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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 07.02.2016
Weidermann, Volker

Lichtjahre


gut

Anekdotisch berichtet Volker Weidermann schon im Vorwort seiner «Lichtjahre» von einer Trouvaille, die Anlass wurde für sein Buch. Er fand in einem Antiquariat das Werk «Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde» von Klabund, «das subjektive Begeisterungsbuch eines echten Lesers», wie er es nennt. Diesem Vorbild folgend, was die unbeirrte Subjektivität anbelangt, behandelt der Autor wohlgemut eine «der interessantesten und reichsten Epochen der deutschen Literatur». Und stellt damit zu Beginn auch gleich klar, was wir heutigen Leser doch für Glückspilze sind, in dieser elysischen Zeit der deutschen Literatur leben und lesen zu dürfen!

In Weidermanns literarischem Kanon sind 133 deutsche Schriftsteller versammelt, die für ihn die glorreiche Epoche von 1945 bis zum Erscheinen seines Buches 2006 verkörpern, wobei sich mir spontan die Frage aufdrängt, inwieweit diese Blütezeit auch heute noch anhält. Es ist natürlich müßig, diese erklärtermaßen ja völlig subjektive Auswahl anzufechten. Wie immer in solchen Fällen gibt es manche Autoren, die man vergeblich sucht und andere, die man für durchaus fehl am Platze hält. Vorbild Klabund hatte 1920 Thomas Mann «in zwei Zeilen erledigt», schreibt er begeistert, und mit eben dieser Begeisterung lässt er selbst sich auf acht Seiten über Rainald Goetz aus, während er Heinrich Böll gerade mal zwei Seiten widmet. Mehr Subjektivität geht wohl kaum! «Als Heinrich Böll am 16. Juli 1985 starb, haben viele Menschen in Deutschland geweint», schreibt er am Ende seines kurzen Porträts, der damals 16jährige Volker Weidermann war wohl eher nicht darunter. Er fasst seine Schriftsteller in 33 übertitelte Gruppen zusammen, «Weltliteratur aus der Schweiz» zum Beispiel, unter denen er mit schmissigen Untertiteln dann Dürrenmatt und Frisch abhandelt, oder «Wut im Süden» mit Achternbusch, Kroetz, Jelinek und Bernhard. Es sind Erfolgreiche und Vergessene, Exilanten und Zurückgekehrte, DDR-Staatsautoren und Dissidenten, Wirkmächtige und Kampfeslustige, Laute und Stille, Hundertjährige und Frühverstorbene, Selbstmörder zudem in erschreckender Zahl.

Ziehvater Marcel Reich-Ranicki, der pflichtschuldig den Werbetext für den Buchrücken geliefert hat und von dem ihn nun wirklich «Lichtjahre» trennen sowohl als Literaturkenner wie auch als Moderator des «Literarischen Quartetts», hat in einer dieser Sendungen mal geäußert: «Ein Buch gerne lesen und die Bedeutung eines Buches zu erkennen, das sind zwei verschiedene Sachen». Dies gilt in gleicher Weise auch für Autoren, die in diesem Band draufgängerisch direkt besprochen werden, immer mit Betonung des Biografischen, wobei er neben vielen mit Gewinn zu lesenden anekdotischen Beiträgen auch reine Polemik abliefert. Eine Selektion in Gut und Schlecht bedeutet das im Ergebnis, bei der seine ganz persönlichen Aversionen nicht selten in ein unbegründet bleibendes Verdikt münden. Dem dann zum Beispiel eine fünfseitige, äußerst peinliche Eloge über Maxim Biller gegenübersteht, seinem arrogant grinsenden Mitstreiter in der neuen ZDF-Sendung, von dem er doch tatsächlich schreibt, ohne ihn «wäre es in der deutschen Gegenwartsliteratur wahnsinnig langweilig». Nun wissen wir’s!

Literaturführer wäre die angemessene Bezeichnung für ein Werk, dessen Autor selbstverliebt ausschließlich die eigene Meinung als Kriterium gelten lässt, der objektive Faktoren schlichtweg negiert in seinem Überschwang. Seine anekdotischen Berichte grenzen zuweilen an Kitsch, wofür die Teestunde in Heidelberg bei der greisen Hilde Domin am Ende des Buches ein beredtes Beispiel ist. Aber gerade diese anbiedernden Passagen mit den persönlichen Begegnungen dürften die erfreulichsten sein für viele Leser, die einen Blick hinter die Kulissen tun wollen, denen das reine Lesen nicht genügt. Was die Mär von der reichsten Epoche anbelangt, so halte ich es allerdings mit Heinz Schlaffer, für den gerade die Zeit nach 1945 bedeutungslos ist, was die deutschsprachige Literatur anbelangt.

