Das erste Mal ist mir Ian Mortimer als Autor von „Im Mittelalter“ über den Weg gelaufen, in dem er die Lebenswirklichkeit im englischen 14. Jahrhundert äußerst anschaulich und lebendig darstellt. Sein neues Buch setzt den Ankerpunkt gerade einmal 200 Jahre später und doch ist so viel anders und neu,
dass man es kaum glauben mag. Am Ende des 15. Jahrhunderts findet tatsächlich eine epochale…mehrDas erste Mal ist mir Ian Mortimer als Autor von „Im Mittelalter“ über den Weg gelaufen, in dem er die Lebenswirklichkeit im englischen 14. Jahrhundert äußerst anschaulich und lebendig darstellt. Sein neues Buch setzt den Ankerpunkt gerade einmal 200 Jahre später und doch ist so viel anders und neu, dass man es kaum glauben mag. Am Ende des 15. Jahrhunderts findet tatsächlich eine epochale Zeitenwende statt, die Europa grundlegend verändert. Der Titel führt trotzdem etwas in die Irre (wenn auch nicht viel), denn im Original heißt das Buch „The Time Traveller‘s Guide to Elisabethan England“. Die Lebensdaten von Shakespeare und Elisabeth I. sind nicht ganz deckungsgleich, weshalb die untersuchte Zeitspanne etwas früher einsetzt und früher endet, aber der Verlag wünschte sich den Titel so und Ian Mortimer wollte deshalb nicht gleich das ganze Buch neu schreiben.
Wie schon im „Mittelalter“, geht Mortimer strukturiert durch alle Lebensbereiche und gibt Empfehlungen, wie man als zeitreisender Besucher länger als ein paar Tage überlebt. Denn das elisabethanische Zeitalter mag aus der Sicht Englands das „Goldene“ gewesen sein, aus der Sicht des einfachen Mannes war es eher eine Zeit großer Unsicherheit, persönlicher Gefahren und extremer Abhängigkeit von einer kleinen Oberschicht, die ihre Privilegien ungern teilte. Die Bevölkerung hatte sich stark vermehrt, die Umwelt wurde übernutzt, in den Städten herrschten regelmäßig Seuchen und die Kriminalität hatte für unsere Begriffe epidemische Ausmaße. Es war ein gefährliches Leben und der Komfort nur für die genannte Oberschicht aus heutiger Sicht erträglich. Aber selbst für die nicht immer, denn die meisten lebten noch in ihren zugigen mittelalterlichen Burgen und Schlössern.
Ian Mortimer legt einen Fokus auf die Religion, die gerade unter Elisabeth und ihren Vorgängern häufige Paradigmenwechsel durchläuft, und einen anderen Fokus auf die Frage des „oben und unten“. Es gibt unterschiedliches Recht für den Adel und den Rest, unterschiedliche Kleidungsvorschriften, Arten des Reisens und der Unterkunft, unterschiedliche Unterhaltungsangebote und Lebensrisiken. Das England Elisabeths ist geprägt von einer extremen Hierarchie, Gewalt und unsicheren Lebensläufen. Das gilt sogar für den Adel. Nicht wenige „Vertraute“ Elisabeths enden auf dem Schafott. Ian Mortimer bebildert seine Aussagen mit einer Unzahl von praktischen Beispielen aus echten Lebensläufen, Gerichts- und Kirchenakten, Tagebüchern (die damals gerade erst aufkamen), Briefen und privaten Vermögensaufstellungen. So bekommt man eine sehr präzise Vorstellung davon, was die Menschen in welcher Gesellschaftsschicht besessen haben, und das ist erstaunlich wenig, selbst bei Höhergestellten. Es geht Mortimer aber nicht nur um Besitz, sondern auch um Umgangsformen, Kleidung und wie man sie trägt (sie unterliegt übrigens erstmals Moden), was man am besten macht, wenn man krank wird (von Ärzten ist abzuraten) und was auf den Teller kommt. Nur ein Thema wird komplett ausgelassen: Die Schlafzimmertüre bleibt zu, was umso erstaunlicher ist, weil „Liebe“ sogar im Untertitel des Buches auftaucht. Wir erfahren alles über Latrinen, über Prostitution oder den engen elisabethanischen Wertecodex, aber was die Leute über Sexualität jeder Art denken, das bleibt im Dunkeln.
Was mich an Mortimers Büchern so fasziniert, ist seine Fähigkeit, anhand von recherchierten Fakten und echten Lebensläufen ein unglaublich lebendiges Bild zu entwerfen, vor allem, indem er „bekannte“ Personen, aus deren Leben er schon zitiert hat, später in anderem Zusammenhang wieder auftauchen lässt. So verweben sich die Schicksale miteinander und es entsteht ein bunter Teppich, auf dem sich Persönliches und Weltgeschichte gleichzeitig abbilden. Das ist unglaublich spannend und hinterlässt einen stärkeren Eindruck als jede fachlich noch so überzeugende Geschichtsstunde.