Das Alphabet bis S". Roman.

Hanser Verlag, München 2023. 591 S., geb., 32,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2023

Der
Himmel
im
Bücherregal
In seinem neuen Roman
„Das Alphabet bis S“
erzählt Navid Kermani
von einer trauernden
Schriftstellerin, die
Trost in Literatur findet.
Oder erzählt
er von sich?
Der Slogan „Ein Roman, wie es noch keinen gab“ verbindet sich seit 2011 mit dem zwölfhundertseitigen Werk „Dein Name“ von Navid Kermani. In dem kühn kapitellosen Koloss hatte der deutsch-iranische Schriftsteller so gut wie alles festgehalten, was ihm in den vorausgegangenen fünf Jahren widerfahren, aufgefallen und durch den Kopf gerauscht war. Manche erlebten das als Zumutung; die Mehrheit des Lesepublikums jedoch fühlte sich reich beschenkt. Was gewiss auch der Tatsache geschuldet war, dass Kermanis Kopf seit geraumer Zeit zu den klügsten im deutschen Sprachraum gezählt wird. Das Rauschen ist danach nicht versiegt und in zahlreiche Bücher geflossen, zuletzt in einen wunderbaren Vater-Tochter-Dialog über Gott. Jetzt folgt „Das Alphabet bis S“, angekündigt ebenfalls als „Roman“ und als „Etwas, das es so noch nicht zu lesen gab“.
Letzteres gilt, mit der Betonung auf „so“, zweifellos auch für andere literarische Erzeugnisse neueren Datums. Und was Kermani betrifft, so hat die Mischung aus Auto- und Dokufiktion, Journal und Reportage, Essayistik und Aphoristik, die er hier vorlegt, doch einen hohen Wiedererkennungsfaktor. Diese Art der Prosa, in überbordender Materialfülle unablässig mäandernd zwischen dem Alltäglichen und dem Existenziellen und zwischen allen Genres, entspricht seinem Erleben und Denken. Sie entspricht explizit auch seinem Begriff vom Roman, weshalb die Gattungsbezeichnung in seiner Werkliste stets cum grano salis zu verstehen ist, oder sogar mit einem ganzen Teelöffel Salz, falls man noch andere Maßstäbe an sie heranträgt. Diesmal aber hat Kermani in sein Verfahren eine neue Ebene der Fiktionalität eingebaut: Er hat dem erzählenden Ich die Stimme einer Frau gegeben. Vielleicht, um den Romancharakter zu verstärken, nach eigener Auskunft aber vor allem, um der autobiografischen Selbstbezüglichkeit zu entkommen und durch „radikale Verfremdung“ eine größere Freiheit der Darstellung zu gewinnen. Allerdings weist diese Frau so viele Ähnlichkeiten mit dem Autor auf, dass sie als erfundene Figur kaum taugt. Wie er hatte sie im Jahr 2018 gerade die fünfzig überschritten; sie lebt in Köln, ihre Eltern kamen aus Iran nach Deutschland; sie ist Orientalistin, Schriftstellerin und politische Publizistin, mehrfach preisgekrönt und viel auf Reisen. Also eigentlich Kermani, ins Femininum gegendert.
Im fraglichen Jahr ereilen sie Schicksalsschläge, die auch ihn trafen: das Sterben eines Elternteils, das Scheitern der Ehe, die schwere Erkrankung eines Kindes. Wer im April 2020 im Deutschlandfunk die „Oster-Essays“ des Autors unter dem Titel „Ins Licht geschrieben“ hören konnte, wird Passagen daraus im Buch wiedererkennen, nur dass der Vater zur Mutter geworden ist, die Tochter zum Sohn. Ob solche mechanischen Spiegelungen schon als „Verfremdung“ durchgehen, sei dahingestellt.
Es findet sich dort auch schon die innere Zwiesprache mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg, in der sich ankündigte, was Kermani zu einem Ordnungsprinzip seines aktuellen Werks erheben würde: die Erfahrung der rettenden Kraft der Literatur in Lebenskrisen, durchbuchstabiert nach einer Zufallsauswahl in der eigenen Bibliothek, beginnend beim A und endend beim S – einfach weil an dieser Stelle des Alphabets das Trauerjahr zu Ende geht, in dem die Protagonistin sich für jeden Tag einen Journal-Eintrag auferlegt hat. Das ist das zweite Ordnungsprinzip: 365 undatierte Notate. Durchlichtet von Exzerpten und Zitaten, vorzugsweise aus Büchern, die in der „Lesegruft“ der Erzählerin, ebenso wie in den Regalen des Autors, bis dahin eher ein Schattendasein fristeten, jetzt aber zu sprechen beginnen und Erkenntnisstiftendes offenbaren.
Navid Kermani hat also, anders als bei „Dein Name, Leitfäden durchs Labyrinth gelegt. Und der Idealfall der Lektüre wäre wohl, sich für das Buch genau ein Jahr Zeit zu nehmen, jeden Tag einen Eintrag zu lesen und dann den Spuren der literarischen Wiederentdeckungen zu folgen, von Emil Cioran und Emily Dickinson über Salvador Espriu bis Julian Green, von Quirinus Kuhlmann und Ovid bis Joachim Ringelnatz (beispielsweise). Denn es kann durchaus strapaziös sein, sich dem Strom des Erlebten und Gedachten in großen Portionen auszusetzen, zumal weitere Katastrophen die schon genannten flankieren. Ein Übermaß an Krankheit und Tod ist ohne die, sagen wir, formale Bändigung durch eine genuine Romanhandlung tatsächlich schwerer zu ertragen. Manches Private oder Fantasierte möchte man auch gar nicht so genau wissen.
Andererseits braucht man Zeit, um den unsortierten Reichtum an Reflexionen, Betrachtungen, Aperçus, Traumschilderungen, Reiseeindrücken und Alltagspartikeln angemessen zu würdigen. Insbesondere jene starken Momente, die sich immer dann ereignen, wenn Kermani – pardon, seine Tagebuchschreiberin – wie selbstverständlich die Transzendenz ins Diesseits integriert, zwischen dem Nachdenken über die islamische und die christliche Welterfahrung sich souverän und frei bewegt.
Einige Rätsel werden mitgeliefert: Ist der betagte Mentor namens „Offenbach“ eine verfremdete Version von Kermanis Freund und Gesprächspartner Martin Mosebach? Und wie ist es möglich, dass der ungarische Autor Attila Bartis, nicht dagegen protestiert, unter seinem Klarnamen als Liebhaber der Erzählerin aufzutreten, inklusive Sexszenen? Die interessantesten Fragen aber könnten sich an dem Problem der „weiblichen“ oder „männlichen“ Perspektive entzünden. Gibt es so etwas überhaupt, nach neuestem Debattenstand, und inwieweit ist der Unterschied in diesem Buch außer Kraft gesetzt? Ist es im Sinne feministischer Identitätspolitik fortschrittlich, wenn ein männlicher Autor fiktional das Geschlecht wechselt, oder ist es nicht vielmehr übergriffig, ja ein Fall von „kultureller Aneignung“, wenn er einer Frau umstandslos die eigenen Wahrnehmungen, Gedanken und Formulierungen unterstellt? Denn nichts anderes hat Navid Kermani hier getan. Aber es ist dann auch schon wieder aufschlussreich, wie wenig das Buch in seiner Gesamtwirkung durch diese Entscheidung beeinflusst wird.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Navid Kermani: Das Alphabet bis S. Roman. Hanser, München 2023. 592 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Wie ein hochwertiger persischer Teppich." Claudia Schülke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.23

