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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 09.11.2020
Sarab
Alem, Raja

Sarab


sehr gut

Der Fanatismus ist das tödliche Metronom, ohne dass die Wiegenlieder des Terrors nie erklängen. (Peter Rudl)

Ist dieses Buch die Beschreibung eines terroristischen Aktes? Eine Seelenbeschreibung zweier junger Menschen? Ein morbider Liebesroman, versteckt hinter politischem Gewand? Ein Abenteurroman gewürzt mit Prisen von Gewalt und Erotik?
Bringt es uns Aufklärung über den Fanatismus Korangläubiger? Über den Fanatismus im allgemeinen? Über religiöse Manipula-tionen? Über die naive Leichtgläubigkeit der Menschen, die sich nach Reinheit und Sicherheit sehnen, nach Gott?
Bleiben wir bei den Fakten:1979 wurde in Mekka DER Heilige Ort des Islam von salafistischen Kämpfern erobert. Pilger aus aller Welt wurden Opfer und Geiseln von Männern, die glaubten, den Mahdi gefunden zu haben und ihn als neuen Herrscher der Welt auf den Thron bringen wollten. Der Mahdi, der Erlöser, der in der Endzeit erscheinen, Gerechtigkeit auf die Erde bringen und das Unrecht auf der Welt beenden sollte. Mahdi – im Judentum der Messias, im Christentum Jesus.
Der Roman beschreibt die fünf Tage der Besetzung. Und bringt das Beduinenmädchen Sarab und den französischen Soldaten Raphael zusammen. Beide leben in ihren inneren Käfigen, dem westlichen und dem orientalischen. Sie gehen zusammen nach Paris. Wir erleben das Sichherantasten des Beduinenmädchens an die „Freiheit“, aber immer wieder blinken Relikte aus ihrer Vergangenheit auf: die zwanghafte Sucht nach seelischer und körperlicher Reinheit. Immer wieder tauchen die Toten des Kampfes auf, auch Raphael wird gequält von Bildern seiner Greueltaten, verbrämt mit Heldenmut und Soldatenehre.
Die Botschaft, der Mahdi sei in Mekka erschienen, wurde von den Pilgern nicht mit frenetischem „Allahu akbar, Gott ist der Größte“, begrüßt. Sondern mit Angst und dem einzigen Gedanken, dem Tod zu entfliehen. Es gab kein Entrinnen. Auch der „Mahdi“ war nur ein Sterblicher.

Beschreibungen der Todeskämpfe, des Blutrausches. Als ob dies ein Zeichen des Lebendigseins wäre. Wieso glauben Fanatiker ihr Weg sei der einzig wahre Weg zum Paradies? Woher der besessene Glaube des Auserwähltseins? Woher nehmen sie das Recht menschliche Lebewesen auszumerzen? Woher der Glaube an das Paradies? Und wozu?

Beduinenmädchen trifft auf männliche „Tötungsmaschine“. Beides kann uns Angst machen. Denn beide sind charakterisiert durch blinde Gefolgschaft. Die inneren Kämpfe der beiden sind recht gut ausgeleuchtet und doch springt der Funken des Nachvollziehbaren nicht über. Sie bleiben fremd. Sollen sie die Wunden von Okzident und Orient versinnbildchen?
Ein Roman aus einer anderen Welt, oft überfrachtet, in vielem zu unglaubwürdig, zu unwahrscheinlich. Aber was ist heute schon glaubwürdig oder wahrscheinlich? Eine intensive Lektüre: eine Liebesgeschichte, die sich mit den historischen Vorfällen verbindet und mit ihnen verstrickt ist. Gekonnt geschrieben, einfühlsam und kenntnisreich. Ein exotischer Liebesroman. Aber: Eine Verschlankung des Textes wäre dem Gesamten zuträglich.

Bewertung vom 09.11.2020
Riwan oder der Sandweg
Bugul, Ken

Riwan oder der Sandweg


ausgezeichnet

Vom Fortgehen und Zurückkehren. Vom Suchen und Sich-Finden.

Der 1999 erschienene Roman wurde den 100 einflussreichsten afrikanischen Romanen zugeordnet. Er schildert uns plastisch und lebendig die Odyssee einer studierten, schönen Afrikanerin, die aus Europa zurückkehrt in ihr Heimatdorf. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer ureigensten Identität. Sie fühlt sich zerrissen, zerstört, zerbrochen.
Ein komplexer Roman mit diversen Ebenen: das Leben der Protagonistin, die spirituelle Welt der Muradiya, einer Sufi-Bruderschaft, das polygame traditionelle Frauenleben im Gegensatz zu westlicher Emanzipation, die Traditionen mit strikten Strukturen und Hierarchien, die einengen, aber auch Geborgenheit und Sicherheit geben.


