Unheimlich phantastischWeimar im Jahr 1805. Die Brüder Grimm machen Schiller ihre Aufwartung, doch finden sie ihn todkrank vor. Verlegen überreichen sie die Arznei, die Goethe ihnen mitgegeben hat. Der sieche Dichter überlässt ihnen sein letztes Manuskript - doch wenig später wird ihnen diese Kostbarkeit gestohlen. Gegen ihren Willen geraten sie in eine finstere Verschwörung, in der Goethe, eine seltsame Gräfin, eine Geheimloge und exotische Rauschmittel eine Rolle spielen."Meyers Stärke sind atmosphärisch dichte Breitwandpanoramen." Die WeltWeimar im Jahr 1805. Die Brüder Grimm machen ihre Aufwartung, doch finden sie Schiller todkrank vor. Verlegen übergeben sie die Arznei, die Goethe ihnen mitgegeben hat. Der sieche Dichter überlässt ihnen sein letztes Manuskript - doch wenig später wird ihnen diese Kostbarkeit gestohlen. Gegen ihren Willen geraten sie in eine finstere Verschwörung, in der Goethe, eine seltsame Gräfin, eine Geheimloge und exotische Rauschmittel eine Rolle spielen.
Auf der Weimarer Geisterbahn: Kai Meyer bastelt an den Kulissen
Wenn der Autor eines historischen Romans will, beschäftigen sich die Brüder Grimm nicht mit Rechtsaltertümern, sondern mit dem Corpus delicti eines Kriminalfalls. Dann sind sie nicht die Sammler von Kinder- und Hausmärchen, sondern selbst Figuren in einer Schauergeschichte. Kai Meyer hetzt die beiden Philologen, die schon in ihrer Studierstube fanatische Spurenleser gewesen sein müssen, über die holprigen Wege zwischen Weimar und Warschau hinter einem Manuskript her. Es verspricht geheimnisvollere Entdeckungen als die vergilbten Handschriften aus der deutschen Vorzeit. Goethe, so munkelte man schon im neunzehnten Jahrhundert - und Meyer schenkt dem Gerücht für die Spanne seines Romans vollen Glauben - habe Schiller ermordet. Und zwar, so legt es sich nun der Autor zurecht, weil er den dritten und abschließenden Teil der "Geisterseher" haben wollte, welchen der sterbende Schiller den Brüdern Grimm anvertraute. Schiller nämlich ließ ahnen, daß er das Rezept zur Herstellung des Steins der Weisen kenne, und glaubte das Geheimnis, das er im Schlußteil der "Geisterseher" niederlegte, bei den beiden Archivaren in den besten Händen.
Geisterseher also sind nicht nur alle Personen in Meyers Roman, die Rosenkreuzer, die Illuminaten, Goethe, Elisa von der Recke, E. T. A. Hoffmann, die mit Gaukelwerk und Giftmischerei, mit Mord und Nekromantie nach dem Geheimnis drängen; Schillers Werk selbst, das Fragment "Der Geisterseher", ist das Zentrum des Romans und das Objekt einer verbrecherischen Begierde.
Kai Meyers Werk gehört zu jenem Genre, das sowohl die Effekte des Schauer-, wie des Kriminal- und Historienromans mischt, um aus ihnen ein exotisches Gefängnis zu erbauen, zu dem kein Realitätsbewußtsein mehr Zugang hat. Die Phantasie ist in diesem Behältnis allmächtig: Der Autor darf historische Daten verwenden und verwerfen, wie er will, der Leser sucht die Vergangenheit nur zur Entlastung seines Gedächtnisses und als Komparserie für einen Albtraum auf. Jan Potocki hat diesen Erzähltypus mit der "Handschrift von Saragossa" geschaffen, und Umberto Eco hat ihn im "Namen der Rose" der ganzen Welt als lustvolle Lektüre anempfohlen.
Dem italienischen Erfolgsautor erweist auch Kai Meyer seine Reverenz. Am dramatischsten Punkt der Handlung wird der Name R-O-S-A in einen Gegenstand eingeritzt. Diese Hommage fordert, sehr zuungunsten Meyers, den Vergleich heraus. Ohne ihn hätte seine Schauergeschichte der Kritik standhalten können, denn zumindest von der Mitte an bekommt sie jenes furiose Tempo, dessen das an Sensualismen arme Genre bedarf, um genießbar zu sein. Jede Entknotung mündet von da an in noch dichtere Verknotungen, und es werden gerade so viele Personen zu Tode massakriert, wie es zum Schrecken eines Leserherzens nötig ist.
Im übrigen aber, und ganz im Unterschied zu Eco, erspart sich Meyer mit dem Zitat des historischen Ambiente und Personals jegliche Mühe der Beschreibung. Goethe darf er ebenso als bekannt voraussetzen wie sein Haus und seine Freunde, die Brüder Grimm, und auch bei Elisa von der Recke tut er so, als kenne jedermann diese Randfigur des literarischen achtzehnten Jahrhunderts. So bleiben denn die Figuren wahrhaftig Gespenster in einem Gespensterroman. Für Eco hingegen war das Spurenlesen und Fallenstellen nur der Anlaß gewesen, um eine üppig wuchernde Erzählphantasie auszutoben und ein enzyklopädisches Wissen vorzuweisen. Den Phantasieräumen seiner Klöster und Bibliotheken steht bei Meyer nur eine licht-und klanglose Leere gegenüber.
Der Hürdenlauf über Leichen, den Meyers Figuren um das Manuskript zu absolvieren haben, gleicht denn auch eher schon jener Katzenhatz, die Akif Pirincci in "Felidae", dem Kindermärchen für Erwachsene, erzählt. Wenn es jedoch nur auf die wilde Jagd nach einem brutalen Mörder oder einem geheimnisvollen Gegenstand ankommt, sind Katzen deutschen Dichtern allemal überlegen; sie machen tollere Sprünge und zerfleischen sich rücksichtsloser.
Wer, wie der Autor von Schauerromanen, die menschliche Wirklichkeit vergessen machen will, muß sich entweder in die Tiefe der Tierseele versenken oder in die Höhe des Dichtergeistes aufsteigen. Kai Meyer hat den Aufstieg gewählt. Er hofft, daß der Abglanz der großen deutschen Dichter das Trivialschema verkläre. Im Gegensatz zu Eco, der sein gelehrtes Wissen an den Trivialroman verschenkt, borgt Meyer von der Gelehrsamkeit das Ansehen, um ein Abendvergnügen zu legitimieren. HANNELORE SCHLAFFER
Kai Meyer: "Die Geisterseher". Ein unheimlicher Roman im klassischen Weimar. Verlag Rütten & Loening, Berlin 1995. 347 S., geb., 39,90 DM.
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