Bewertung vom 03.02.2016
Huch, Ricarda

Der Fall Deruga


schlecht

Ein Brot-und-Butter Werk

«Die erste Frau Deutschlands» nannte Thomas Mann 1924 seine Schriftsteller-Kollegin Ricarda Huch anlässlich ihres 60ten Geburtstages. Im riesigen Œuvre der damals überaus angesehenen und vielfach geehrten Autorin nimmt der 1917 erschienene Roman «Der Fall Deruga» als Kriminalroman eine besondere Rolle auch deshalb ein, weil sie selbst in einem Brief an eine Freundin von einer «Schundgeschichte» sprach, die sie nur des Geldes wegen geschrieben habe. Der Stoff wurde zweimal verfilmt und entspricht so gar nicht den Erwartungen eines Krimilesers, die typischen Ingredienzien dieses literarischen Genres fehlen hier jedenfalls völlig. Wesentlich treffender erscheint mir der Begriff «Gesellschaftsroman» für diese Erzählung, die zwar einen vor dem Schwurgericht München verhandelten Mordfall zum Gegenstand hat, in der jedoch die auftretenden Figuren selbst im Fokus stehen, beispielhaft als typische Vertreter der vor dem Untergang stehenden Gesellschaft jener Zeit.

Und so sind denn auch die lebendigen und häufig auch bewertenden Personenschilderungen in diesem Roman das Wesentliche. Der Plot entwickelt sich nämlich aus der weitgehend in Dialogform erzählten Geschichte einer Mordanklage heraus, der sich der italienischstämmige Arzt Deruga gegenübersieht. Er soll seine seit 17 Jahren von ihm geschiedene Ehefrau Mingo aus Habsucht mit dem in Südamerika als Pfeilgift genutzten Curare ermordet haben, um in den Besitz einer beträchtlichen Erbschaft zu kommen. Die wohlhabende Exfrau hatte ihn testamentarisch zum Alleinerben bestimmt, die gemeinsame Tochter war viel zu früh verstorben. Weiteres zu erzählen verbietet sich natürlich bei einem Roman wie diesem, der von seiner Spannung lebt, die sich hier tatsächlich auch idealtypisch zum Ende hin stetig steigert und in einem vorab vom Leser kaum vorhersehbaren Schluss endet. Gleichwohl versteht es die Autorin, dem Leser ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln, weil er immer ein wenig mehr weiß als die meisten Beteiligten der Gerichtsverhandlung, denen sich die komplizierten Zusammenhänge erst allmählich erschließen.

Das Figurenensemble, welches wir hauptsächlich vor Gericht in Aktion erleben, repräsentiert die verschiedenen Gesellschaftsschichten des Fin de Siècle vom Bettler und Straßenhändler über die Dienstboten, Handwerker und kleinen Händler bis zur Bourgeoisie und dem niederen Adel. In einer feinfühligen Sprache, in wohl formulierten Dialogen zumeist, entlarvt die Autorin scharfsichtig Standesdünkel, Marotten, Vorurteile und Gesinnungen ihrer Zeitgenossen, die ihr hier als Protagonisten dienen und deren Fehler und Schwächen sie uns verdeutlicht, ohne das man ihr dabei einen ironischen Unterton nachsagen könnte. Zwiespältigste und weitaus interessanteste Figur ist dabei Deruga selbst, ein idealtypischer Gutmensch auf der einen Seite, der aber depressiv veranlagt ist und häufig total aus der Rolle fällt, seine Mitmenschen damit über die Maßen düpierend in seinem Furor auf die Gesellschaft.

Ricarda Huch gilt als bedeutende Vertreterin der deutschen Neoromantik mit einer ausgesprochen Vorliebe für Wunderbares und Geheimnisvolles, das sie in einer kunstvoll verfeinerten Sprache erzählt. Die Psyche der Personen ist ihr im vorliegenden Roman wichtiger als die kriminologischen Details ihrer Geschichte oder die juristische Seite eines Prozesses, dessen Verhandlungsführung nicht immer stimmig zu sein scheint, zumindest aus heutiger Sicht. Als Zeitzeugnis konnte ich dem Melodram jedenfalls wenig abgewinnen. Das Ganze wirkt erzählerisch altväterlich, es ist zuweilen maßlos überhöht und regelrecht trivial. Insoweit scheint die selbstkritische Einstufung der Autorin für ihr Werk als «Schundroman» auch nicht ganz unbegründet. Zugutehalten muss man ihr jedoch, dass sie ein auch heute noch ganz aktuell und heftig diskutiertes Grundproblem menschlichen Daseins thematisiert hat, mit einer allzu kitschig ausgefallenen Geschichte allerdings.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.01.2016
Beauvoir, Simone de

Ein sanfter Tod


gut

Meistverdrängtes Menschheitstrauma

Das Werk der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir ist neben seiner explizit philosophischen Ausrichtung oft auch autobiografisch geprägt, dem 1964 erschienenen Roman «Ein sanfter Tod» liegt dieses für sie spezifische Sujet ebenfalls zugrunde. Es geht um den Tod ihrer Mutter, mit der die Autorin lebenslang ein gespanntes, distanziertes Verhältnis hatte, das sich nun im Sterbeprozess zu verändern beginnt. In den sechs Jahre vorher erschienenen «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» hatte die Autorin die Vorgeschichte der Entfremdung mit ihrer Mutter sehr detailliert beschrieben. Im vorliegenden Roman nun greift de Beauvoir darauf zurück, sie erwähnt das der damaligen Veröffentlichung folgende Zerwürfnis. Die jüngere Schwester übernahm es dann, die erboste Mutter zu beschwichtigen. «Ich begnügte mich damit, ihr einen Blumenstrauß zu schicken und mich wegen eines Wortes zu entschuldigen; das rührte und verblüffte sie übrigens. Eines Tages sagte sie zu mir: Eltern verstehen ihre Kinder nicht, aber das gilt auch umgekehrt…»