Wir erleben eine jungen Frau, die ihre „weiße Maske auf schwarzer Haut“ (Frantz Fanon) als Fremdkörper empfindet und ablegt und langsam den Weg, ihren Sandweg, zurück zu sich selbst, findet. Im Serigne, den Kalifen der Muradiya-Gemeinde, findet sie einen Vertrauten, einen Freund, mit dem sie in Augenhöhe über alles reden kann. Alles ändert sich, als er sie zur 28. Ehefrau seines Anwesens, seines Lebens erwählt. Zum ersten Mal empfindet sie Liebe, Sanftmut und Zärtlichkeit, in stillem Einvernehmen. Diese Liebe und Zuneigung, dieses Vertrauen lösen einen Heilungsprozess in ihr aus und sie bleibt dem Serigne über Jahre engst verbunden.

Wir erfahren viel über das das Muriden-Kalifat und über den Serigne. Ein Mann mit einer Aura der Güte, des Wissens, des Scharfsinns, der Weisheit und der Freigiebigkeit. Er verkörpert ein Ganzes. Die Ich-Erzählerin erlebt eine ganz neue Art von Sinnlichkeit, von Liebe und Lust. Die manipulativen Spiele der Wolllust und der Stellungswechsel sind weit fort. Sie singt nicht das Lied der Polygamie, aber sie vergleicht sie mit westlichen Liebesprinzipien, früher romantisch konnotiert, heute ein Optimierungs- und Leistungsprozess. Als der Serigne sich nach Jahren eine neue Frau nimmt, geht die Erzählerin ihren eigenen Weg. Sie ist jetzt stark genug und hat sich selbst gefunden. „Ich war zu der geworden, die ich war“. Frei von den falschen Verlockungen und Verführungen des Westens. Fernab vom westlichen Feminismus, der einfach nur eine weitere - ismus-Schublade ist.

Eingebettet in die soziologischen, religiösen, psychologischen und philosophischen Facetten sind die Kurzporträts einiger Frauen. Immer wieder Einsprengsel von sozialkritischen und politischen Protestnoten, fast wie Werbeslogans im Stakkato. Der gesamte Text wird dadurch rhythmisch und lebendiger.

Ken Bugul entführt uns in zwei Welten, in die traditionelle afrikanische und die moderne westliche. Welche ist die bessere? Nachzudenken über Traditionen und Moderne, über weibliche Rollenspiele und Schicksale, dazu regt dieser Roman an und führt vielleicht zu Verständnis anderer Lebensarten und zum Tieferschürfen der eigenen Situation, der persönlichen wie der allgemeinen in Europa.


Abschließend ein Satz von Fernando Pessoa: Nie eine Haremsdame gewesen zu sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.11.2020
Viva
Deville, Patrick

Viva


ausgezeichnet




Das Festmahl der Synapsen.
Der Gastgeber ist der Autor Patrick Deville, der für seine Schreib- und Fabulierlust bekannt ist. Deville platziert seine illustren Gäste mit Platzkarten ganz comme il faut, lässt aber auch viel Platz am üppig gedeckten Tisch für „Zaungäste“. Deren Namen flattern en passant wie Appetizer umher. Delikatessen und Petitessen aus den überbordenden Biographien der Hauptgäste bilden die Essenz des Buches : die Curricula vitae sind wie ein Bouquet einer untergegangenen Welt, deren Kul-minationspunkt Mexiko ist. Der Leser landet in einem Strudel aus biographi-schen, politisch-geschichtlichen und kulturellen Details: der Roman ist vielleicht keine Heldenreise, aber auf jeden Fall eine Bildungsreise. Ein Menü gegen die Amnesie. Und regt an zum Recherchieren und Nachlesen – ach, wer was das noch, doch schon mal gehört?! Leo Trotzki. Malcolm Lowry. B. Traven. Frida Kahlo. Tina Modotti. Diego Rivera. Und last not least eine kurze Hommage an Lázaro Cardenas. Er nahm Flüchtlinge und Verbannte auf, aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aber auch viele Deutsche. Initiierte Reformen, verstaatlichte die Ölindustrie. Heute wäre er ein Präsident fernab des politischen Mainstreams. Und hier einige der „Zaungäste“: Sandino. Zapata. Picabia. Blaise Cendrars. Juan Rulfo. Octavio Paz. Victor Serge. John Reed. Majakowski. Sancho Villa. Jules Verne. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Pablo Picasso. Sergej Jessenin. Walter Benjamin. Blaise Pascal. Geoge Orwell. Antonin Artaud, Georges Simenon, Saint-John Perse. Simone Weil. Roland Barthes. Jorge Luis Borges, André Breton. Sacco und Vanzetti. John Dos Passos. Pablo Neruda. Che Guevara, Subcomandante Marcos. André Malraux. Ganze zehn Jahre ist Patrick Deville auf den Spuren seiner Gäste gereist: Von Mexiko nach Sibirien. Und überlässt den Lesern einmal mehr ein faszinierendes Epos, das zeigt, dass Geschichte mehr ist als nur ein paar Jahreszahlen. Dass Geschichte Menschen sind und Geschichten, die miteinander verbunden, verflochten und verwoben sind. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. William Faulkner Und zuletzt die Frage: Was wäre aus der Weltgeschichte, aus der Sowjetunion und aus dem Kommunismus geworden, wenn Trotzki statt Stalin die oberste Machtposition innegehabt hätte?

