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Benutzername: 
helena
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 119 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2019
Die Wunder von Little No Horse
Erdrich, Louise

Die Wunder von Little No Horse


ausgezeichnet

Liebeserklärung an das Leben

Ich habe mich verliebt. Verliebt in Erdrichs Schreibstil. Eine so bezaubernde Kombination aus Sinnlichkeit, Lebenskraft, Sanftheit, brutaler Ungeschöntheit und Weisheit. So poetisch, so berührend. Dann wieder urkomisch, humorvoll und sanft satirisch. Und dann wieder so ernsthaft, erschreckend und schmerzhaft. Wahnsinn, wie das alles zusammengeht. Ich bin wirklich verliebt! Realistisch, märchenhaft/ mystisch, immer sehr eindrücklich und anschaulich, manchmal etwas übertrieben. Einige- wunderschöne- Bilder werde ich wohl ewig im Gedächtnis behalten, allen voran die Klavierszenen.

North Dakota. Anfang des 20 Jahrhunderts. Durch Zufall übernimmt Agnes die Rolle des Father Damien, der leider im Fluss ertrank. Sie reist seiner statt in das Reservat Litlle No Horse zu den Ojibwe, um dort die Kirche zu verwalten und die Natives zu bekehren. Mit den Kirchenritualen ist sie gut vertraut, da sie als junge Frau in einem Kloster als Nonne lebte. Diesem Leben entsagte sie jedoch, da sie als begnadete Klavierspielerin ihr Herz an Chopin verlor. Danach erlebte sie einige bewegte und leidvolle, aber auch intensiv schöne Jahre.
Im Reservat bleibt sie nun als Father Damien bis zu ihrem Tod. Kurz vor Ende ihres Lebens erhält sie Besuch von Father Jude, eines Abgesandten der katholischen Kirche. Dieser möchte den möglichen Heiligenstatus einer Schwester eruieren.
Diese Gespräche und das Leben von Agnes/ Father Damien spannen einen zarten Bogen um eine Vielzahl an Geschichten von Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen der im Reservat lebenden Natives. Man muss sehr gut aufpassen, um den Überblick über die Familienbeziehungen zu wahren (gelang mir nicht immer), zur Hilfe ist vorn ein Stammbaum eingefügt.

Man lernt einiges über die Kultur, die Philosophie, die Spiritualität und den Alltag der Ojibwe. Streitigkeiten zwischen den Clans und das Blutfehdeprinzip werden deutlich. Die Schicksale sind oft geprägt von Leid ganz verschiedener Art: Krankheit, Tod, gewaltsame Verluste, Missbrauch, dysfunktionale Mutter- Kindbeziehungen, Alkoholismus, Selbstzerfleischungen - all das als Folge der weißen Einmischung. Erdrich zeigt klar die Ungerechtigkeiten gegen die Ureinwohner, zeigt, wieviel Unheil mit den europäischen Einwanderern ins Land kam. So viel Unheil, doch statt in Wut und Trauer zu verharren, bringt sie das Konzept der Vergebung mit hinein.

Agnes/ Father Damien ist eine wunderbare Figur: intelligent, gütig, liebvoll, hingebungsvoll und pflichtbewusst, aber auch schlitzohrig und widersprüchlich. Natürlich geht es hier auch um das Frau– und das Mannsein. Die weibliche, schöpferische Kraft wird hier sicht- und fühlbar gemacht.

Daneben beschäftigt sich der Roman mit der katholischen Religion, zeigt die herzliche, aber auch die unmenschliche Seite. Zeigt den Unsinn von Bekehrungen, "einer liebevollen Form von Zerstörung", und diskutiert spannende Fragen über die Beichte, den Heiligenstatus, Gotteszweifel und Gottes Gerechtigkeit sowie die Vereinbarkeit verschiedener Religionen.

Und nicht zuletzt geht es um das Leben und auch um die Liebe.