Vor diesem Hintergrund erzählt de Beauvoir von einem häuslichen Unfall der 77jährigen Mutter. Bei den Untersuchungen in der Klinik wird neben einem Schenkelhalsbruch auch noch eine Bauchfellentzündung vermutet. Der Zustand der Patientin verschlechtert sich jedoch zusehends, es folgen weitere ärztliche Befunde, bis sich schließlich herausstellt, dass eine Krebsgeschwulst ihren Dünndarm verschließt. «Lassen Sie sie nicht operieren» raunt eine es gut meinende, ältere Krankenschwester den beiden Töchtern zu. Sie entscheiden anders, bei der Operation wird dann eine riesige Krebsgeschwulst gefunden, die kurzzeitig zum Tode führen würde. Was folgt ist ein vierwöchiger schmerzvoller Sterbeprozess, den die Autorin minutiös beschreibt, in dem sich auch das gespannte Verhältnis zur Mutter allmählich bessert, dessen unabwendbares Ende ihr jedoch rücksichtsvoll verschwiegen wird.

In dem Auf und Ab des körperlichen Verfalls wird deutlich, wie sehr doch die Mutter am Leben hängt. Sie will nicht sterben, lehnt sogar strikt allen behutsam angebotenen geistlichen Beistand ab. Was erstaunlich scheint, war doch gerade die unbeirrbare religiöse Bindung der Mutter einst Auslöser für die Differenzen, zu denen dann der damals fast skandalöse Lebenswandel der emanzipierten Tochter noch erschwerend hinzukam. Denn Simon de Beauvoir hatte eine völlig andere Auffassung von der Rolle der Frau, die sie in ihrem erfolgreichsten Werk «Das andere Geschlecht» niederschrieb. Ihre Erkenntnis, «man wird nicht zur Frau geboren, man wird dazu gemacht von der Gesellschaft» hat ihr für immer den Status einer Ikone der Frauenbewegung verliehen.

Der Roman ist insoweit ein Zeugnis der weiblichen Emanzipation, die sich innerhalb der einen Generation von Mutter zur Tochter entscheidend weiterentwickelt hatte. Die Geschichte, die auch eine Rückblende auf die familiären Verhältnisse beinhaltet, wird äußerst detailverliebt erzählt in einer nüchternen, uneitlen Sprache, die flüssig zu lesen ist. Zweifellos aber ist der Roman als Auslöser für philosophische Diskurse geeignet, wozu auch die Frage gehört, ob jede medizinisch mögliche Verlängerung des Lebens wirklich immer geboten ist. Aus atheistischer Sicht bleibt mir unverständlich, warum man denn verzweifelt den doch fest versprochenen Einzug der bußfertigen Glaubenden in den Himmel unbedingt hinausschieben will? Bedeutet das etwa Zweifel an den Grundfesten religiöser Verheißungen? Die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter findet nur nonverbal statt, durch Gesten, Lächeln, ein sanfter Tod also zu guter Letzt, wenigstens auf emotionaler Ebene. In einer resümierenden Schlussbetrachtung beleuchtet die Autorin den Tod aus existentialistischer Sicht, er sei widernatürlich, «weil seine Gegenwart die Welt in Frage stellt», ein Unfall für den Menschen «und, selbst wenn er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein unverschuldeter Gewaltakt».

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.01.2016
Ossorgin, Michail

Eine Straße in Moskau


ausgezeichnet

Fernab literarischer Niederungen

Mit seinem Debütroman «Eine Straße in Moskau» gehört der russische Schriftsteller Michail Ossorgin zu den aufregendsten literarischen Wiederentdeckungen des vergangenen Jahres. Der Originaltitel «Siwzew Wrashek» des 1928 im Pariser Exil erschienenen Romans bezeichnet eine kleine, bei der Moskauer Intelligenzija als Wohnsitz beliebte Straße in der Hauptstadt des Zarenreichs. Die vorliegende, sprachlich überzeugende Neuübersetzung entwickelt gleich von der ersten Seite an einen erzählerischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Zeitlich zwischen dem Frühjahr 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und dem nahenden Frühling 1920 angesiedelt, handelt dieser Roman von den Umbrüchen im Russland jener Jahre. Ossorgin spiegelt Weltkrieg, kommunistische Revolution und den Bürgerkrieg «Weiß gegen Rot» an den Geschehnissen seines Mikrokosmos in der Siwzew Wrashek, dessen Mittelpunkt der betagte Ornithologe Iwan Alexandrowitsch und dessen verwaiste Enkelin Tanjuscha sind. Wir erleben als Leser die Auswirkungen der politischen Umbrüche, die unsäglichen Schrecken des Krieges, die bittere Notlage der Bevölkerung und das mit der Machtübernahme durch die Bolschewisten einhergehende, totale Chaos, illustriert an den Schicksalen der Protagonisten, wobei die defekte Kuckucksuhr des Professors zu Beginn der Geschichte den völligen gesellschaftlichen Zusammenbruch sehr wirkungsvoll symbolisiert. Überhaupt findet der Autor immer wieder wunderbar stimmige Bilder, die das Geschehen poetisch umschreiben, wofür die Schwalbe beispielhaft ist, die zu Beginn der Geschichte gerade angekommen ist und ihr altes Nest bezieht am Haus des Ornithologen, als Frühlingsbote freudig begrüßt von Tanjuscha. Und die Schwalben sind es dann auch, deren ersehnte Wiederkehr sechs Jahre später, am Ende des Romans, die Zuversicht auf bessere Zeiten versinnbildlichen.