Bewertung vom 09.11.2020
Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe
Kopf, Uwe

Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe


gut

Das Land des Lächelns. Das Land des Verschweigens.

Der Roman beginnt mit den Vorbereitungen für einen Mord. Der Protagonist Tom wirft noch einmal mit Sunil verfeinerte Wäsche in die Maschine, bestellt sich Pizza und Bier und packt ein Geschenk ein.
Die letzte Etappe seines Lebenswegs, eines Lebens auf emotionaler Sparflamme, bevor er sich im Mai 1998 selbst mordete. Für ihn galt nicht: die Hoffnung stirbt zuletzt. Er hatte keine Hoffnung mehr 40 Jahre nach seiner Geburt.

Der Autor beschreibt das Leben der Brüder Tom und Sören. Mal in der 1., mal in der 3. Person. Meist in ziemlich schnoddrigem Ton, mit versteckter Sensibilität.
Tom und der etwas ältere Sören sind zwei ungleiche Brüder, aufgewachsen mit einer schönen Mutter und einem alkoholkranken Vater mit SS-Vergangenheit. Andere Männer folgten: der Holländer, ein libidinöser Schlagzeuger, der Schläger Hans. Mutter, Oma und die 2 Brüder leben in einer Vorstadt von Hamburg. Die Mutter arbeitete bei der Post, wo auch Tom landete. Sein Bruder Sören machte Karriere als Redakteur, war bei den Frauen beliebt. Während Tom 12 Jahre mit der Puppenbastlerin Tanja zusammenlebte, ohne sie je penetriert zu haben. Erst mit 33 Jahren verlor er seine Jungfernschaft.
Über die Freundin seines Bruders lernte er Eva kennen. Sie verliebte sich in Tom und er in sie: er war besoffen von ihr. Für ihn war diese Liebe für die Ewigkeit, eine Zukunft ohne Eva: unvorstellbar. „Mit Eva hatte ich eine ganze Welt, eine neue Welt.“ Aber sie entfloh dieser Enge und dieser eifersüchtigen Inbesitznahme.

Immer wieder werden wie die Streusel eines Kuchens Namen, Begriffe, Orte und Song-, Buch- und Filmtitel der damaligen Populärkultur eingestreut. Und immer wieder Songs des bewunderten Rory Gallagher.
Toms nihilistisches Denkschema kreiste um „Lieber ein Nichts, bevor ich zum Mittelmäßigen aufsteige.“
Der Roman ist Zeitgeschichte und Spiegelbild der späten Nachkriegszeit, das Porträt einer gescheiterten Generation. Die Traumata der Älteren pflanzten sich unbemerkt fort, ummantelt von Schweigen.
Es ist eine Choreographie des Scheiterns, eine schleichende Tragödie, eine Sinfonie des Ennui, der Ausweglosigkeit und des Lebensüberdrusses, ohne Pathos und ohne Happy end. Ein mumifiziertes Leben ohne die heute so gepriesenen Selbstoptimierung.

Uwe Kopf gelingt es, in all dieser Tragik eines ungelebten Lebens, die Mitreisenden im Karussell, Lori, Rollo, Mads, Herr Börme, Herr Hirtz humorvoll und lebendig zu beschreiben. Sein Stil ist plastisch, lebendig und trifft realistisch den Jargon jener Zeit. Man gerät in den Sog, immer weiter zu lesen.
Und erst zum Schluss öffnet sich die Tür, die dem Leser Zugang zu Toms Trauma, zu seiner Lebensverweigerung öffnet. Ein Abschluss, mit dem zumindest ich nicht gerechnet habe. Ein Abschluss, der uns das Unaus-sprechliche einer verletzten Seele, die von tiefer Angst, Ekel und Leere erfüllt war, vorführt.
Uwe Kopf ist mit seinem einzigen Roman ,er verstarb im Jahre 2017, ein eindrucksvolles menschliches und zeitgeschichtliches Dokument gelungen.