Dieser Roman ist sehr erzählmächtig, voll Poesie, schmerzhaft und bezaubernd zugleich. Lebensklug, gefühlvoll, weise und weiblich.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2019
Das flüssige Land
Edelbauer, Raphaela

Das flüssige Land


gut

Ernstzunehmende Gesellschaftskritik fade umgesetzt

Ruth, Physikerin, tablettensüchtig, arbeitet an der Uni und möchte ihre Habilitationsschrift zum Thema Zeit fertigstellen. Ihre Eltern, zu denen sie kaum noch Kontakt hatte, verunglücken bei einem Autounfall tödlich. Ihre Tante sagt ihr, dass die Eltern sich eine Beerdigung in ihrem Heimatort, in Groß- Einland gewünscht haben. Daraufhin macht sich Ruth kurzerhand auf die Suche nach diesem Ort, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Sie wird trotzdem fündig. In Groß- Einland gelten indes recht eigene Gesetze und Verhaltensweisen. Im Grunde herrscht hier eine Monarchie, da sämtliche Grundstücke der Gräfin gehören. Zudem gibt es ein großes Loch, welches sich bewegt, sich ausweitet und die Bauwerke und das Leben der dort Ansässigen bedroht. So richtig scheint es aber niemanden zu kümmern. "Groß-Einland war verrückt". Ruth bleibt dort und wird von der Gräfin angestellt, um ein Füllmittel für das Loch zu finden.

Die Sprache gefiel mir häufig nicht und verhinderte einen Lesefluss. Adjektive und Substantivierungen wurden häufig gebraucht, das wirkte sehr überbordend und oft auch etwas künstlich und übertrieben. ("götterspeisenhafte Zeitlosigkeit", "nadelige Unergrünlichkeit dampfte mir ätherisch ins Hirn") Im Verlauf wurde das ein wenig besser.
Gerade anfangs wunderte ich mich noch über Logikfehler, schob diese aber bald zur Seite, weil klar wurde, dass es sich um eine Groteske handelte. Grundsätzlich fehlte mir hierbei aber leider der Humor. Die Story empfand ich als dröge, ohne rechte Spannung, ohne Pfiff. Die Figuren blieben mir egal und fern, sie berührten mich nicht. Ich langweilte mich, fand vieles vorhersehbar, überlegte auch mehrfach abzubrechen, wollte aber dennoch wissen, welches Ende der Roman findet.
Zudem gefielen mir auch einige Dinge: die Grundidee des Loches innerhalb dieses Ortes; das österreichische Flair; das Aufs- Korn- Nehmen von Spiessbürgerlichkeit sowie typischer Gebräuche und Gewohnheiten; desweiteren die eingestreuten kurzen Informationen über schwarze Löcher und das Doppelspaltexperiment.
Am besten gefiel mir jedoch der Spiegel, der hier der (nicht nur österreichischen) Gesellschaft vorgehalten wird. Ein recht praktisches Loch, in das alle Dinge gekippt werden, an denen man schuldig geworden ist, alle Dinge, die man unangenehm findet. So werden die Probleme kurzfristig vernichtet, statt langfristig gelöst. Konstruktiv handelt hier keiner. Das kollektive Vergessen, die Verdrängung und Vertuschung der Verbrechen im Nationalsozialismus wird hier konkret angeprangert. Nicht nur dass, sondern auch das bewusste Inkaufnehmen von Umweltzerstörung, die enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft, Geld und Macht, der Verlust der Demokratie und auch fehlende politische Handlungsbereitschaft werden angemahnt.
Einen positiven Ausblick gibt Edelbauer nicht: Die alte Generation baute auf und verdrängte, die neue Generation erkennt und schweigt – und sieht das Schweigen als größten Akt der Rebellion.

Fazit: Ein Lesegenuss war es für mich nicht, aber die angesprochenen Thematiken sind wichtig, gesellschaftsrelevant, nachdenkenswert und disskussionswürdig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.10.2019
Winterbienen
Scheuer, Norbert