Der Autor zeichnet seine Figuren liebevoll, den Komponisten Lwowitsch zu Beispiel, der abends im Salon des Professors Klavier zu spielen pflegt, oder die beiden jungen Männer, die Tanjuscha umwerben und deren Schicksal nicht unterschiedlicher sein könnte. Patriotischer Soldat der Eine, dem eine deutsche Granate alle Gliedmaße abreißt, was er, nur noch Torso nun, als medizinisches Wunder überlebt, vom Autor im weiteren lapidar als «Der Stumpf» bezeichnet. Der sich nun mit einem im Krieg erblindeten Soldaten einen makabren Streit darüber liefert, wem es schlechter gehe. Trotz aller Schrecken erzählt Ossorgin seine Geschichte mit ironischem Unterton, der ins Urkomische umschlägt, wenn er zum Beispiel den kometenhaften Aufstieg eines Deserteurs bei den Bolschewiki schildert, dem Zufall und Kaltschnäuzigkeit im Wirrwarr der kommunistischen Machtergreifung unerwartet einen Posten beschert. Ein anderer findet sein Auskommen als Henker, der, quasi im Akkord bezahlt, ungerührt sein grausiges Handwerk betreibt, beim Schlachten des von seiner Frau gemästeten Schweins hingegen kläglich scheitert.

Der in 86 kurze Kapitel gegliederte zweiteilige Roman ist schlaglichtartig auf das Private fokussiert, er zeigt den unfassbaren Fatalismus seiner Figuren auf, die sich in all dem gesellschaftlichen Horror eine Nische der Menschlichkeit offenhalten. Es wird chronologisch erzählt in überwiegend realistischen Einzelszenen, wobei die Mäuse und Ratten im alten Haus des Professors ebenso einbezogen sind wie der Kuckuck, dessen Rufe dem Ornithologen die ihm verbleibenden Jahre verkündet. Feinsinn und brutalster Horror stehen sich diametral gegenüber in diesem grandiosen Panorama eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs, der den Autor selbst ins Exil getrieben hatte, zusammen mit 600.000 russischen Flüchtlingen übrigens, die damals binnen eines Jahres ins Deutsche Reich gekommen sind, wie uns das informative Nachwort wissen lässt. Den Leser erwartet eine äußerst gekonnt erzählte, bereichernde Lektüre, die ihresgleichen nicht hat in den Niederungen der Gegenwartsliteratur.

Bewertung vom 10.01.2016
Bjerg, Bov

Auerhaus


gut

Ambivalent

Das nach langen Jahren wieder zum Leben erweckte Literarische Quartett des ZDF hat in seiner dritten Folge jüngst unter anderem den Roman «Auerhaus» von Bov Bjerg besprochen, das zweite Buch dieses Autors, der auch als Kabarettist bekannt ist. Es handelt sich um einen typischen Coming-of-Age-Roman, der von den Problemen handelt, denen sechs junge Leute beim Eintritt ins «richtige» Leben gegenüberstehen. Nun ist diese Thematik ja nicht neu in der Literatur, was also macht diesen aktuellen Roman lesenswert?

Wir haben es hier mit einer tragikkomischen Adoleszenz-Geschichte aus den späten achtziger Jahren zu tun, deren Titel von dem Popsong «Our House» der britischen Ska-Band Madness abgeleitet ist. Unter dem verballhornten Namen «Auerhaus» wird von vier Jugendlichen im leerstehenden alten Bauernhaus von Höppners verstorbenem Opa eine Wohngemeinschaft gegründet. Dort versammelt sich ein illustres Völkchen, dem neben Abiturient Höppner, dem vornamenlos bleibenden Ich-Erzähler, der sich mit seinem Stiefvater nicht versteht, auch Vera angehört, seine Freundin, ferner Frieder, sein depressiver Freund, der einen Suizidversuch hinter sich hat, und Cäcilia, ein Klassenkameradin Veras aus begütertem Elternhaus. Zu ihnen gesellen sich später noch Pauline, die Höppner als Brandstifterin in der Psychiatrie kennenlernt, als er Frieder dort besucht, und Harry, ein Elektriker, der sich als schwul outet, sein Geld als Stricher verdient und mit Rauschgift handelt. Sie alle eint der Wunsch nach einem anderen, einem erfüllten Leben, nicht nach dem, was ihnen die Eltern da so vorleben, von ihnen nur verächtlich mit dem Etikett Birth-School-Work-Death gebrandmarkt. Es ist vornehmlich ein therapeutisches Motiv, das Höppner zu der WG inspiriert, Frieder soll nach dem Klinikaufenthalt keinen Rückfall erleiden, soll von weiteren Suizidversuchen abgehalten werden durch das enge Zusammenleben mit den Freunden.

