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Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2024
Der Zoo in Rom
Janovjak, Pascal

Der Zoo in Rom


ausgezeichnet

Schießen Sie nicht auf den Tamandin.
Pascal Janovjak ist ein Schweizer Autor mit französischen und slowakischen Wurzeln. Er lebt nach langjährigen Aufenthalten im Libanon, in Bangladesch und Palästina in Rom.

Sein Roman „Der Zoo in Rom“ hat viele Facetten. Er kann kurzweilig, aber auch hintergründig gelesen werden, geht es doch um Menschen und Tiere und ihre seltsamen, selten freiwilligen Verbindungen. Ein Zoo ist ja ein künstlich angelegtes Paradies, ein Paradies der Zurschaustellung und des Gaffens. Er könnte auch als Bewahrung von Genpools betrachtet werden zur Rettung ganzer Spezies, bevor sie vom Erdboden verschwunden sein werden. Ein Zoo ist aber auch eine architektonische Herausforderung und last not least: Business as usual. Denn der monetäre Gedanke war immer präsent. Carl Hagenbeck, einer der größten Tierhändler seiner Zeit weltweit, hat ja doch nicht nur aus reiner Tierliebe und Menschenfreundlichkeit gehandelt mit seinen Tier- und Völkerschauen.

In diesem so vielseitigen Roman ist der Zoo sui generis Hauptprotagonist mit menschlichen Nebenfiguren wie Giovanna di Stefano, die mit neuen Kommunikationsstrategien dem Römer Zoo wieder Aufmerksamkeit und Gewinn bringen soll, dem algerischen Architekten Chahine Gabi, der sich mysteriös auf den verschlungenen Pfaden des Geländes verliert, dem Verhaltensforscher Guido Anselmo Moro und dem Tierpfleger Salvatore Leonardi.
Natürlich ist auch Mussolini präsent, der Afrika ins italienische Reich holen wollte: im kolonialisti-schen wie im „animalischen’“ Sinne. 1935 hatte er Äthiopien, dem einzigen noch freien Land des Kontinents, den Krieg erklärt.
Der Zoo beherbergte 3000 Tiere. Doch die Zeit forderte auch unter ihnen Opfer. Es gab kein Futter mehr, dann wütete die Rinderpest und die Wärter mussten Tiere erschießen, Tiere, mit denen sie oft vertrauter als mit ihren Familien waren.
Eine Zeitlang war der Zoo en vogue, Monarchen flanierten als Besucher, Dalí ließ sich inspirieren, Filmsternchen nutzen ihn für Modeschauen, die Römer kamen: sehen, um gesehen zu werden. Die Tiere wurden zu Nebenrollen degradiert. Der Einzug des Fernsehens beendete jedoch vorerst die Besucherströme, denn es bot günstige allzeit verfügbare Unterhaltung vom Sofa aus. Der Handel mit exotischen Tieren blieb jedoch ein großes Geschäft. In den 70er Jahren dann das Entstehen der Antizoo-Bewegung, die die Tiere befreien wollte. Aber nichts verstand von der domestizierten Seele der Gefangenen, die zurück in ihre Gehegezellen der Sicherheit wollten.

Aber immer präsent: Oscar, der Tamandin, der letzte seiner Art, ob er das spürte? Mit seinem vertrauten Wärter Salvatore lebte er eine Beziehung wie ein altes Paar und doch noch immer das Sichverstecken, ein Relikt aus Zeiten in freier Wildbahn.
Oscar wurde ein Star, ein Lokalheld, angeblich gab es Wunderheilungen, Besucher steckten Wunschzettel in die Gitter seines Käfigs. Doch dann fiel ein Schuss und der Rummel fand ein abruptes Ende.

All das war einmal. Heute gibt es den Bioparco mit doppelsinnigen Werbeplakaten wie „Fremde Fische – Invasion unserer heimischen Gewässer“ und einen privaten Plüschtierzoo.

All das ist meisterhaft geschrieben, die menschliche und die tierische Natur beleuchtend, mit gesellschaftlichen und politischen Einsprengseln und mancherlei Anekdoten, mit Kurzportraits einiger tierischer Persönlichkeiten, mit einer nebelhaften Amour fou.




„Der Zoo in Rom“ ist eine wunderbare vielschichtige moderne Fabel, die man wie die Arche Noah ungern verlässt, um wieder auf dem Boden des realen Alltags anzukommen. Dem Autor gelingt es mit dieser Melange durchaus einen Spannungsbogen aufzubauen und bei vielen gewiss auch Erinnerungen an eigene Zoobesuche.
Mich hat die Lektüre als gebürtige Hamburgerin inspiriert, den eigenen Kindheitserinnerungen an den Hagenbeck’schen Zoo demnächst Schritt für Schritt zu folgen. Das werde ich im herbstlichen Nebel tun. Danke Pascal Janovjak für diesen Impuls.