Bewertung vom 09.11.2020
Frühstück mit der Drohne
Saif, Atef Abu

Frühstück mit der Drohne


ausgezeichnet

Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Das waren progressive Sprüche. Seit 1945 gab es keinen Krieg mehr in Europa. Krieg gibt es in Hollywoodfilmen und in Romanen. Die letzten Balkankriege? Am Rande des Kontinents, fast tatarisch fremd. Und die in Ruanda, im Kongo, im Irak, im Yemen, was gehen sie uns an? Da konnten wir den menschenrechten Zeigefinger mahnend erheben und Worthülsen von Frieden in den Medien platzieren. Und im syrischen Krieg, da gab es sogar eine Zeitlang offene Grenzen und Loyalität. Aber ein Krieg in Gaza? Der ging uns nun wirklich nichts an. Hatten die nicht selbst Schuld mit ihrer bösen Hamas, die das gute Israel angriffen? Und ist israelische Politik nicht die des rohen Eies? Bloß nichts sagen, nichts tun, was dieses Ei beschädigen könnte.
Atef Abu Saif, Schriftsteller und Politologe, in Gaza geboren und lebend und seit April 2019 Kultusminister des palästinensischen Staates, beschreibt in seinem Buch nicht die üblichen Kriegserlebnisse aus Zeiten, als Heere einander bekämpften, sondern er schreibt in Tagebuchform seine Erlebnisse nieder, seine Ängste und Hoffnungen. Er schreibt von seiner Familie, von Freunden und Nachbarn, von zerbombten Häusern, von brennenden Äckern, Olivenbäumen und Orangenhainen, von zerfetzten Leichen, von der Auslöschung ganzer Familien, von der psychischen Zersetzung der Menschen. Deren Traumata die Sockel einer künftigen Gesellschaft sein werden. Eine zusätzliche Zermürbungstaktik zu der Angst um das eigene Leben, um die Familie und um die Freunde: die Kalamitäten des Alltags – wann gibt es wieder Wasser? Wann Strom? Wann können wir Essen einkaufen? Und immer wieder die Frage: warum lebe ich noch? Wann sterbe ich? Wann trifft der Tod mich? Da fällt mir die arabische Anekdote ein: Ein Mann sieht auf dem Marktplatz von Bagdad den Tod. Der Tod winkt ihm zu und der Mann flieht nach Samarra. Dort treffen sie sich wieder. Fazit: Es gibt kein Entkommen.
Die Notizen von Atef Abu Saif sind wie ein Mosaik des Krieges und des Todes, der Angst und der Verzweiflung, aber auch der kleinen Freuden: einen Kaffee trinken, eine Shisha rauchen, eine Melone essen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn die Zeilen eher wie eine Reportage zu lesen sind, klingt in ihnen tiefe Menschlichkeit und Empathie mit: die Toten bleiben nicht namenlos. Atef Abu Saif gibt ihnen ein Stück Leben zurück durch die Nennung ihrer Namen und ihres Alters.
Das Sirren der Drohne, wie ein Perpetuum mobile, wie eine mutierte Riesenmücke, ist ständige Begleitung, gesteuert von einem Menschen, der „nur seine Pflicht tut“, der womöglich vor Langeweile gähnt, Kaugummi kaut, Spaß an der Jagd hat oder Frust, weil seine Frau gestern Nacht nicht mit ihm ficken wollte oder weil die Bank ihm den Kredit verweigert hat.
Die Drohne ist das Symbol dieses Krieges und aller künftigen: ein Big Brother-Szenario, gegen das der Einzelne machtlos und dem er ausgeliefert ist. Ich habe dieses Buch wie eine Hymne an das Leben und die Hoffnung gelesen. Jenseits aller politischen Verflechtungen.

Bewertung vom 09.11.2020
Wie Baptiste starb
Blottière, Alain

Wie Baptiste starb


ausgezeichnet

There was a missing person inside myself and I needed to find him
Was ist dieses kleine Buch? Ein Abenteuerroman? Eine psychologische Studie auf der Suche nach einem verschütteten Leben? Die Geschichte eines Mentizids?
Es beginnt und endet in Frankreich in Form eines Dialogs zwischen Baptiste alias Yumai und einem Therapeuten, unterbrochen durch Textpassagen, die das Leben des jungen Protagonisten in einer Extremsituation beschreiben.
Baptiste, 14 Jahre alt, kann sich nur bruchstückhaft erinnern: seine Eltern, seine Brüder und er sind unterwegs in der Wüste. Er selbst nennt sich Yumai und behauptet, Baptiste sei gestorben, nachdem sie ihm diesen Namen gegeben hätten. Sie, das sind die Entführer, die sich ein hohes Lösegeld erhoffen. Für Yumai war die Wüste nicht die Hölle, sondern eine unberührte Landschaft, nur von Wind und Sonne geformt. Er verspürte tiefe Einsamkeit, aber auch tiefe Glücksgefühle.