Dieses illustre Ensemble erleben wir nun in angeregten Diskussionen über die Probleme dieser Welt und in allerlei verzwickten, zum Teil amüsanten Situationen, deren Komik mit der unbekümmerten, naiven Art zusammenhängt, wie die jungen Leute dem Alltag begegnen. Sie erproben sich an der Realität, wozu dann auch gehört, dass sie durch regelmäßigen Ladendiebstahl die gemeinsame Haushaltskasse schonen, sich durchmogeln bei Abitur und Musterung. Aus Gaudi wird dann auch schon mal nächtens der beleuchtete Weihnachtsbaum der Gemeinde gefällt, was zum zeitweiligen Stromausfall im ganzen Dorf führt. Oder ein Streifenwagen der Polizei mit Suchscheinwerfer und einer Pistolenattrappe aus dem alten Cadillac von Harry heraus provoziert, ein Vergehen, das nicht ungesühnt bleibt. All das wirkt jedoch immer wie eine Art stummer Notwehr, wird zudem im Hintergrund stets vom permanent drohenden Tod des lebensmüden Frieder überschattet.

In einer dem Alter des Ich-Erzählers angepassten, flapsigen Sprache entwickelt der Autor seine Reflexionen über Leben und Tod, über die Sensibilität der jungen Leute den Zumutungen des Lebens gegenüber, über ihre Sinnsuche und ihren ungestümen Drang nach Freiheit, über die geplatzten Illusionen letztendlich. Denn in einer Art doppeltem Schluss wird zunächst eine imaginierte, kitschige Variante von den Erfolgen der Protagonisten im späteren Leben vorausgeschickt, der dann die Realität folgt: «Im richtigen Leben war das Ende vom Auerhaus ziemlich ambivalent. Ambivalent, so sagten sie später an der Uni, wenn was durchwachsen war, oder irgendwie zweischneidig.» Die minimalistische Erzählweise dieses Romans dürfte nicht jedermanns Sache sein, manche Figuren scheinen mir ein wenig zu skurril geraten, Liebe und Sex sind erstaunlicherweise völlig ausgespart, in einigen Punkten ist zudem der ansonsten realistische Plot partout nicht stimmig, fiktional überstrapaziert jedenfalls. Und den Sinn des Lebens zu finden ist hier ebenfalls nicht gelungen, - wie sollte es auch? Gleichwohl wartet eine kurzweilige Lektüre auf den Leser!

Bewertung vom 07.01.2016
Edschmid, Ulrike

Das Verschwinden des Philip S.


gut

Ein Irrweg

Stefan Aust hat mit seinem bekannten Sachbuch «Der Baader-Meinhof-Komplex» die Phase des Umbruchs in Deutschland kenntnisreich beschrieben, nun scheint die Zeit reif für eine mehr fiktionale Aufarbeitung der Geschehnisse, die gemeinhin mit der Jahreszahl 1968 symbolisiert werden. Mit seinem buchpreisgekrönten Roman hat auch Frank Witzel diese Thematik aufgegriffen, zwei Jahre vorher, 2013 erschien «Das Verschwinden des Philip S.» von Ulrike Edschmid, ein autobiografisch geprägter Roman über ihren damaligen Lebensgefährten Werner Philip Sauber, dessen revolutionärer Weg ihn schließlich in den bewaffneten Untergrund führt.

Philip S. stirbt am 9. Mai 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei auf einem Kölner Parkplatz. «Vor den Krankenwagen sind die Fotografen da.» lautet der erste Satz, womit das Ende schon vorweggenommen ist. Als Leser wird man regelrecht hineingestoßen in die brutale Schlussphase einer Geschichte, die den allmählichen Wandel eines kreativen Studenten der Film- und Fernsehakademie zum gewaltbereiten Revolutionär beschreibt. Fast vierzig Jahre später nun blickt Ulrike Edschmid auf die Jahre zurück, in denen sie mit ihm zusammen war. Er kam als Sohn aus einer reichen Schweizer Unternehmerfamilie 1967 nach Berlin, sie lebte nach der Trennung von ihrem Mann mit dem kleinen Sohn in bohemeartigen Verhältnissen. Philip hingegen tritt ziemlich exzentrisch auf, sie schildert ihn als filmisches Genie, dessen hohe Kunst zwar Vielen ziemlich unverständlich bleibt, in der Akademie aber voll anerkannt und entsprechend gefördert wird. Die sich zuspitzenden Ereignisse in Berlin, deren Höhepunkt 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke darstellt, verschärfen auch die anfangs vornehmlich auf die Hochschule gerichteten Proteste der Studentenclique um Philip und weiten sich aus auf revolutionäre, zunehmend radikaler, gewalttätiger und schließlich kriminell werdende Aktionen. Ulrike unterstützt diese Aktivitäten, ihre WG wird immer öfter von der Polizei durchsucht, bis sie beide eines Tages in Untersuchungshaft landen. Für Ulrike eine Zäsur, sie nimmt aus Angst um ihren Sohn daraufhin nicht mehr teil an den Aktionen, das Paar trennt sich schließlich, Philip taucht ab in den Untergrund.