Bewertung vom 25.08.2024
Wo der Wind wohnt
Yazbek, Samar

Wo der Wind wohnt


ausgezeichnet

Das Leben – ein Traum?
Samar Yazbek ist eine syrische Schriftstellerin, die 2011 nach Europa emigrierte. Sie stammt aus einer großbürgerlichen alawitischen Familie. In ihrer Heimat hatte sie sich für Bürger- und Frauenrechte engagiert. Sie trennte sich von ihrem Ehemann, den sie mit 16 Jahren geheiratet hatte und baute sich ein eigenes Leben auf.

Ali, der Erzähler, schwebt durch seine eigene Geschichte. Im kleinen: die eines Jungen eines abgelegenen Dorfes und im größeren Rahmen die seiner Heimat Syrien.

Der Roman ist poetisch, von fast lyrischer Schönheit und legt sich wie eine schützende Hülle um das Geschehen. Er strahlt eine beschauliche Stille aus, trotz der gesellschaftlichen und politischen Hinter- und Abgründe.

Ali ist verwundet und liegt unter Laub in der Einöde eines Berggipfels. Er versucht sich zu erinnern: an eine untergegangene Welt, die Welt vor dem Krieg in einem kleinen abgelegenen Bergdorf. Wichtige Bezugsperson seines kurzes Lebens war Humairuna, eine Frau, die anders war als die anderen des Dorfes. Sie hatte ihm bei seiner Geburt das Leben gerettet, da er sich weigerte zu atmen. Sie legte ihn unter den Baum des Heiligengrabes, so wurde er zum „Sohn des Baumes“. Er lernte mit und in den Bäumen zu leben, zwischen den Ästen hin und her hüpfend, sich wie eine Fledermaus an einen Ast zu hängen. Und er baute sich ein Baumhaus, tagelang sammelte er Zweige und Äste, fügte sie ineinander und verband sie mit Seilen aus Hanf: ein dreiwändiges Haus, so dass er einen Ausblick ins gesamte Universum hatte. Seine Mutter patchworkte ihm eine Decke, die zu einem wärmenden Kleinod wurde.

Er träumte von Licht und von einer Baumherde, die Richtung Himmel stieg. Er lernte osmotisch das Alter der Bäume und ihre Geschichte. Aber er war auch ein Wolkenmaler. Die Wolken waren wie Freunde und sein Spielzeug. Und der Wind bildete mit ihnen eine Art Triumvirat, das Dreigestirn seines kleinen Lebens.
Immer wieder schimmert durch diese poetischen Erinnerungen die Realität auf. Die hart arbeitende Mutter Nahla, der sie schlagende Vater, die Schwester, die sich von einem Abhang stürzte im Glauben an Flügel. Der Tod des jüngeren Bruder, der Stolz seiner Eltern, als Märtyrer fürs Vaterland. Ein alter weiser Scheich, der Ali in die Religion einführte, ihn Lesen und Schreiben lehrte, ihm von sozialer und spiritueller Macht erzählte.
Und die neuen Zeiten mit neuen Scheichs. Der Präsident ist tot. Es lebe der Präsident!
Checkpoints wurden eingerichtet, junge Männer eingezogen. Und die Kämpfe um die Macht begannen.
Ali wusste nicht, wofür oder gegen wen wer kämpfte. An einem Checkpoint nahmen sie ihn mit. Jetzt lag er da, unter Laub, weit weg vom Leben, nicht wissend, ob er überhaupt am Leben war oder nur sein Leben träumte
. Da waren er und „der Andere“. War es sein Alter ego? Sein Astralleib?
Und Ali fliegt. Wo kommt er an? Wir wissen es nicht. Quo vadis?

Samar Yazbek gelingt es, die Leserinnen und Leser mit ihren Worten zu verzaubern: ein kleines Meisterwerk zwischen Tag und Traum.

Bewertung vom 19.07.2024
Ein Leben für den Frieden
Farhat-Naser, Sumaya

Ein Leben für den Frieden


ausgezeichnet

Friedensgeflüster oder Schrei, wenn du kannst
Dieses Buch ist immer noch aktuell, ein Aufruf zum Frieden ist heute dringlicher denn je.
Die Autorin, Professorin an der Universität Bir Zeit, ist eine palästinensische christliche Friedens-„Arbeiterin“. Ihre Familie lebt seit Jahrhunderten im Land. Sie beschreibt ihren Alltag beginnend in den 70er-Jahren bis 2012.

Frau Farhat-Naser wurde 1948 geboren und durfte durch Vermittlung der deutschen Schule Talitha Kumi nach Hamburg zum Studium ausreisen. Sie war das 1. Mädchen ihres Dorfes, das im Ausland studiert und mit dem Staatsexamen für das höhere Lehramt abschloss. Ihr Mann hatte in Amsterdam studiert. Beide arbeiten an der Universität von Bir Zeit.

Eindringlich und lebendig schreibt sie über die palästinensische Landschaft, den Duft von Thymian, Oregano, Pfefferminz, Salbei und Zitronen und das kulturelle Symbol der Olivenbäume, das harte Leben der Frauen, aber auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, welches durch geschickt von den Israelis angeworbene Kollaborateure untergraben werden soll.