Er erinnert Details wie die magischen Sterne der Nacht, das Glücksgefühl des Schattens, der Frische des Wassers. Und die Faszination der Höhle, in der er einige Tage allein verbringen musste: deren Felszeichnungen gaben ihm Trost und Freude. Die Entdeckung der Tausenden von Händen, von exotischen Tieren und von jagenden, tanzenden, schwimmenden Menschen.

Immer wieder bohrt der Therapeut nach und ganz langsam lösen sich die Gedächtnislücken auf. Baptiste hatte kein enges Verhältnis zu seinen Eltern. Vielleicht führte diese Distanz dazu, dass er sich immer mehr an sie gebunden fühlte. Eine Art Stockholm-Syndrom. Und natürlich die Mut- und Glückspillen, mit denen sie sich voll pumpten. Ihm wurde beigebracht zu töten. Keine Gedanken mehr an die Eltern nach der Trennung voneinander, nur des kleinen Bruders Louis letzter Blick voller Schrecken und Entsetzen verfolgte ihn und er fragte sich, was ihm geschehen war….
Ein zweiter Aufenthalt in der Höhle. Er schnitt und ritzte sich mit seinem Messer, das schon blutgefärbt war. Wovon? Eine Hand im Inneren der Grotte, so groß wie seine, daneben eine kleinere, auf die er seine blutbefleckte Hand legte. Immer wieder zog es ihn zu seiner blutbe-sudelten Hand auf dem Fels.

Man fand Yumai/Baptiste bewusstlos, vollgepumpt mit Schlafmitteln neben einem Brunnen. Mit einem Video-Chip in der Tasche. Von seiner Familie keine Spur….


Ein aufwühlendes Buch. Man kann sich hinein fühlen in die verlorene Seele eines Kindes, das sich der Manipulationen durch Pillen, Hasch und Predigten nicht erwehren kann, vielleicht auch nicht erwehren will? Was versprachen sie ihm? Das Paradies wie die Assassinen? Viele offene Fragen, die zum Nachdenken anregen über Extremsituationen, über die Naivität mancher Reisender, über religiöse und psychologische Gehirnwäsche, über die eigene Standhaftigkeit, über das Sterben und den Tod: „Bei uns stirbt man im Bett, im Krankenhaus oder Altersheim. Meine Großmutter hat schon das Heim besichtigt, wo sie sterben wird. Das ist die sanfte Version eines zum Tode Verurteilten, den man sein eigenes Grab schaufeln lässt.“



Bewertung vom 09.11.2020
We Are Not Numbers

We Are Not Numbers


ausgezeichnet

We are not numbers. Junge Stimmen aus Gaza.
Eingerahmt werden diese Texte, die keine literarischen Texte im klassischen Sinne sind von den wunderbaren Bildern der Künstlerin Malak Mattar.

Bewegende Texte, die bedrücken, beschämen und zutiefst berühren. Wir nehmen die Träume, Hoffnungen und die Wünsche der jungen Menschen in uns auf, es lesen sich Hoffnungslosigkeit und zugleich Hoffnung in den Zeilen, tröstlich und tröstend trotz aller machtvollen Willkür durch die Israelis, trotz aller Ausweglosigkeit, trotz aller Gleichgül-tigkeit des Westens. Kämpfe und Drohnenangriffe werden überschattet von dem läh-menden Alltag durch Stromkürzungen, Wassermangel, Import- und Exportsanktionen, Reiseverboten. Gaza ist ein Synonym für Ausgeliefertsein, für Sippenhaft. Gaza ist ein Riesen-Ghetto.