Ein bemerkenswertes Kennzeichen der damaligen Ereignisse war die überwiegend gutbürgerliche Herkunft der Revolutionäre, und auch Philip stammt ja nicht aus dem Proletariat, ganz im Gegenteil. In seinem Hass gegen die Bourgeoisie sagt sich Philip schon früh von seinem spießigen Elternhaus los, schlägt sich finanziell mit Gelegenheitsjobs und als Taxifahrer durchs Leben. Edschmid zeichnet ein positives Bild der damals neu aufkommenden studentischen Wohngemeinschaften, ihre Figuren sind anschaulich beschrieben, man kann sich sehr gut in das stimmig geschilderte Milieu revolutionärer WGs hineinversetzen. So gut wie nichts hingegen erfährt man über die konkreten Ziele der Revolutionäre, die Perspektive der Autorin ist die einer wenig eingeweihten Randfigur.

Ihre Geschichte wird, das Vorwort ausgenommen, strikt chronologisch im Präsens erzählt, in einer prosaischen Sprache zudem ohne irgendwelche Ausschmückungen, ohne raffinierte Zeit- und Perspektivsprünge. Sie hat damit eher den Charakter eines nüchternen Berichtes als den eines unterhaltenden Romans, bleibt aber, trotz des vorweggenommenen Endes, wegen der fast beängstigen Direktheit bis zum Schluss spannend, man wird immer tiefer hineingezogen in die Entwicklung von Philip S. zum Terroristen. Wenig überzeugend ist der Versuch der Autorin, bei einem Besuch am Tatort den Tod ihres Helden als vermeidbar darzustellen, ihn als Notwehr, sogar als regelrechte Hinrichtung umzudeuten. Außer bei Gericht wird nirgends so gelogen wie in Autobiografien, das gilt wohl auch hier - und ist deshalb verzeihbar. So hautnah aber, literarisch aus einer seltenen Innensicht heraus entstanden, ist man dem damaligen Geschehen noch nie gekommen, dieser Roman ist allein deswegen schon eine lohnende Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.01.2016
Woolf, Virginia

Mrs. Dalloway


ausgezeichnet

Keine Angst

Selbst notorischen Büchermuffeln dürfte der Name dieser englischen Autorin geläufig sein, von dem Bühnenstück «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?» nämlich, 1966 kongenial verfilmt mit Elizabeth Taylor und Richard Burton. Die Idee zu diesem Titel kam Edward Albee im Waschraum einer Bar, er hielt den graffitiartig auf einen Spiegel geschmierten Satz für einen Ulk, bei dem der gefürchtete Wolf aus dem Spottlied des englischen Märchens als Wortspiel durch den Namen der Schriftstellerin ersetzt wurde, - oder etwa, weil sie als schwieriges Studienobjekt bei den Literaturstudenten gefürchtet war? Anspruchsvoll jedenfalls ist auch ihr vierter Roman «Mrs Dalloway», der einen künstlerischen Höhepunkt im Œuvre dieser bedeutenden Autorin darstellt. Vor dem kontemplativ veranlagte, aufnahmefähige Leser aber keinesfalls Angst haben müssen, soviel vorab!

Virginia Woolf wird neben Gertrude Stein als berühmteste Autorin der klassischen Moderne angesehen. Sie hat in ihren Werken unermüdlich gegen das englische Spießertum angeschrieben, gegen den elitären Snobismus gehobener Kreise und die als zunehmend unerträglich empfundene gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen. Zeitlich im Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt, stimmungsmäßig der «Lost Generation» Pariser Prägung vergleichbar, diente beim vorliegenden Roman die literarisch interessierte Mäzenatin Lady Ottoline Morrell als Vorlage für die titelgebende Protagonistin Clarissa Dalloway. Mit der in diesem Roman von 1925 avantgardistisch benutzten, damals neuartigen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms gewährt Virginia Woolf einen tiefen Einblick in das Innerste ihrer Figuren, hier nun sehr konsequent großräumig eingesetzt als sprachliche Form, erlebte Rede und inneren Monolog einschließend. Aus dieser multiperspektivischen, vom Blickpunkt her willkürlich erscheinenden Erzählweise generiert sich letztendlich der eigentliche Plot, der auktoriale Erzähler selbst ist damit über weite Textabschnitte hinweg nicht mehr vernehmbar. Die stilistischen Parallelen zu dem drei Jahre vorher erschienenen «Ulysses» von James Joyce sind überdeutlich, und auch hier ereignet sich das gesamte Geschehen an einem einzigen Tage im Juni 1923. Als Tempus fugit- Symbol wird dabei leitmotivisch sehr wirkungsvoll immer wieder der Glockenschlag von Big Ben eingesetzt.

«Die Psyche des Menschen zu ergründen» sah Virginia Woolf als Aufgabe des Schriftstellers an, und so kreist ihr Roman, in dem sie sich Freuds neuartige Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht, um einige wenige Personen: Die 52jährige Clarissa Dalloway, eine Salondame der Oberschicht, Septimus Warren Smith, Kriegsveteran mit massiven posttraumatischen Störungen, der umtriebige Peter Walsh, nach fünf Jahren aus dem Kolonialdienst zurückgekehrter, ehemaliger Verehrer von Clarissa, sowie ein völlig unfähiger Psychiater. Mit Letzterem laufen die Fäden der beiden losen Handlungsstränge am Ende zusammen, auf jener Abendgesellschaft, deren Gastgeberin Clarissa ist und um deren Gelingen sich letztendlich alles dreht für sie. Was geschieht in diesem Roman, das erfahren wir zu großen Teilen nur durch den Gedankenfluss des jeweils im Fokus stehenden Protagonisten, entsprechend sprunghaft ist das Erzählte denn auch, ohne allerdings jemals unverständlich zu bleiben, wenn man denn den Text aufmerksam liest.