Demütigungen durch die Besatzungsmacht sind alltäglich: kafkaeske Bürokratie an den Checkpoints, Razzien und Zerstörungen von Häusern und Land. Diese Demütigungen breitet sie wie einen Fächer aus, der jedoch keine kühlende Luft mit sich bringt, sondern den Verlust an Würde, Angst und Gefühl der Erniedrigung und des Ausgeliefertseins aufzeigt.

Was würden Sie tun:
Wenn die „Staatsmacht“ Ihr Land konfisziert, Jahrhunderte alte Olivenbäume entwurzelt und zerstört, Ihnen den Zugang zu den Quellen verwehrt, (seit 1967 hat Israel die direkte Kontrolle über Nutzung und Verteilung des Wassers). Wenn das Land in 3 Zonen wie ein Flickenteppich aufgeteilt wird. Wenn Sie nicht vom Flughafen Tel Aviv ausreisen dürfen, sondern mühsam und zeitaufwendig über Jordanien reisen müssen. Wenn das sog. Niederlassungsrecht Ihnen Ihr Recht nimmt auf eigenem Grund und Boden zu leben, falls Sie. durch Arbeit oder Studium nicht durchgehend 7 Jahre lang dort lebten. Wenn es getrennte Straßen für Siedler und Einheimische gibt, die oft stundenlange Umwege einplanen oder über Stock und Stein holpern müssen, weil wieder mal ein fliegender Checkpoint die Durchfahrt verhindert. Wenn die israelische Sperrmauer Ihren Ort teilt, so dass einige Familien eingeschlossen sind und das Tor nur stundenweise geöffnet wird. Wenn Ihre Kinder oft stundenlang warten müssen, um zur Schule zu kommen und viele Kinder deshalb nicht mehr zur Schule gehen. Wenn Siedler Sie von Ihrem Land vertreiben…..
Wenn selbst Kranke an den Checkpoints oft abgewiesen werden.
Eine schildbürgerische Anekdote: die Autorin musste zu einer wichtigen Verabredung nach Jerusalem, alle entsprechenden Papiere lagen vor, aber der Körperdetektor meldete Alarm wegen ihres künstlichen Kniegelenks: ihr Knie bräuchte eine eigene Identitätskarte und eine spezielle Erlaubnis für Jerusalem.




Frau Farhat-Naser setzt ihre Kraft ein, in Seminaren und Workshops Jugendlichen, Studenten und Frauen den Umgang mit Provokation, Wut, Angst und Ohnmacht zu vermitteln. Seit 1988 gibt es informelle Treffen von Frauen beider Seiten und Gründung von Frauenzentren in Ost/West-Jerusalem. Immer wieder die Erfahrung, wie schwierig es ist, die mentale Mauer zwischen zwei traumatisierten, von Neurosen geplagten Völker abzubauen: eines fand eine Heimstatt, das andere verlor sie. Die Israelis werden nicht gehasst, weil sie Juden sind, sondern Besatzer. Aber selbst in Jad Vashem wird die Geschichte der Palästinenser einfach ausgeblendet.
Was ist Frieden? Die Akzeptanz von Unterdrückung und Besatzung?

Es sind sehr persönliche Aufzeichnungen, es ist eben kein Sachbuch aus wissenschaftlicher Distanz. Und immer wieder hoffnungsdurchsetzt, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Es geht darum, auch die Mauern des Täter-Opfer-Mythos einzureißen.

Interessant, dass diese Friedensfrau nie für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nominiert wurde, der 2024 an Anne Applebaum, bellizistisch denkend und mehr Waffenlieferungen fordernd, verliehen wird und 2022 dem Ukrainer Serhij Zhadan, für den Russen Barbaren, Horde, Unrat u.ä. sind.

Vielleicht sollten Sie sich auch den Film „No other land“, der auf der Berlinale einen Preis erhielt, ansehen. Da sieht man live die alltäglichen Zerstörungen auf palästinensischem Land.

Sumaya Farhat-Nasers Botschaft ist nur ein zartes Flüstern unter den Marktschreiern und lässt doch hoffen. Es gibt viele Initiativen auf beiden Seiten für Frieden und Miteinander im Heiligen Land.


Edward Saids Worte nicht nur in Gottes, Allahs, Jahwes Ohren: wer hören will, der höret.
Wir müssen den Holocaust anerkennen und verstehen, nicht um Israel einen Blankoscheck zu geben, uns anzutun, was sie uns antun, sondern um unsere Menschlichkeit zu bestätigen und zu bereichern. Nur so kann unser Leid anerkannt werden, und nur so erweisen wir uns der Freiheit, der Unabhängigkeit und des Friedens würdig.


Das Buch findet einen würdigen Abschluss mit einem Essay von Ernest Goldberger.

Bewertung vom 24.06.2024
Das Geständnis der Löwin
Couto, Mia

Das Geständnis der Löwin


sehr gut

Die Macht der Magie, der Mythen und der Geister.
Mia Couto ist hierzulande nicht sehr bekannt. Das ist bedauerlich, schreibt er doch als weißer Portugiese über das hauptsächlich schwarze Mozambik, sein Geburtsland. Er wuchs also in zwei Kulturkreisen auf. Er ist Schriftsteller und Biologe und bewegt sich in zwei verschiedenen Milieus.
Er lehrt als Professor an der Uni Biologie, bei seinen Feldforschungen schließt er die Geschichten der Bewohner mit ihren Mythen ein, sie sind Grundlage seiner Romane.