Ein paar Auszüge aus den Texten:
Die Jungen fühlen sich eingesperrt und kommen nicht voran. Und so wünschen sie sich statt diesem Nichts den nächsten Krieg herbei.
Den meisten Menschen gefallen Reisegeschichten, mich quälen sie. Sie erinnern mich an die Grenzen, die gesichtslose Mächte mir setzen.
Wie soll ich mich verändern und wachsen, wenn ich mein ganzes Leben auf diesem kleinen Fleck verbringe?
Der Status quo hat Bestand: eingemauerte Liebe, eingemauerter Tod.
Aber dann wurde ich schonungslos daran erinnert, dass der Geburtsort ziemlich stark mitbestimmt, ob du im Leben Erfolg hast oder nicht.
Ich fühl mich halb Mensch, halb eingesperrtes Tier, von der Welt abgeschnitten.
Wenn wir sagen, dass wir in Gaza leben, lachen wir, weil das hier kein Leben ist. Hier zu leben ist wie in einem Käfig zu sein: ich bin 26 und habe Gaza noch nie verlassen - nicht weil ich nicht möchte, sondern weil ich nicht kann.
Wie eine Dichterin sagte“ Wir Palästinenser stehen jeden Tag auf, um den Rest der Welt das Leben zu lehren“. Trotz der Dauerkrise, in der wir leben, entdecken wir ein Fünkchen Licht am Ende des dunkelsten aller Tunnel.
Der Verlust unserer Freiheit macht uns zu flügellahmen Tauben, wir leben unser Leben ohne Hoffnung, haben schmerzlich kapituliert. Doch die Taube in uns lebt noch, flattert schwach. Wird sie je fliegen können?
Aus welchem Land kommst du denn? Es heisst Gefängnis. Und mit wem lebst du zusammen? Mit der Hoffnung.
Er träumt noch. Er lacht noch. Sie lächelt noch. Sie singen noch.
I am here. Ich will einen Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen.Ich weiss, dass Höhen und Tiefen zur Reise dazugehören. Mit jedem Atemzug kämpfe ich mich weiter den Berg hinauf. Mit jeder Träne, jedem Lachen oder Lächeln entscheiden wir, wie unser Fußabdruck einmal aussehen wird. Meiner wird aus Liebe und Leidenschaft bestehen.
Bin ich falsch auf dieser Welt oder ist diese Welt falsch für mich?

Jenseits aller politischen Polemik ist dieses wunderbare Buch ein Schrei nach Menschlichkeit und Aufmerksamkeit. Eine Aufforderung zum Nachdenken. Besonders für die westliche privilegierte Jugend, für die es selbstverständlich ist, für ein Praktikum oder für ein Semester um den halben Globus zu reisen.
We are not numbers sollte Pflichtlektüre sein im Schulunterricht. 
Bei mir zumindest hat es einen Ehrenplatz im Regal.

Bewertung vom 09.11.2020
Pest & Cholera
Deville, Patrick

Pest & Cholera


ausgezeichnet

Universitas rerum - Die Gesamtheit aller Dinge

Deville strickt uns eine Biographie aus bunten Fäden mit politischen, kulturellen und historischen Ausfransungen. Wieder ist es ihm meisterlich gelungen, eine Lebens-geschichte zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre aufzubauen, gespickt mit glorreichen Namen jener Zeit.
Es ist eine detailreiche Biographie Alexandre Yersins, dem Entdecker des Pestbazillus, der nach dem Medizinstudium zu Pasteur, dem Entdecker der Tollwut-Impfung, geht. Doch Yersin ist ein unruhiger Geist. Nach Jahren in Paris heuert er als Schiffsarzt an, zwischen Saigon und Manila pendelnd. Er liest viel, er beschäftigt sich mit Astronomie, Drachenbau, Vulkanologie, Ethnologie. Und er findet, ohne es zu suchen, sein ganz persönliches Paradies, sein „Walden“, aber eben nicht nur auf Zeit und nicht als Experiment, sondern es wird sein Lebensinhalt: das Fischerdorf Nha Trang im heutigen Vietnam.


Und er baut sein kleines Paradies aus, kauft Land und erschafft eine autarke Arche. Er baut eine Klinik und bildet die Einheimischen aus, gründet ein Pasteur-Institut und interessiert sich für Ackerbau und Viehzucht, produziert seinen eigenen Strom. Er legt Kautschukplantagen an, kultiviert Chinarindenbäume, produziert Malariamittel. Er wird Ornithologe und Orchideenzüchter, baut Kaffee und Tabak an, braut ein belebendes anregendes Getränk - die Kola-Cannelle – das er leider nicht patentieren ließ. Er baut eine Wetterstation, kümmert sich um Aufforstung, beschäftigt sich mit Meteorologie und Geodäsie und zum Ende seines Lebens verfällt er der klassischen Literatur: er übersetzt die Griechen und Lateiner.

Ihn erreichen Hilferufe aus Hongkong: die Pest sei ausgebrochen. Früher reiste die Pest gemächlich. Zu seiner Zeit und heute mit Dampfmaschinen-oder Düsengeschwindigkeit. Yersin entdeckt den Pestbazillus und entwickelt ein Serum. Später wird der Floh als Überträger identifiziert.
1940 kommt er von seiner letzten Reise nach Paris zurück ins Paradies, wird dort bleiben und wird dort sterben: Yersin – ein Tausendsassa im Denken, ein Einzelgänger mit Agoraphobie und doch die Menschen liebend, ein Grenzgänger und Eigenbrötler, ein ruheloser Geist, ein Visionär, ein Alleswissenwollender, ein Vollblut-Forscher, für den Nichtwissen unentschuldbar ist.