So ereignisarm dieser Plot um die beginnende Vereinsamung des Menschen in der modernen Massengesellschaft auch erscheint, so reich ist die Gedankenfülle, die da vor dem Leser ausgebreitet wird in Tausenden von Bildern, die breitgefächert Assoziationen auslösen, Gefühle wachrufen, Einblicke gewähren, Reflexionen anregen. Virginia Woolfs Sprache scheint anspruchsvoll, ist aber keineswegs artifiziell, mit zum Teil ausgedehnten Satzkonstruktionen, denen zu folgen dank gut durchdachtem, klarem Aufbau jedoch stets gelingt. Trotz seiner Kürze ein großer, ein grandioser Roman der Weltliteratur, den zu lesen man nicht versäumen sollte.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.12.2015
Capote, Truman

Frühstück bei Tiffany


gut

Satire auf New Yorks Schickeria

Im Werk des in New Orleans geborenen Schriftstellers Truman Capote markiert der 1958 erschienene Kurzroman «Frühstück bei Tiffany» einen Höhepunkt seines vielseitigen Schaffens, das durch seine Tätigkeiten als Drehbuchautor und Schauspieler dem Film stets eng verbunden war. Ein Jahr nach der amerikanischen Erstausgabe erschien der Roman bereits in deutscher Übersetzung, 1961 folgte dann die berühmte Verfilmung des Stoffes mit Audrey Hepburn und machte die Geschichte von Holly Golightly einem weltweiten Publikum bekannt. Wie so oft kann aber auch hier der Film nicht wirklich überzeugen, wenn man ihn mit dem Buch vergleicht, also heißt es selber lesen, will man die berühmte Erzählung unverfälscht und ungeschmälert in allen ihren Facetten goutieren.

Im Mittelpunkt der Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, steht die unkonventionelle 19jährige Holly Golightly, deren in etwa mit «Leichtfuß» übersetzbarer Nachname schon ihren Lebenswandel andeutet, sie schlägt sich frech und unbekümmert als Partygirl durchs New Yorker Nachtleben. Ihre diversen Verehrer nimmt sie erfindungsreich und gnadenlos aus, ohne ihnen entgegen zu kommen, als attraktive Frau auch nur ein wenig von dem zu bieten, wonach sie alle lechzen. Namenlos bleibender Ich-Erzähler ist ihr mutmaßlich schwuler Nachbar, der sich schon bald als einziger echter Freund erweist in einer ansonsten platonischen Beziehung. Denn nicht immer ist Hollys Leben lustig und unbeschwert, und wenn sie den Koller bekommt, das «rote Grausen», wie sie es nennt, dann ist wieder ein Besuch bei Tiffany fällig, dem Juwelier in der Fifth Avenue, - nicht als Kundin, nur der besonderen Atmosphäre wegen, die sie dann immer rasch wieder aufrichtet. Ihr Charme, ihre Cleverness und Unverfrorenheit helfen ihr zuverlässig über alle Klippen. Schlussendlich will sie José heiraten, einen brasilianischen Diplomaten, von dem sie ist schwanger ist und mit dem sie nach Rio de Janeiro ziehen will.

Aber sie hatte vor einiger Zeit unbedarft einen Job angenommen, der ihr jeweils hundert Dollar einbringt, nämlich Sally Tomato wöchentlich im Zuchthaus Sing-Sing zu besuchen. Die harmlos scheinenden Botschaften, die er ihr dabei mündlich mitgibt, werden ihr zum Verhängnis, sie wird verhaftet unter dem Verdacht, für den Mafiaboss gearbeitet zu haben. José trennt sich daraufhin von ihr, um sein Ansehen besorgt. Holly erleidet eine Fehlgeburt, flieht aus dem Krankenhaus und nutzt kurz entschlossen ihr Flugticket nach Rio, danach hört der Erzähler nichts mehr von ihr. Bis eines Tages eine Postkarte eintrifft: «Brasilien war scheußlich, aber Buenos Aires ganz toll. Nicht Tiffany, aber fast. Bin hüftabwärts mit himmlischem Señor verbunden. Liebe? ich glaube nicht. Sehe mich jedenfalls nach was zum Wohnen um (Señor hat Frau und sieben Bälger) und lasse Sie Adresse wissen, sobald ich selber weiß. Mille tendresse.» Diese Adresse aber hat er nie bekommen.