Der Roman beginn mit „Gott war mal eine Frau, der Himmel war noch nicht endgültig fest, Frauen weben seit Jahrtausenden an diesem grenzenlosen Schleier. Wenn eine Frau schwanger ist, kommt ein Stück Himmel dazu, bei Verlust eines Kindes schrumpft das Gewebe.“

Diese Aussage beinhaltet eines der Themen des Romans, fast feministisch, denn er beschreibt die Situation der Frauen im abgelegenen Dorf Kulumani: sie sind unterdrückt und wertlos, taugen nur zur Arbeit, zum Kinderkriegen und für die Gelüste des Mannes. Sie leben, als ob sie begraben wären.

Archaische Elemente, die Magie der Geister, Traum und Realität, das Diesseits und das Jenseits vermischen sich mit modernen Gegebenheiten: die Ankunft des Jägers in Begleitung eines Schriftstellers. Tradition und Moderne treffen aufeinander, das Hier und Jetzt vermischt sich mit der Macht der Mythen und der Geister aus ewiger Vorzeit.

Auch hier benutzt Mia Couto wieder alternierende Kapitel: das Tagebuch des Jägers Arcanjo Baleiro und die Versionen von Mariamar.


Tragische Einzelschicksale verbinden sich mit der Welt des großen Ganzen. Und die Löwenjagd ist ein Beispiel. Couto war im Jahre 2008 bei der Jagd im Norden dabei, als Jäger die Löwen erlegten, die 28 Menschenleben äuf dem Gewissen hatten. Für die Dörfler aber waren es die Geister, die töteten. Aber „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Geschichten schreiben, werden die Jäger immer die Helden sein. Denn Geschichtsschreibung ist immer die Geschichte der Sieger“. Die Jagd ist auch ein Symbol der Macht: wer Waffen besitzt, ist mächtig.

Für Leserinnen und Leser, die tiefer in die afrikanische mythische Welt eindringen wollen, ist der Roman ein guter Einstieg. Dazu muss man sich aber mit dem doch etwas verwirrenden Wechsel der Erzählungen von Arcanjo und Mariamar anfreunden.

Warum fallen Löwen Menschen an und fressen sie? Sie gehören ja nicht zu ihrem originären Beuteschema. Ein interessantes Detail entdeckte ich bei entsprechender Recherche, abgesehen von Nahrungsknappheit: sie hatten meistens ein desolates Gebiss, so dass sie „ihr normales Wild“ gar nicht mehr richtig reißen konnten.

Und warum sollten sie eigentlich keine Menschen töten? Die Menschen töten sie ja auch….

Bewertung vom 03.06.2024
Der Kartograf des Vergessens
Couto, Mia

Der Kartograf des Vergessens


ausgezeichnet

Erinnern und Vergessen.
Mia Couto ist hierzulande nicht sehr bekannt. Das ist bedauerlich, schreibt er doch als weißer Portugiese über das hauptsächlich schwarze Mozambik, sein Geburtsland. Er wuchs also in zwei Kulturkreisen auf. Er ist Schriftsteller und Biologe und bewegt sich in zwei verschiedenen Milieus.
Er lehrt als Professor an der Uni Biologie, bei seinen Feldforschungen schließt er die Geschichten der Bewohner mit ihren Mythen ein, sie sind Grundlage seiner Romane.

Der vorliegende Roman beschreibt alternierend Verwirrendes in verworrenen Zeiten in einem verworrenen Land in den Jahren 1973 und 2019. Der Dichter Diogo Santiago kehrt auf Anraten seines Arztes in seine Geburtsstadt zurück, um seine Depressionen zu heilen.
Durch eine Lesung lernt er die Moderatorin Liana Campos kennen, die ihm Dokumente der portugiesischen Geheimpolizei übergibt. Diese helfen ihm und ihr bei der Entwirrung ihrer Erinnerungen und ihrer Leben, denn ihr Großvater war der Inspektor der portugiesischen Geheimpolizei, der seinen Vater verhaftete.

Dies wird zu einer Reise durch das Dickicht schwarz-weißer Verknüpfungen familiärer, emotionaler, gesellschaftlicher und politischer Art. Die Einzelschicksale, die alle möglichen Varianten präsentieren – von Liebe und Leidenschaft, von Untreue und Verrat, von Selbstmord und Mord – sind geschickt miteinander verwoben und bilden so ein Sittengemälde der kolonialen Zeit.
Diese Zeit mit ihren Machthierarchien und Massakern ist immer präsent, direkt oder indirekt, denn sie formte die Menschen: die weißen wie die schwarzen.