Winterbienen


sehr gut

Atmosphärischer Antikriegsroman

Eifelregion 1944. Kleines Bergarbeiterstädtchen an der Urft.
Egidius ist Epileptiker. In Jugendjahren wurde er zwangssterilisiert und ist knapp einer Lobotomie entkommen. Offiziell als Schmarotzer und Volksschädling abgestempelt. Seit vielen Jahren anfallsfrei, kann er bislang seine Erkrankung recht gut geheim halten. Aus dem Kriegsdienst wurde er ausgemustert. Nach dem Tod seines Vaters kehrte er in die Heimat zurück, unterrichtete am Gymnasium Latein, wurde jedoch aufgrund seiner Gesinnung aus dem Schuldienst vorzeitig entlassen. Hin und wieder betreut er noch Nachhilfeschüler. Vorrangig kümmert er sich nun um seine 80 Bienenvölker und seine Hauswirtschaft. Regelmäßig besucht er zudem die Bibliothek. Dort entziffert er zum einen alte Handschriften des Benediktinermönches Ambrosius, einem im 15. Jahrhundert lebenden Vorfahren, der ebenfalls Bienen züchtete und ein bewegtes Leben führte.
Zum anderen empfängt Egidius hier kleine Nachrichten, aufgrund derer er Juden über die Grenze nach Belgien schmuggelt. Mittlerweile jedoch nicht mehr so oft, da die allgemeine Situation schwieriger wird. Alliierte nahen und deutsche Soldaten werden im Ort stationiert. Doch Egidius benötigt dringend das Geld für die notwendigen Medikamente, welche seine Erkrankung in Schach halten.

Der Roman besteht aus Egidius Tagebuchaufzeichnungen sowie einigen Übersetzungen von Ambrosius`Schriften. Er liest sich fesselnd und ist in einer Sprache verfasst, die wunderbar Stimmungen, Eindrücke oder auch Landschaften wiedergeben kann. Der Roman ist reich an Symbolik und Metaphorik. So erfährt man wie nebenbei auch einiges über Bienen und Flugzeuge. Für mich war es manchmal etwas zu viel, zu überladen, zu überdeutlich wird auf die Katastrophe hingesteuert. Anfangs noch beschaulich und fast gemütlich, wendet sich die Stimmung schnell ins Bedrohliche. So ahnt man schon nach der Hälfte, dass es für Egidius nicht gut ausgehen kann. Aber das ist natürlich auch kein Wunder. Kaum jemand übersteht den Krieg unbeschadet und die Folgen wirken, auch nach Kriegsende, langfristig. Der letzte Twist war daher zwar überraschend, für mich jedoch unnötig.

Egidius ist nach einer realen Person gezeichnet. So verwundert es letztendlich nicht, wenn einiges in seinem Charakter, seinem Denken und inneren Konflikten nur angedeutet bleibt. Ein Mann, der innerlich zerrissen, sich müht, einen Platz im Leben zu finden, als Einzelgänger nicht an die Liebe glaubt und doch immer wieder Frauengeschichten am Laufen hat. Geschützt vom Ruf seines Bruders, der hochdekoriert bei der Luftwaffe dient.
Als grossartig empfand ich die Schilderungen seiner epileptischen Anfälle und das Nahebringen dieser Erkrankung im Ganzen.

Alles in allem ein interessanter Hauptprotagonist und vor allem ein sehr solider Antikriegsroman, der die Schrecken des Krieges deutlich zeigt. Er berührt, beeindruckt, rüttelt auf und verstört. Und regt zum Nachdenken über die verschiedenen Optionen menschlichen Verhaltens an.

Bewertung vom 23.10.2019
Als ich jung war
Gstrein, Norbert

Als ich jung war


ausgezeichnet

Ungewöhnlich und spannend

Dieser Roman steht auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2019.

Franz, der ältere Sohn eines österreichischen Hotelbesitzers, hilft schon frühzeitig mit im Betrieb. So fotografiert er im Sommer die Paare, die im Hotel ihre Hochzeit feiern und hilft im Winter den Skilehrern. Franz verliebt sich eines Tages in ein Mädchen. Kurze Zeit später stirbt eine Braut. War es ein Unfall oder Mord oder Selbstmord? Bald darauf wird Franz vom Vater fort, in die USA geschickt.
Dort landet er in Wyoming, wird zum Skilehrer, obwohl er das nie werden wollte und bleibt für 13 Jahre. Tiefere Bindungen geht er eher nicht ein. Ein älterer tschechischer Professor, "der traurigste Mann auf der Welt" kommt jährlich und möchte nur Franz als Skilehrer, so dass sie über Jahre regelmäßigen Kontakt haben. Doch irgendwann begeht der Professor, während er wieder in seinem jährlichen Skiurlaub weilt, Suizid. Franz muss nicht lange danach, aufgrund von Skiunfällen den Job aufgeben und kehrt verarmt in die Heimat zurück. Dort wird er vorerst von seinem Bruder Victor, der mittlerweile das Hotel führt, (eher ungern) aufgenommen.