Truman Capote schreibt hier in bester US-amerikanischer Erzähltradition, journalistisch knapp und zielgerichtet mit dem Augenmerk immer auf seiner Geschichte, die er chronologisch erzählt. Sein völlig unprätentiöser Sprachstil ist leichtfüßig wie Hollys Lebensweise, gekonnt angereichert mit Alltagssprache aus dem Milieu einer exzentrischen Lebedame, eine leicht zu lesende, amüsante Satire auf die Schickeria von New York. Denn immer wieder kommt man ins Schmunzeln bei den teils grotesken Situationen, in die Holly und ihr Nachbar unversehens hineinschlittern. Für Buchleser erhellend aber ist auch der Vergleich mit dem vermutlich allseits bekannten Spielfilm. Dort bleibt nämlich von der verruchten Atmosphäre um die lebensgierige Holly so gut wie nichts übrig, die Story wird dank Audrey Hepburn wie mit Zuckerguss serviert, und ein kitschiges Happy End verkehrt schließlich die Intention des Autors geradezu ins Gegenteil. Den Roman zu lesen lohnt sich deshalb allemal!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.12.2015
Gardam, Jane

Ein untadeliger Mann / Old Filth Trilogie Bd.1


gut

Old Filth

2015 ist erstmalig ein Roman der inzwischen 87jährigen britischen Autorin Jane Gardam auf dem deutschen Buchmarkt publiziert worden, - daheim wird sie von ihren treuen Lesern schon lange geradezu hymnisch verehrt. «Ein untadeliger Mann» ist Teil einer Trilogie und deutet bereits im Titel auf die Problematik hin, die der Roman behandelt, die Diskrepanz zwischen idealisiertem Habitus eines Mannes und seiner in der Regel weit weniger widerspruchsfreien seelischen Realität, die so gar nicht untadelig ist, aber bestens kaschiert wird. Der vorliegende Roman, dessen Erscheinen die Schriftstellerin in Deutschland überhaupt erst bekannt gemacht hat, wird allenthalben gefeiert, nicht nur als Neuentdeckung.

Edward Feathers, ehemaliger Kronanwalt in Hongkong mit legendärem Ruf, der ihm den etwas gehässigen Spitznamen Old Filth eingetragen hat, Akronym für Failed In London Try Hongkong, ist mit seiner Frau Mitte der neunziger Jahre nach England zurückgekehrt. Das kinderlose Paar lebt sehr zurückgezogen auf dem Land in Dorset in einem komfortablen Ruhestand, als Betty plötzlich stirbt. In der unerwartet entstandenen Leere beginnt der mehr als achtzigjährige Sir Edward, sein Leben kritisch zu überdenken, sucht wieder den Kontakt zu alten Weggefährten, unternimmt sogar noch weite Reisen, um sie wiederzusehen. Diese in der Jetztzeit angesiedelte Rahmenhandlung wird ausgefüllt von zahlreichen Rückblenden bis in die Zeit des British Empire, angefangen von Eddies Geburt in Malaysia, bei dem seine Mutter starb, über seine Jugend bei einer eingeborenen Ziehmutter, bis ihn schließlich der Vater nach England zu einer Pflegefamilie schickt, damit aus ihm ein richtiger Engländer wird. Seine traumatischen Erlebnisse dort enden erst, als er aufs Internat kommt, wo er einen Freund findet, dessen Familie ihn wie einen eigenen Sohn annimmt. Der Zweite Weltkrieg zerstört diese Bindungen, Edward absolviert anschließend mit besten Noten sein Oxford-Studium als Jurist, verliert jeden Kontakt zu seinem Vater, den er als Fünfjähriger zuletzt gesehen hatte, und geht schließlich, als er in London keine Karrierechancen für sich sieht, nach Hongkong, wo er zu Ansehen und Reichtum gelangt und auch seine Frau findet.

Die Autorin hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie Eddie als kleine Kinder von ihren in den Kolonien lebenden Eltern nach England geschickt wurden, um dort die Schule zu besuchen, man nannte sie auch Empire-Waisen. Dass in dieser familiären Konstellation die Ursache schwerer Traumata begründet ist, liegt auf der Hand. Der stets die Contenance wahrende Sir Edward jedenfalls ist im Innersten zerrissen, hat vieles aus seinem Leben nicht verarbeitet und versteckt seine psychische Unsicherheit hinter einer snobistischen Fassade. Mit viel Empathie deckt die Autorin Schicht um Schicht das Innerste ihres Helden auf, legt anschaulich die seiner Bindungsunfähigkeit und Asexualität zugrunde liegenden emotionalen Defizite bloß.

Der Plot wird sprachlich kreativ in gut durchdachten, immer wieder Ort und Zeit wechselnden Kapiteln erzählt, die zumeist von realistisch wirkenden Dialogen getragen werden, wobei die Figuren glaubhaft charakterisiert sind und durchaus sympathisch wirken, allesamt very british natürlich. Es gelingt der Autorin mit einer ebenso lockeren wie klaren Sprache, zwei Weltkriege und andere Desaster in ihre Handlung einzubinden, ohne dass ihre Geschichte jemals elegisch zu werden droht. Der von seiner Thematik her nicht gerade neue Erzählstoff von den Brüchen im Leben und den verpassten Gelegenheiten bietet dem Leser ganz nebenbei auch einige Einblicke in historische Zusammenhänge. Für nicht anglophile Leser wie mich anfangs zäh zu lesen, kommt der Roman in der zweiten Hälfte etwas mehr in Fahrt, erfordert jedoch der fragmentarischen Erzählweise wegen einiges an Aufmerksamkeit. Alle rundum begeisterten Leser aber dürfen sich schon auf den nächsten Band der Trilogie freuen, der im kommenden Frühjahr erscheinen soll.

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