Couto gelingt es meisterhaft diese verschiedenen Ebenen darzustellen, so dass man sowohl ein Bild der weißen Gesellschaft damals und heute bekommt als auch eintaucht in die afrikanische Welt mit ihren mythischen Bündnissen. Und doch hätte ich mir mehr Stringenz gewünscht, um den Lesegenuss zu steigern. Die eingefügten, trocken-bürokratischen Dokumente sind zwar aufschlussreich und ein adäquates Hilfsmittel für „das Erinnern und das Vergessen“, aber sie verwirren auch, weil man zu oft zurück blättern muss, um den Schicksalfsäden der Menschen folgen zu können.

Eine wichtige Lektüre, die zum Nachdenken über den Kolonialismus und seine Auswirkungen bis heute anregt und eben auch über das westliche Konstrukt „Afrika“. (Kleine Fakten zu Mozambik: 1975 unabhängig, 16 jähriger Bürgerkrieg, immer noch eine hohe Analphabetenrate, AIDS war und ist ein Problem. Es werden über vierzig Sprachen gesprochen).


Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden. Søren Kierkegaard

Bewertung vom 02.05.2024
Als der Kaiser ein Gott war
Otsuka, Julie

Als der Kaiser ein Gott war


ausgezeichnet

Der Feind ist unter uns.
Der 2002 erschienene Debütroman von Julie Otsuka behandelt ein Thema, das in Europa eher unbekannt und in ihrer amerikanischen Heimat wenn bekannt, dann längst vergessen ist: die Internierung japanischstämmiger Menschen in den USA nach dem Angriff auf Pearl Harbour.
1942 Ende April, im fünften Kriegsmonat: Über Nacht erfuhren diese Menschen durch öffentliche Bekanntmachungen - an Bäumen, Bushaltestellen, in Schaufenstern von Läden und Warenhäusern, an Telefonmasten, am Postamt - dass sie sich an Sammelpunkten einzufinden hätten für ihre Evakuierung. Jeder Mensch mit japanischen Wurzeln war der Feind an sich: die 5. Kolonne, er wird in Sippenhaft genommen und in Lager deportiert
Die Frau, namenlos wie ihre 2 Kinder, ein 10 jähriges Mädchen und ein siebenjähriger Knabe, packte und räumte das Haus leer.
Ihr Mann war schon im Dezember verhaftet worden. Ab und zu erhielt sie Briefe.
Am nächsten Morgen an der Sammelstelle erhielten alle eine Erkennungsmarke und wurden in Züge verfrachtet. Vorsichtig tun sich da bei mir Reminiszenzen auf.....
Ein alter langsamer Zug brachte sie nach Utah, in die Wüste.
Am Zielort erwarteten sie Hunderte von Baracken aus Teerpappe, von Stacheldraht umhegt, von Wachttürmen mit Scheinwerfern aus beobachtet. Die brütende Sonne der Wüste. Aber keine Kinderbuchwüste mit Oasen, Palmen und Kamelen, es war eine staubige trostlose Wüste.
Die Rückkehr nach Ende des Krieges, nach 3 Jahren und 5 Monaten: Die Frau holte den Schlüssel, den sie an einer langen silbernen Kette um den Hals trug und den sie jeden Abend berührte, als sei er ein Stück von ihr geworden, hervor. Und auch hier Reminenszen an andere Schlüsselgeschichten, aus der Neuzeit auf einem anderen Kontinent.
„Wir waren jetzt wieder freie Menschen, konnten gehen, wohin wir wollten, keine Zäune, keine Wachen und keine Scheinwerfer mehr. Wir würden unser Leben dort leben, wo es aufgehört hatte. Keiner begrüßte uns herzlich, nicht einmal ein „Lange nicht gesehen, waren Sie verreist?“ 

Und eines Tages im Dezember kam der Mann zurück. Es war nicht der, den sie kannten. Es war ein alter Mann, in Gedanken weit weg, er misstraute allen und alltägliche Kleinigkeiten heizten ihn zur Weißglut an.
Das Ende ist ein überraschendes. Ein Clou, ein Gag wie in einem Hollywoodfilm oder eine Anklage? Eine Anklage an das amerikanische Volk und seine „Vollstrecker“?
Das ganze Geschehen wird in einem fast emotionslosen Ton geschildert, wie in Aufzählungen, kurz und prägnant und an einen Schulaufsatz erinnernd. Dadurch verliert der Roman nicht an Fassungslosigkeit und Tragik, sondern gewinnt vielmehr eine überzeitliche Gültigkeit.
Und vielleicht können sich manche Leserinnen und Leser mehr in das Geschehen einfühlen, als wenn es voller gefühlvoller Aufwallungen und entsprechender Dramatik beschrieben wird.
Ein kleiner lesenswerter Roman, eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treffen.
Der Krieg zwischen den USA und Japan endete übrigens mit dem ersten Atombombenabwurf der bisherigen Geschichte.