"Ein Buch, das alle Gattungsgrenzen sprengt... Eine Fundgrube für Literaturliebhaber... Sechshundert abwechslungsreiche, kluge und glänzend geschriebene Seiten." Wolfgang Seibel, Ö1 ex libris, 12.11.23

"Neben all seinen reportagehaften, dokumentarischen, autofiktionalen und poetologischen Anteilen vor allem ein anregendes, überaus originelles Lektüreprotokoll." Marianna Lieder, Welt am Sonntag, 15.10.23

"Navid Kermani ist einer der vielseitigsten, facettenreichsten, auch schlicht und einfach klügsten und intelligentesten Erzähler und Intellektuellen, die wir in diesem Land haben. ... Ich war wirklich beeindruckt von der intellektuellen Schärfe dieses Buchs, aber auch gleichzeitig von der Wärme." Denis Scheck, WDR 3 Mosaik, 09.10.23

"Eine Liebeserklärung an die Literatur und an das Leben in all seiner soliden Fehlerhaftigkeit. Ein erfreulich disparates Buch, so disparat wie das Leben selbst." Shirin Sojitrawalla, Deutschlandfunk Büchermarkt. 24.09.23

"Ich habe das Buch einigermaßen atemlos gelesen ... Es stecken so viele Gedanken und Denkanstöße in diesem Buch." Fridtjof Küchemann, FAZ Bücher-Podcast, 24.09.23

"Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios." Verena Lueken, FAZ.NET, 14.09.23

"Ein Füllhorn. Ein Tagebuch als Denk- und Bücherbuch. Ein reiches und bereicherndes Kompendium zu Fragen der Zeit, anregend und anspruchsvoll. Es lohnt sich, im Buchhandel unter K wie Kermani nach dem Roman zu greifen." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 09.09.23…mehr
»In der Hörbuchversion liest die begnadete Eva Mattes die Geschichte um die namenlose Literatin und es ist einfach nur ein großer Genuss, dieser immer noch so jugendlich klingenden Stimme zuzuhören. Da passt jede Pause und durch diesen schönen Erzählfluss gewinnt die Geschichte noch an Kraft.« Irene Schwingenschlögl Film, Sound & Media 20240202