Die Milieus in Österreich und Wyoming samt kalter, winterlicher Schnee- und Skiatmosphäre sind stimmungsvoll gezeichnet.
Der Leser erfährt alles aus der Perspektive von Franz, der, wie sich bald herausstellt, allerdings ein sehr unzuverlässiger Erzähler ist. Er wirkt erstmal wie ein recht zielloser, träger, auch leicht irritierbarer Mensch. Stück für Stück kommt man ihm etwas näher.
Der Roman ist durchzogen von seltsamen Vorkommnissen und seltsamen, häufig sehr einsamen Menschen.
Thematisch geht es um toxische oder auch einseitige Beziehungen, um Mann- Frau Beziehungen. Es geht um Missbrauch, um Grenzen und Gewalt, um Macht und Ohnmacht, um Lüge und Wahrheit, um Verdrängung und verzerrte Wahrnehmung. Gerüchte, Halbwahrheiten, Vermutungen, Unklarheiten stehen im Raum. Wie gut kennen wir das Gegenüber? Wo ist das innere "Zentrum des Schweigens, ein Zentrum der Scham", an dass man sich selbst kaum heranwagt?

Tja, was ist das für ein Roman – ein Kriminalroman, ein Spannungsroman, ein psychologischer Roman, eine Milieustudie – von allem etwas. In jedem Fall äußerst spannend und fesselnd erzählt. Auch sehr unterhaltsam.
Vieles wird angedeutet, die Athmosphäre ist oft merkwürdig, manchmal gar gruselig. Seite um Seite wird alles ungeheuerlicher und nimmt andere Formen an, neue Perspektiven tun sich dabei auf. Im Gewahrwerden des Gesamtblicks brachte mich das Ende dann zum Schaudern. Großartig!
Letztendlich bleibt ein offener Deutungsspielraum, bleibt Raum für Spekulationen und Diskussionen.

Fazit: Ein klug geschriebener Roman, über die Geschichten, die nicht erzählt werden.

Bewertung vom 22.10.2019
Radio Activity
Kalisa, Karin

Radio Activity


ausgezeichnet

"Auf dem Weg in Teufels Küche..."

Ich hab mich sehr gefreut zu hören, dass dieser Roman zu den Nominierten des Lieblingsbuches des Unabhängigen Buchhandels gehört.
Der Klappentext umreisst den gesamten Inhalt, so dass mir hier nichts zuzufügen bleibt.
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Warum bin ich nun von diesem Roman so begeistert:
☆ Er zeigt die Unsinnigkeit und Ungerechtigkeit, dass es gesetzliche Verjährungsfristen in Bezug auf sexuellen Missbrauch gibt. Diese Thematik wird aus den verschiedensten Perspektiven erörtert und zeigt deutlich die Langzeitfolgen, auch generationsübergreifend auf.
☆ Die Atmosphäre einer Hafenstadt an der Nordsee wird wunderbar eingefangen.
☆ Die Liebe und Begeisterung für das Radio (-machen) schwappt über und das Lied "Biscaya" liebe ich nun auch...:)
☆ Die Figuren sind sehr sympathisch, lebensnah und gut vorstellbar gezeichnet. Hier vor allem natürlich Nora, diese starke, aber auch etwas verschlossene, sehr interessante Frau.
☆ Der Roman ist besonders konzipiert. So besteht er aus drei Teilen, wobei jeder Teil ein eigenes Thema betont und eine eigene Stimmung produziert.
☆ Die Sprache ist frisch und interessant, sie hat mir sehr gut gefallen und manche Worte haben es mir sehr angetan. Es liest sich sehr unterhaltsam, amüsant und auch philosophisch.
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Man kann diesem Roman eventuell vorwerfen, hier und da etwas zu konstruiert, zu kitschig, zu sentimental oder auch zu sperrig zu sein, mich störte das nicht, da die ganzen positiven Dinge das bei weitem aufwiegen.
Der Roman ist sehr bereichernd und weitaus vielschichtiger, als ich es hier darstelle. Er lebt auch von den Dialogen und Gedanken dieser wirklich einprägsamen Protagonisten.
Dieses Werk regt an, regt auf, berührt, macht nachdenklich und lenkt den Blick auf eine Schieflage der deutschen Gesetzgebung, die dringlichst behoben werden muss.
Für mich definitiv ein Lesehighlight des Jahres.