Bewertung vom 08.04.2024
Bittere Sonne
Hassaine, Lilia

Bittere Sonne


ausgezeichnet

Eine Familienaufstellung
Lilia Hassaine schaffte es mit diesem Roman in die Vorauswahl des renommierten Prix Goncourt. Sie gibt einen neuen Blick frei in die Parallelgesellschaft der eingewanderten Algerier und ihr Leben in den berüchtigten Banlieus, die man auch als Ghettos bezeichnen könnte.
Der Roman besteht aus mannigfaltigen Zutaten wie dem Generationenkonflikt in der ursprünglich patriarchalischen Gesellschaft, den der erhofften Aufstiegschancen und der Sehnsucht nach Anerkennung, der Ambivalenz nur „geduldet“ zu sein, der Einsicht des Scheiterns.
Er ist zudem ein gut ausgeleuchtetes Psychogramm einer typischen algerischen Familie, die jedoch eine Besonderheit aufweist: die Präsenz des zwei-eiigen Zwillingspaars Amir und Daniel, die durch die Entscheidung des Vaters getrennt und in unterschiedlichen Welten aufwachsen.
Der Vater Saíd lebt in einem typischen Banlieu-Milieu mit seiner Frau Nadscha und seinen drei Töchtern Maryama, Sonia und Nour. Seinen Bruder Kader hat es durch die Heirat mit der Französin Ève in eine ganz anderes Umfeld verschlagen: in ein eigenes Haus mit Garten, mit vielen Büchern und statt wie Saíd sich in einer Fabrik stumpf und kaputt zu arbeiten, ist er für seinen Schwiegervater in dessen Schokoladenfabrik tätig.
Auch wenn Amir und Daniel die Hauptdarsteller in diesem kleinen Familiendrama sind, werden auch die Schicksale der Töchter angerissen: Maryama, die nach Algerien verheiratet wird, Sonia, die von ihrem „importierten“ algerischen Mann nach seiner Ankunft im „Gelobten Land“ verlassen wird und Nour, die Rebellische, die sich gegen ihr Frausein mit Brustbandagen und Hunger wehrt. Die von ihrem Vater „Kleiner Mann“ genannt wird. Die mit 18 Jahren das Haus verlässt, um frei zu sein von der Verachtung dem Vater gegenüber, der sich immer duckt, um bloß nicht aufzufallen, frei von der Unterwürfigkeit der Mutter.
Da Ève und Kader keine Kinder bekommen können, sollen sie das Baby, das Nadscha erwartet, adoptieren. Doch aus einem Baby werden zwei, nämlich Amir und Daniel.
Amir bleibt bei den Eltern, während Daniel seine Lebensreise bei Ève und Kader antritt. Im Laufe des Romans zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Außenhüllen ihres Lebens, sondern auch die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge. Amir ist ein introvertiertes stilles Kind, das mit vier Jahren immer noch nicht spricht, Daniel ist ein forderndes Kind, aufrecht und stolz. Und doch sind sich die beiden Cousins, die nicht wissen, dass sie Brüder sind, tief und innig und unzertrennlich wie durch eine gemeinsame Nabelschnur verbunden.
Lilia Hassaine gelingt es meisterlich, die Schicksalsfäden zu verbinden, zu verknoten, so dass man sich bei der Lektüre eingebunden fühlt und die Empfindungswelten aller Personen nachvollziehen kann. Das Ende ist tragisch. Und doch fast erwartbar.
Mit dem Besuch Daniels und seiner kleinen Familie in Algerien (Orte sind Sprache der Erinnerung, auch wenn man nie dort war) schließt sich der Kreis und es gelingt ihm endlich, seinen Zorn und seine Schuldgefühle loszulassen.
So lösen sich die Knoten der Schicksalsfäden. Und so ist das Schicksal dieser zweiFamilien auch ein Pars pro toto: ein Gleichnis für die Zerrissenheit von Immigranten, nicht von hier und nicht von dort. Von Woanders. Aus einem Zwischenreich.