Was ist geblieben von Alexandre Yersin? Ein Begriff ist geblieben: Yersinia pestis. Und dieses wunderbare Buch, mit dem Deville uns einen Ausnahme-Menschen, einen Universalisten auf dem Silberteller kredenzt.
Ich bin tief beeindruckt von diesem bereichernden Buch, das in fast kühler und doch höchst empathischer Schreibe, ein Leben nachzeichnet, das den meisten von uns Lesern gewiss fremd ist. Fremd als Name, fremd in seiner betörenden Wissbegier und in seiner totalen Individualität.


Echter Fortschritt ist nur im und durch das Individuum möglich. Masse hat nie etwas Großes geschaffen. So erinnert eine Ratssitzung an die Hellsichtigkeit von Hamstern und ein Stadion an den Scharfsinn von Pantoffeltierchen. (Baudelaire)

Bewertung vom 09.11.2020
Äquatoria
Deville, Patrick

Äquatoria


ausgezeichnet

Ex africa semper aliquid novi – Immer wieder etwas Neues aus Afrika

Patrick Deville folgte den Spuren von Pierre Savorgnan de Brazza. Ganz in der Tradition der Erzähler auf dem Djeema al Fna in Marrakesch schüttet er ein Füllhorn an Geschichten aus: eine kunstvolle Mischung aus eigenem Erleben, aus Angelesenem und Gehörtem. Zeitsprünge vom Gestern ins Heute. Verknüpfungen der Vergangenheit mit der Gegenwart, vielleicht auch mit der uns noch unbekannten Zukunft.
Pierre Savorgnan de Brazza, 1852 geboren, aus kosmopolitischem italienischem Adelsgeschlecht, wollte Seefahrer und Entdecker werden. Er war anders als seine “Kollegen”: Idealist, Menschenfreund, eine seltene Spezie unter den Entdeckern und Kolonisten, in deren Gefolge weiße Gewalt in das dunkle Herz Afrikas eindrang.
Sein Gegenspieler war Henry Morton Stanley. Gegensätzlicher konnten zwei Männer nicht sein. Der reiche Aristokrat. Schwarzer Vollbart, blaue Augen, groß und mager, sanft und menschlich.
Stanley, ein vaterloses Kind aus ärmlichen Verhältnissen. Elf Jahre älter. Mittelgroß, kräftig, mit der Härte des Emporkömmlings. Stanley wurde berühmt durch seine Suche nach dem verschollenen Livingstone: „Dr. Livingstone, I presume?“
Brazza erreicht 1880 zum ersten Mal den Kongo, gründet Brazzaville.
Er starb 1905 im Alter von 53 Jahren und erhielt ein Staatsbegräbnis auf dem Père Lachaise. Heute ruht er mit seiner Familie im millionenschweren Mausoleum in Brazzaville. Er hätte diese monumentale Ehrung sicherlich abgelehnt.

Der Autor führt uns den Äquator entlang nach Osten. Er taucht ein in die Geschichte dieser Gebiete, in die Geschichten seiner nativen Reisebegleiter und bringt uns bekannte und fast vergessene Namen mit ihren biographischen Hintergründen näher. Wer hat schon einmal gelesen, dass es auf Sansibar einen persischen Clan aus Schiras gab, Al Harthi, der seit tausend Jahren an den Inselküsten lebte?

Albert Schweitzer, der in die üppige Urwaldszenerie Bach’sche Fugen ertönen lässt. Sein Pelikan Parzival, der davonfliegt, als sein Herr stirbt.
Aber auch Jules Verne, Pierre Loti, Joseph Conrad und Emin Pascha. Eine hochinteressante Gestalt: Tippu Tip. Er und Brazza sind sich nie begegnet, der eine kam vom Westen nach Osten, der andere vom Osten nach Westen. Der eine ist ein Sklavenhändler, der andere ein Sklavenbefreier. Tippu Tip ist der ungekrönte König von Zentralafrika. Er schrieb übrigens seine Biographie auf Suaheli, das erste Schriftstück dieser Art.

Leopold II von Belgien erwarb den Kongo-Freistaat als Privatbesitz. Voraus denkend sah er, dass die schiffbaren Flüsse und Medikamente wie das Chinin alle Türen für eine ausbeuterische Inbesitznahme öffneten. Apokalyptische Grausamkeiten waren an der Tagesordnung in seinem Reich. Die meisten Weißen hatten keine Vorstellungen von Afrika, seiner Geschichte und seinen Lebensbedingungen, von der Vielfalt an Völkern, Sitten, Gebräuchen, Ritualen und Fehden.