Bewertung vom 22.10.2019
Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough
Dautremer, Rébecca

Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough


sehr gut

Das etwas andere Bilderbuch

Das Buch gewann den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis 2019.

Dieses großformatige, kunstvolle und etwas wundersame Bilderbuch beinhaltet das Leben von Jacominus, ausgehend von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Jacominus ist ein liebenswerter, wortkarger und phantasievoller Träumer, dessen Vorbild der edle Schwarze Ritter ist. Innerlich liebt er die fernen Reisen und das Philosophieren. Er hat von Kindesbeinen an gute Freunde, lebt später mit seiner großen Liebe Sweety und seinen drei Kindern zusammen. Es gibt traurige Momente, schöne Momente, Momente des Verlierens, Momente des Verlusts und letztendlich kann Jacominus im fortgeschrittenem Alter sagen, dass er seinen Frieden mit sich und der Welt gefunden hat.

Schon das Vorwort hat mich sofort um den Finger gewickelt...und natürlich auch die Bilder. Sie sind märchenhaft, poetisch, detailverliebt und auch realistisch. Es macht Freude, sie immer wieder zu betrachten.
Die Erzählstimme ist wunderbar sanft und leicht, dabei etwas geheimnisvoll und nicht immer ganz eingängig. Es wird alles sehr aus der Ferne betrachtet, vieles wird oft sehr knapp und allegorisch erzählt. Daher bleiben die Geschehnisse oft nur angedeutet und vage, nur weniges wird ganz konkret. Hier und da gibt es sicherlich auch mehrere Deutungsmöglichkeiten.
Das Buch muss man auf jeden Fall mehrmals anschauen, mehrmals lesen und auf sich wirken lassen, um es zu verstehen. Beim ersten Durchgang könnte man daher vielleicht, aufgrund der allgemeinen Unkonkretheit und Kürze, erstmal etwas enttäuscht sein.
Es entfaltet dann aber seinen Zauber, wirkt inspirierend und lädt zum Träumen ein. Es regt an, darüber nachzudenken, was im Leben wirklich wichtig ist.

Für wen ist dieses Bilderbuch geeignet? Für Erwachsene unbedingt, wobei der Erzählstil wahrscheinlich nicht jedem gefallen wird. Und für Kinder und Jugendliche? Bedingt ja. Sie werden wahrscheinlich nicht alles verstehen (was nicht so schlimm ist, wie die Autorin sagt). So muss man ihnen sicher einiges erklären, wodurch natürlich auch gute Gespräche entstehen können. Die Bilder werden sie jedoch bestimmt faszinierend und zum Träumen einladend finden.

Bewertung vom 22.10.2019
Wir waren Charlie
Luz

Wir waren Charlie


ausgezeichnet

Ein sehr witziges und lebendiges Denkmal für Charlie Hebdo

Ich habe mich zuerst von Luz` Vorgängerwerk "Katharsis" begeistern und berühren lassen, in dem er den Anschlag unmittelbar verarbeitet. Schon hier mochte ich seine Nahbarkeit, seine Ehrlichkeit, seinen Witz, seine selbstironische Komik und auch seine Wärme.

4 Jahre später erzählt Luz nun von seiner Zeit bei Charlie Hebdo. Seit 1992 war er dort tätig, bis er 2015 ausschied. 23 Jahre! 23 Jahre, die er mit Charb, Cabu, Tignous und all den anderen verbracht hat. Wie schmerzvoll muss dieser Verlust (gewesen) sein...

