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Mauer, Dschungel, Helga Goetze: Ulrike Sterblich erzählt von einer Kindheit in West-Berlin
Es war an der Zeit, einmal wieder an Helga Goetze zu erinnern, jene wackere Künstlerin, die kaum einen Tag ausließ, Passanten zur Paarung oder wenigstens zur Onanie aufzufordern. Meist stand sie im Umkreis der Gedächtniskirche, ab und an auch vor der Mensa der Technischen Universität Berlin. Ihre Botschaft blieb all die Jahre die gleiche: „Ficken ist Frieden!“
Den Ostdeutschen, die im November und Dezember 1989 die ihnen bis dahin verbotene Stadt erkundeten, fiel Helga Goetze auf. Sie schien für eine kauzigere, unbekümmerte, rebellischere Lebensart zu stehen. „Die ist immer da“, „die hat mal mit Rosa von Praunheim zu tun gehabt“, bemerkten die coolen West-Berliner, und wer, aus dem Ostteil der Stadt kommend, nicht als Provinzler, nicht als „Wessi“ gelten wollte, lernte rasch, an der Oma, Jahrgang 1922, desinteressiert vorüberzugehen. Sie starb im Januar 2008.
Nun hat Helga Goetze als „die verrückte Oma“ einen Kurzauftritt in den Erinnerungen der Journalistin Ulrike Sterblich an ihre Kindheit in West-Berlin: „Sie hatte kurze graue Haare, war zweckmäßig und wetterfest gekleidet, trug eine praktische Tasche bei sich und saß oder stand auf den Stufen der Kirche mit mehreren Plakaten und Transparenten . . . “. Das Mädchen, von dessen Heranwachsen in der eingemauerten Stadt Sterblich erzählt, hat gerade ihr erstes Date: „Wir mussten sie also unbedingt meiden, zwei katholische Schüler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt . . .“.
Die Situation ist nicht ohne Reiz. Leicht ließe sich aus ihr etwas Interessantes entwickeln über die untergegangene Halb-Stadt, die nur versteht, wer Heinrich Lummer und David Bowie, Rio Reiser und Walter Momper, Wolfgang Antes und Peter Stein zusammenzudenken versucht. Ulrike Sterblich aber, Jahrgang 1970, knüpft kein Gefühl, keinen Gedanken an die Begegnung. Sie schlendert noch kurz durchs Europa-Center und schon ist auch dieses Kapitel vorüber und wird wie all die anderen mit knappen Stadtführer-Infos abgeschlossen.
Auf ein Buch wie dieses, das Erinnertes und Erfundenes zusammenspannt, hat man eigentlich gewartet, denn West-Berlin, Frontstadt, Schaufenster der Freiheit, „besondere politische Einheit“, vor allem aber ein Lebens- und Zeitgefühl, ist trotz F. C. Delius und Bernd Cailloux noch lange nicht auserzählt. Nur – so, wie es hier geschieht, geht es nicht. Als habe sie eine Liste von Pflichtaufgaben abzuarbeiten, stolpert Sterblich durch die Stadtteile, verknüpft überwiegend belanglose Schülerinnenerinnerungen mit zeithistorischen und touristischen Auskünften. Selbst ihre Schilderungen über Besuche in Ost-Berlin, das Austausch-Jahr in Amerika oder die Fahrt durch Geisterbahnhöfe bleiben vorhersehbar, ohne Spannung, ohne Witz. Gern erfährt man, dass ein Ortsgespräch in West-Berlin nur 23 Pfennige kostete und es keine Zeittaktung gab, auch nachdem den Bundesbürgern eine solche verordnet wurde. Ein Buch aber braucht Rhythmus, Takt, eine Erzählhaltung.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass man all dies hier vermisst, dass die Kleinmädchen-Perspektive, die Sterblich bis zum Schluss beibehält, besonders ärgert, wenn es um West-Berlin geht. Für DDR-Erinnerungen hat sie sich bewährt, da der Staat seine Untertanen in ein familiäres Verhältnis zwang und sie gern infantil gehalten hätte. Der Widerstreit von Kindersicht und Erziehungsdiktatur gibt für die DDR etwas her.
Aber für West-Berlin? Die Schrecken der Teilung, des Kalten Krieges waren hier ständig präsent, und doch entwickelte sich in Politik wie Kultur ein eigenartiger Kult des Uneigentlichen, des Lebens im Provisorium, im Entwurfsmodus. Ein paar Diskotheken und Amüsierbetriebe, darunter den grausam hellen „Dschungel“, erwähnt auch Sterblich. Aber ihr fehlt das Sensorium für Inszenierungen, für Camp und Boheme. Stattdessen beschreibt sie umständlich allgemein Ausgehvorbereitungen.
West-Berlin musste nach 1990 mit dem plötzlichen Entzug von Geld, Aufmerksamkeit und Liebe leben lernen. Sein Geist aber prägt die Berliner Republik mehr, als meist zugegeben wird. Warum das so ist, was heute an West-Berlin interessant sein könnte – dieses Buch erstickt jede Frage in Langeweile.
JENS BISKY
West-Berlin ist noch lange nicht
auserzählt – hier schon gar nicht
Ulrike Sterblich: Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2012. 368 Seiten, 9,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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