Wieder ist Deville ein narratives Patchwork gelungen, mit verschlungenen Bindegliedern, die Geschichte vom Gestern ins Heute transportieren. Persönliche Impressionen stilistisch gefärbt als Reportage, Portrait oder Geschichtsbuchauszug. Eine lehrreiche Lektüre: Anregend zu persönlicher Entdeckerlust und Recherche.

Der Satz aus Brazzas Brief an seinen Vater soll das Schlusslicht sein:
Und als ich ihnen sagte, dass die Weissen ein Land haben, in dem es an nichts fehlt, konnten sie sich nicht erklären, warum wir hergekommen waren.

Bewertung vom 09.11.2020
Bibi Bwana. Weisse Königin des Kilimandscharo
Sheldon, May

Bibi Bwana. Weisse Königin des Kilimandscharo


gut

Noli me tangere
Das ist das Motto für die Expedition der Amerikanerin May Sheldon Ende des 19. Jahrhunderts, findet Ausdruck im Auftreten in Ballkleid und Perücke, Abendessen mit Tischtuch. Ob die Diener weiße Handschuhe trugen? Eine Sänfte und ein Podium waren wichtige Requisiten.

Sie reist mit 153 Trägern von der ostafrikanischen Küste bis zum Fuß des Kilimandscharo. Benutzt mit Vorliebe das Possessivpronomen „meine“. Und was da alles getragen wurde: „Waffen, Medikamente, Proviant, Geld, Geschenke. Alles gut verpackt gegen Hitze und Regen. Hüte, Sonnen-schirme, Glasperlen aller Art, Stoffe aus Seide und Samt mit Goldspitzen, Uhren, Streichhölzer, Rasiermesser, Dolche, Glocken, Ringe, Gürtel, Nadeln, Nägel, Puppen, Bilderbücher, Tabak, Tee, Zucker, Pfeifen, Besteck, Nähmaschinen, Uhren.“

Natürlich sind die Ansichten dieser gebildeten Frau, die u.a. Medizin studiert hat, ein Ausdruck ihrer Zeit. Und doch hätte ich grundsätzlich mehr Offenheit für das Neue erwartet, weniger Vorurteile. Schon bei den ersten Seiten sträubten sich mir die Lesehaare. Von ihrem durch den Suezkanal fahrenden Schiff hinab konnte sie die Nomaden einer Kamelkarawane als „eine Horde Gauner, schmutzige, elende, heruntergekommene Geschöpfe, wie sie mir noch nie begegnet waren, bar jeglicher Prinzipien samt ihren Kamelen und ihrem Ungeziefer, sich ihren Lebensunterhalt mühselig durch Verschlagenheit, Erpressung und Betteln verdienend,“ klassifizieren. Was für ein scharfer „weißäugiger“ Blick.
Später mitunter Verständnis und sogar Sympathie für die „Wilden“ bis hin zu positiven Attributen. Aber immer mit der Prämisse, um wie viel besser diese „Wilden“ ihr Leben gestalten würden, wenn sie sich den europäischen Vorgaben und Gesetzen unterwerfen oder anpassen würden. Missionarische Töne, wenn es um die Überlegenheit der eigenen Rasse, der eigenen Zivilisation geht.
Interessant Details zu den einzelnen Stämmen, zur Schmuckherstellung, der Position der Schmiede, zu Sprachen und Landschaftsbeschreibungen, zur Botanik und Tierwelt. Zu Polygamie, Hexerei, Aberglauben, Amuletten und zur politischen Situation der englischen und deutschen Kolonialbezirke. Die Beschreibungen des Headmans Hamidi und des Dolmetschers Josefe wirken ehrlich und voller Sympathie.
Über die Massai schreibt sie: Sie “seien Großmäuler und Prahlhänse, durchtriebene Viehdiebe und ohne jegliche Gefühlsregungen, theatralische Muskelprotze ohne wahre Tapferkeit. Ein barbarisches, nicht ausgeprochen negroides Volk, das einen langen Weg zur Zivilisation vor sich hätte, wenn es nicht vorher ausgelöscht würde.”
Wie kam May Sheldon zu solchen Urteilen?. Sie hat die Sprache der Massai nicht gesprochen. Zeichensprache war gewiss nicht ausreichend. Und auch ihre generelle Idee, immer zwei Dolmetscher einzusetzen, um so an der Mimik des zweiten Unstimmigkeiten abzulesen, konnte gewiss kein ethnische Charakterstudie liefern.

Eine trotz aller Bedenken interessante, aber zu langatmige Lektüre, dem Text fehlen Verve, Leidenschaft, Lebendigkeit und eine tiefer gehende Faszination.