Im Grunde bringt der Klappentext alle Wesentlichkeiten wunderbar auf den Punkt. Luz zeigt sehr authentisch den normalen, manchmal aber gar nicht so normalen Redaktionsalltag mit all seinen Witzeleien, Frotzeleien und Diskussionen. Er erzählt von Reportagen in den Pariser Banlieus, in Bosnien während des Krieges, im rassistischen Texas und einiges mehr.
Immer wieder erfährt man natürlich auch das politische Klima in Frankreich, Charlie Hebdo war links, idealistisch, couragiert, politisch handelnd.
Es waren vor allem Männer, einige Frauen gab es aber auch, vor allem in den späteren Jahren. Respekt- und liebevoll, dennoch selbstironisch und auf die Schippe nehmend werden alle Figuren mitsamt ihrer Eigenarten und besonderen Begabungen gezeichnet. Damit hat er ein wundervoll lebendiges und sympathisches Denkmal für die damaligen Mitarbeiter geschaffen. "Jeder war auf andere Weise begabt...Der Eine politisch, Der Andere grafisch, der Nächste humoristisch...Jeder auf seine Art besessen...Das macht die Vielfalt von "Charlie" aus." (S.94)
Grosses Highlight für mich war, als Cabu Luz zeigte, wie er bei Undercover Reportagen in der Jackentasche zeichnen könne...Grosses Kino!

Luz gelang wieder ein berührendes und beeindruckendes Werk, voller Witz, Komik und Selbstironie, scharfsinnig, warmherzig, spannend, dabei sehr authentisch und politisch.

Große Leseempfehlung samt Vorgängerwerk!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2019
Panda Mama
Wojcicki, Esther

Panda Mama


sehr gut

"Kinder sind Erwachsene in Ausbildung"

Die Autorin studierte Politikwissenschaft und Jounalismus. Sie arbeit seit vielen Jahren an einer Schule in Palo Alto, in der sie Journalismus unterrichtet. Sie selbst hat drei mittlerweile erwachsene Kinder sowie Enkelkinder.

Sie sagt, Kinder sollen zu lebenstüchtigen und lebensklugen Menschen heranwachsen, empathisch in Bezug auf Andere sein, Probleme lösen können, um letztendlich ein erfülltes Leben führen zu können, immer auch in Anbetracht der spezifischen Anforderungen unserer modernen Zeit. Welche Fähigkeiten brauchen die Kinder nun dafür und was können Pädagogen und Eltern konkret tun, um diese Fähigkeiten im Kind zu wecken und zu fördern?
Die Autorin nennt ihren Erziehungsstil "kollaborativ". Dieser betont die Zusammenarbeit, die Kooperation, das Miteinander. Fünf Hauptelemente sind hierbei unabdingbar: Vertrauen, Respekt, Selbstständigkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl. Diese stellt sie ausführlich dar und gibt vielerlei Praxistipps, die sich zumeist, aber nicht ausschließlich auf etwas ältere Kinder und Jugendliche beziehen und den häuslichen aber auch den Schul- Alltag betreffen.
Wie entwickelt man Durchhaltevermögen, wie stärkt man das Selbstbewusstsein, wie entwickelt man Entscheidungsfähigkeiten und Verantwortungsbewußtsein, wie fördert man Mitgefühl, die Haltung der Dankbarkeit und Kreativität? Das sind einige der Fragen, auf die sie Antworten gibt.

Die Autorin stellt ihren Stil vor allem in Abgrenzung zu zwei anderen Strömungen dar, die sicherlich in den USA sehr viel ausgeprägter sind, als hier in Deutschland. Nämlich die autoritäre Erziehung und die Helikoptererziehung. Sie stellt kurz die Folgen dieser Erziehungsstile dar und welche Schwierigkeiten die jungen Menschen in der Alltagsbewältigung haben.
Mehrfach macht sie zudem darauf aufmerksam, dass die Eltern Vorbilder sind und von den Kindern stets beobachtet werden. Auch regt sie dringend an, stets die eigenen Erwartungen und Projektionen zu reflektieren, um das Kind als eigenständige Person wahrnehmen zu können.