Bewertung vom 08.03.2024
Weiße Rentierflechte
Nerkagi, Anna

Weiße Rentierflechte


ausgezeichnet

Die Herrin des Feuers

Anna Nerkagi gehört dem sibirischen Volk der Nenzen an, das auch heute noch größtenteils in der arktischen Tundra nomadisch von Rentierzucht lebt.
Dieser kleine Roman ist ein Juwel unter den Schriften der Minderheiten-Autoren.
Er verbindet gekonnt Einsichten in das traditionelle Leben dieses kleinen Volkes mit den Einbrüchen der Moderne, Naturverbundenheit und schamanistisches Denken. Für mich ist neben den alten Männern Petko, Wanu und Chawassa und dem jungen Aljoschka das Feuer das zentrale Element. Die Frauen, bis auf Petkos verstorbene Ehefrau und seine Tochter Ilne, die irgendwo weit fort in einer Ortschaft lebt, bleiben namenlos. Wie Aljoschkas Mutter und seine ihm frisch angetraute Ehefrau, die Frauen der beiden anderen Alten und die stumme Tochter Chawassas.
Die Frau ist in der nenzischen Welt Dienerin des Mannes, aber auch die Hüterin des Feuers. Sie ist dem Manne untertan, sein Wort ist Gesetz, ihr Platz ist auf den Bodenbrettern, sie näht und flickt die Felle, sie bereitet den Tee und das Fleisch im Kessel zu, aber: sie ist die Hüterin und Bewahrerin der heiligen Flamme.
Die Geschichte beginnt mit Aljoschkas Hochzeit, die ganz ohne die üblichen Gäste (je mehr, desto besser) vollzogen wird. Seine Mutter hatte die Braut ausgesucht, sie wollte entlastet werden, Enkelkinder haben und den Sohn versorgt wissen. Der sich nur widerstrebend ihren Plänen ergeben hat. Sein Herz gehörte noch immer seiner Jugendliebe Ilne, auf deren Rückkehr er seit sieben Jahren wartete. Aber sie war nicht einmal zur Beerdigung der Mutter erschienen.
Aljoschkas romantischen Liebe: die es in der nenzischen Welt mit seinen harten Lebensbedingungen nicht gab. Erst die sehr späte Einsicht, dass sein Warten vergebens war, dass Ilne nicht zurückkommen würde, ihn vergessen hatte, ließ ihn sein Schicksal akzeptieren. Wie seine Mutter ihm gepredigt hatte: ja, Du kannst die Braut zu ihrer Familie unberührt zurückbringen, aber wer wird für Feuer, Wasser, Tee und Fleisch sorgen? Wer deine Kinder zur Welt bringen, wer wird dann im Alter einsam wie ein Hund sein? Für das Leben braucht man keine Liebe.
Aljoschka sah sich metaphorisch als Grashüpfer, die für die Nenzen das Symbol für ein para- sitäres Leben sind: leben auf Kosten anderer, sie aber lieben die Spinnen, die eifrig webenden, die von ihrer Arbeit leben.
Als Mann in der Blüte seiner Jahre betrat er, wie seinerzeit sein Vater dreimal hüstelnd, den Tschum. Fast demütig sein Schicksal annehmend. Man strauchelt oder kriecht, aber man muss vorwärts kommen, dem „Schlitten der Zeit“ folgen.
Das Alltagsleben, das schamanistische Denken aber auch die Brüche durch die neue Zeit, die moderne Welt werden in klaren Worten lebendig, ganz wunderbar und poetisch auch in den Naturbeschreibungen. Anna Nergaki tariert glasklar den Gegensatz von Gemeinschaft und individuellem Glück aus. Ein Leben, ein Überleben in einer so menschenfeindlichen Natur kann nur in der Gemeinschaft Erfüllung bringen.
In diesen Woken-Zeiten mag dieser Roman feministische Empörung hervorrufen. Denn die Nenzen-Frau ist nicht gleichberechtigt, sieht den Mann als Gebieter und ist doch mächtig, denn ohne sie wäre der Mann nichts. Sie sehen sich nicht als Opfer, sondern als die andere Hälfte, vielleicht die bessere? des Mannes. Denn sie huldigen durch das Feuer dem Altar des Lebens.
Egal, zu welcher Ideologie die Leserin oder der Leser tendieren: es ist ergreifend, in diese fremde Welt einzutauchen mit seiner zarten und doch realistischen Poetik. Ein Geschenk aus einer fremden, fernen, eiskalten und doch „feurigen“ Welt.
Hilf- und lehrreich der Anhang mit den spezifisch nenzischen Begriffen.

Bewertung vom 24.01.2024
Pol Pots Lächeln
Fröberg Idling, Peter

Pol Pots Lächeln


ausgezeichnet

Ich sehe was, was Du nicht siehst. 