Das Buch liest sich kurzweilig, flüssig und amüsant. Sie schreibt sehr direkt und warmherzig.
Sie zieht ihre Ideen und Erkenntnisse aus ihrem eigenen reichhaltigen Erfahrungsschatz, nimmt aber auch Bezug auf Studien, die sie in einem Quellenverzeichnis aufführt.
Natürlich schreibt sie typisch amerikanisch. Auch das Vorwort, in der ihre Töchter ein großes Loblied auf sie halten, ist etwas gewöhnungsbedürftig. Letztendlich merkt man nämlich selbst schon recht schnell, dass sie eine sehr kluge, mutige und großherzige Frau ist. Von solchen Menschen und - vor allem auch Lehrern- braucht man wirklich mehr! Trotzdem wäre es vielleicht etwas menschlicher, wenn sie noch etwas mehr auch von eigenen Fehlern berichtet hätte...:)
Einige (wenige) Ansichten werden sicherlich auf Kritik stoßen, wie z.B. Ihre Einstellung zum Kinderschlaf, das sollte aber nicht ihre übrigen sehr bereichernden Überlegungen schmälern.
Auch muss man sich darauf einstellen, dass sich das Buch an zwei Zielgruppen richtet, nämlich an Lehrer und Eltern; wobei es insgesamt für alle pädagogisch Tätigen geeignet ist.

Mir gefiel das Werk sehr gut. Ich erhielt überzeugende Anregungen, Ideen und gute Praxistipps für eine allumfassende Vorbereitung der Kinder auf das heutige Leben. Besonders gefiel mir der warmherzige und gesellschaftskritische (und tatkräftig visionäre) Blick der Autorin.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.10.2019
Laufen
Bogdan, Isabel

Laufen


gut

Zwiegespalten

Wir lauschen dem inneren Monolog einer Frau Anfang vierzig, die ihren Lebensgefährten nach 10 Beziehungsjahren durch einen Suizid verlor. Sie muss nun nicht nur mit diesem unfassbaren Verlust zurecht kommen, sondern auch mit der verpassten Möglichkeit, ein Kind zu bekommen.
Der Leser begleitet sie 2 Jahre lang, in denen sie Schritt für Schritt das Geschehnis verdaut und wieder etwas Stabilität und Lebensfreude erringt.

Da im Klappentext nur von Verlust die Rede war, wußte ich nicht, dass es um Suizid ging. Ich hätte das Buch sonst nicht gelesen oder an einem anderen Tag mit einer anderen Vorerwartung. Vor wenigen Monaten hat sich nämlich im Freundeskreis ein Familienvater das Leben genommen und ich hab das noch nicht gut verarbeitet. Es ist kein "normaler" Verlust, wenn jemand sich selbst das Leben nimmt.

Als Leser ist man nah bei der Protagonistin. Ihre vorherrschenden Gefühle sind natürlich Traurigkeit und Wut. Wut auf ihn und auf sich selbst. Immer wieder macht sie sich Vorwürfe, nicht genug für ihn da gewesen zu sein. Immer wieder ringt sie um Fragen, auf die sie letztlich keine Antworten mehr bekommen wird. Man erfährt ein wenig über den Verlauf der Beziehung, die irgendwann aufbrechende Depression ihres Lebensgefährten, die erstmal behandelt, aber dennoch nie so recht verstanden und beim zweiten Auftauchen nicht recht wahrgenommen wird.
Die Protagonistin vermisst ihn unendlich, "diese entsetzliche Lücke", die nun da ist. Sie sehnt sich nach Berührung und hadert mit der Einsamkeit.
Auf Drängen ihrer sehr hilfreichen Freundin beginnt sie wieder mit dem Laufen. Wertvolle Unterstützung erhält sie zudem von einer Therapeutin und ihren Musikerkollegen (sie spielt Bratsche in einem Quartett und Orchester).

Ihr innerer Monolog ist sehr realistisch und überzeugend dargestellt, hin und wieder durch redundantes Gedankenkreisen, Abschweifungen und Sinnieren über Banalitäten gekennzeichnet. Dennoch kurzweilig, bisweilen gar humorvoll und bissig zu lesen, mit einigen berührenden Momenten. Die Sprache, oft Umgangssprache, ist recht einfach gehalten, für meinen Geschmack aber etwas zu einfach.

Ich finde es von der Autorin sehr mutig, dieses unbequeme und schwierige Thema angefasst zu haben. Sie hat wirklich sehr gut recherchiert und wesentliche Elemente zusammengetragen, die solch ein Ereignis sehr treffend beschreiben. Zudem hat sie sehr viele hilfreiche Dinge aufgezeigt. Aber insgesamt war mir das alles doch zu brav, zu zahm, zu seicht und vor allem auch zu wenig, zu oberflächlich und zu schnell. Zwei Jahre eines solch komplizierten Trauerprozesses in einen kurzen Text zu komprimieren (das Ebook hat 121 Seiten) ist schwierig und reichte für mein Erwarten nicht. Ich verblieb nach dem Lesen daher etwas enttäuscht und ärgerlich.
Im Klappentext sollte auch unbedingt erwähnt werden, dass es um Suizid eines Lebensgefährten geht, so dass man da nicht unvorbereitet ist, gerade, wenn man hierzu eigene, frische Erfahrungen verdauen muss.
Ich glaube, für Depressionsbetroffene ist die Lektüre gar nicht zu empfehlen, da so deutlich wird, wieviel Schaden diese Krankheit anrichten kann, ohne diesbezüglich Hoffnung und Verständnis zu geben.
Für Leser, die von diesen Thematiken unbelastet sind, kann dieser kleine Roman jedoch einen gut lesbaren, berührenden und interessanten Einblick bieten.

Bewertung vom 02.10.2019
HERKUNFT
Stanisic, Sasa

HERKUNFT


gut

"Herkunft als Wimmelbild mit Drachen?"

...schimpft Sašas Großmutter am Ende dieses Werkes. Ein Werk, das um das Konstrukt Herkunft ringt, von Drachen handelt, die in den bosnischen Bergen hausen sowie von einer Großmutter, die am Ende ihre Lebens steht. Und nicht nur das.

Stanišic verwebt hier Biographisches, Essayistisches und Märchenhaftes miteinander. Er beschreibt Situationen des ehemaligen Jugoslawiens, das Erstarken des Nationalismus, das folgende Zerbrechen des Vielvölkerstaates, den Schrecken des Krieges und den Verlust seines Heimatlandes. Er schildert zudem sehr authentisch das (in Teilen bittere) Leben als Migrant in Deutschland: "Wir sammelten diskriminierende Erfahrungen wie Wanderer die Wanderstempel."
Wiederkehrend taucht die Frage nach der Herkunft auf. So analysiert Stanišic die verschiedenen Formen von Herkunft: geographische, ethnische, sprachliche, familiäre, genetische, nationale und soziale Herkunft und wägt diese gegeneinander ab. Und wo ist eigentlich Heimat, das Zuhause?
Stanišic` Großmutter Kristina ist ein Stück Heimat. Sie steht nun am Lebensende und ist an Demenz erkrankt. So wird es auch eine Hommage an die geliebte Großmutter und ein Abschied.

Des Autors Sprachwitz, seine Eloquenz und Situationskomik gefallen mir sehr gut. Er schreibt liebevoll und mit Augenzwinkern. Er kann definitiv Geschichten erzählen.
Er, ein "egoistisches Fragment", wie er sich selbst nennt und seine Großmutter, die ihn immer wieder auch "Esel" nennt, sind mir sehr sympathisch geworden..:)
Viele Passagen gefielen mir ausnehmend gut und berührten mich. Seine Gedanken zu Herkunft und seine Sicht auf Jugoslawien fand ich anregend und bereichernd. Letzteres hätte gern noch mehr sein können.
Insgesamt war mir das Werk dennoch zu sprunghaft, zu assoziativ und anekdotenhaft. Diese Erzählweise mag ich einfach nicht so sehr, das ist einfach mein persönlicher Geschmack. In manchen Passagen habe ich mich aber leider auch gelangweilt, und zwar, immer wenn es um den Berg und die Drachen ging. Der Schreibstil kam mir dort sehr abgehackt vor, es erreichte mich inhaltlich überhaupt nicht, so dass ich sogar überlegte abzubrechen und war dann doch froh, es nicht getan zu haben.
Auf den letzten Seiten kann man sich den Fortlauf der Geschichte aussuchen. Leider klappte das mit meinem E-Bookreader nicht so richtig und ich landete oft in falschen Versatzstücken.

Alles in allem bereue ich das Lesen dennoch auf keinen Fall, finde es inhaltlich sogar sehr wichtig und empfehle das Werk (un- )bedingt weiter.

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.