Oder die Parabel von den Blinden Männern und dem Elefanten.
Das im Jahre 2006 veröffentlichte Buch ist eine hoch interessante Lektüre, wenn auch nicht einfach zu lesen, da sie zeitlich hin und her schwankt, sich auf vielen kleinen Impressionen aufbaut, die oft nicht leicht zuzuordnen sind. Gerade wenn man mit der Geschichte Kambodschas wenig vertraut ist.
Hoch interessant besonders auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene: die Entstehung einer sozialistischen Bauernrepublik, die sich auf den Umbau der Gesellschaft und Ausmerzung von „nicht passenden“ Menschen und Traditionen fokussiert. Ausgeübt durch einen kleinen Kreis von Mächtigen, während die Masse des Volkes ohne Stimme und Rechte bleibt.
Die Herrschaft der Roten Khmer im fernen Kambodscha verlief kaum wahrgenommen von der Welt, zu sehr war man noch mit den Relikten des Vietnamkrieges beschäftigt.
In den vier Jahren der Herrschaft eines steinzeitlichen Kommunismus werden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. „Killing Fields“ der Grausamkeit einer Tabula rasa: Phnom Penh verschwindet vom Erdboden mit seinen Ärzten und Anwälten, Optikern und Künstlern, Lehrern und Studenten. Es gibt keine Gerichte mehr, keine Schulen, keine Kran- kenhäuser, Kinos, Cafés, keine Post und kein Telefon. Es gibt keine Gesetze mehr. Nichts Gedrucktes. Eine Revolution, die nicht zu einem bürokratischen Monster mit 1001 Formularen wird, sondern zu Überleben und Sterben. Menschen werden zu Dünger für die Reisfelder. Es gibt Zwangsarbeit, Krankheit, Folter, Hunger und Kannibalismus.
Vier Schweden aus dem Schwedisch-Kambodschanischen Freundschaftskreis bereisen 1978 das Land, berichten von fröhlichen zufriedenen Menschen, mit denen sie sprechen, sind begeistert von den Erfolgen und bemerken nicht, dass sie wie Journalisten heutzutage in vielen Krisengebieten „embedded“ sind. Sie sehen, was sie sehen sollen. Und was sie sehen wollen.
Peter Fröberg Idling ist ein Kenner Kambodschas, er hat selbst dort gelebt und versucht mit diesem Buch die Mixtur von ideologischer Blindheit, der Illusion Potemkin’scher Dörfer und gelungener Manipulation aufzuzeigen.
Er nimmt uns mit auf eine Tour d’horizon durch die Geschichte Kambodschas, vermischt seine eigenen intensiven Eindrücke mit denen seiner vier Landsleute: Reisende mit unterschiedlicher Optik - die berühmten Rosaroten Brillen.
Es gelingt dem Autor, seine Eindrücke, Jahre später nach der Reise der „Polit-Touristen“, auf den gleichen Pfaden, teilweise sogar mit den gleichen Menschen von damals Gespräche führend, vergleichend zu vermitteln.
Die Lektüre zeigt klar, wie schnell man leichtgläubig auf ideologische Irrwege geraten kann, aber auch, dass nicht alle von dem einmal eingeschlagenen linksintellektuellen Pfad abweichen wollen: die heutige (2006) Reaktion der vier schwedischen Reisenden zeigt eine gewisse Engstirnigkeit.
Um die eigenen blinden Flecken in Erfahrungen und Beurteilungen von Menschen und Gescheh- nissen zu hinterfragen und aufzuspüren, ist dieses Buch eine Art Lehrbuch. Heute im Zeichen von Fake News und manipulierten Videos mehr denn je.
Die Puzzleteile von überbordenden, oft subjektiven Informationen und Nachrichten mit Skepsis sortieren. Wachen Auges. Mit offenem Geist. Und geschärftem Gehör.

Bewertung vom 13.12.2023
Memoiren einer unrealistischen Frau (eBook, ePUB)
Khalifa, Sahar

Memoiren einer unrealistischen Frau (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der Paradiesapfel.
Die Lektüre dieses kleinen Romans aus Palästina ist bedrückend, erdrückend und spiegelt sowohl die unterdrückende Gesellschaft als auch die Perspektive einer unterdrückten Frau wider.
Es zeigt eine zersetzende Gewalt, die sich von „draußen“ nach drinnen in die Psyche, in das Selbstbild einer Frau verlagert. Handlungsort ist hier der „Nahe Osten“, aber man möge nicht in die Falle tapsen, dass es nicht anderswo ähnliche Mechanismen gibt und diese auch bei uns im Westen sehr wirkungsmächtig waren und etwas anders gelagert auch noch sind. Vielleicht anders verpackt, subtiler, nicht so „ehrenvoll“.
Sahar Khalifa, selbst Palästinenserin mit Studienabschlüssen in den USA, ist der Schritt in die Freiheit gelungen, lässt die Protagonistin Afaf in der Ich- Form von ihrem Leben, ihren jugendlichen Träumen und der Realität erzählen. Es ist ein Psychogramm einer Frau, die sich aus einer Ehe mit einem ungeliebten Mann lösen will, ganz besonders, nachdem sie ihre Jugendliebe wieder getroffen hat. Der wie sie nicht glücklich verheiratet ist, aber die Situation anders, männlich eben, bewertet.
Der Wunsch nach einem eigenen Leben wird immer wieder selbstgrüblerisch gestört durch die Fragen: womit könnte ich mein Geld verdienen, ohne Beruf. Das Verbleiben in der Komfortzone lockt. Aber Afaf will nicht mehr nur Zaungast des Lebens sein, sondern leben, über den Tellerrand ihrer kleinen Welt schauen. Sich im Spiegel selbst erkennen.
Immer wieder wird ihr gepredigt: sei realistisch. Pass dich an, arrangiere dich, füge dich.
Aber Afaf ist eben eine unrealistische Frau, der die gesicherte Abhängigkeit, die weiblichen Kaffeeklatschrunden, in denen es nur die Themen gibt wie Ehe, Scheidung, Skandal, Geburt, Unfruchtbarkeit, Männer, nicht ausreichten.
In diesem Auf und Ab der Stimmungen und Hoffnungen spielen hintergründig gesellschaftliche und auch politische Elemente mit. Aber Afaf will sich nicht mehr vom Leid ihres Landes und seiner Menschen berühren lassen, ihr eigenes Leid ist ihr genug.
Sie will die Gitterstäbe ihres Gefängnisse aufbrechen, die äußeren und die inneren. Gelingt ihr der Ausbruch, der Aufbruch?
Immer wieder kurze Reminiszenzen an den Apfel - glänzend, rot, schön – Paradiesapfel – Fruchtbarkeits-, Liebes- und Glückssymbol. Honi soit qui mal y pense.