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Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2023
Das Buch vom Verschwinden
Azem, Ibtisam

Das Buch vom Verschwinden


ausgezeichnet

Es war einmal und es war nicht.
Das ist der Beginn vieler Märchen aus dem Orient bis hin zur Seidenstraße. Und so stellt auch dieser fiktive Roman die Frage: geschah es oder geschah es nicht?
Hauptdarsteller sind neben den beiden männlichen Figuren Ariel, dem Israeli, und Alaa, dem israelischen Palästinenser, und dessen Großmutter Tata mit ihren Erinnerungen vor allem die beiden politischen Katastrophen, die diese Landschaft und ihre Menschen heimsuchten.
Die Shoah und die Nakba.
Meisterhaft verwebt die Autorin die Geschichte und die Geschichten beider Völker mit dem gleichen Stammvater, Abraham, die also eigentlich Brüder oder zumindest Cousins sind, deren Sprache ähnliche linguistische Wurzeln hat.
Eine emotional aufrüttelnde Lektüre, die aber auch dazu animieren sollte, die Geschichte der einen wie der anderen Seite zu erforschen und auch zu hinterfragen. Es gibt genug kritische Sachbücher gerade zum Status des Staates Israel, an dessen Entstehung die Europäer und die Deutschen im Besonderen direkt oder indirekt beteiligt waren. Immer wieder wird der Opferstatus ausgespielt und der daraus resultierende Narzissmus des Siegers: Wir sind die Guten, unsere Armee handelt immer moralisch und human, wir sind die einzige Demokratie im Nahen Osten. Wir sind die Modernität und sie sind rückständig und gewaltbereit.
Das spurlose plötzliche Verschwinden der arabischen Bevölkerung in Israel stellt alle vor ein Rätsel. Wieso konnten sie lautlos, ohne Vorzeichen, verschwinden? Wieso wusste der Sicherheitsdienst nichts davon? War es womöglich eine inszenierte Verschwörung?. Aber von wem und mit welchem Ziel? Klar ist, dass das Verschwinden rein praktische Probleme aufwirft: Keine Busfahrer mehr, keine Müllmänner, keine Krankenschwestern. Und neben kritischen, hinterfragenden Stimmen scheint doch Freude und Jubel im Land zu herrschen.“ Endlich sind wir sie los. Endlich gehört das Heilige Land uns. Endlich sind Judäa und Samaria (das Westjordanland) gesäubert“. Sogleich werden Namen von Straßenschildern und Landkarten gelöscht. Die leer stehenden Häuser werden zu einem günstigen Preis angeboten (schon mal gehört, gelesen!?).
All diese politisch aktuellen Nervenfasern verbinden sich mit kartografierten Erinnerungen von Alaa und seiner Großmutter Tata, die im Jahr der Vertreibung im Land blieb und zuerst hinter Stacheldraht eingepfercht war. Für Tata sind Erinnerungen Lebenselixier - Erinnerungen an Menschen, Namen, Häuser, Straßen. Und Alaa stellt immer wieder fest, dass „sie“ , die Israelis, ihm, dem Palästinenser, nie zuhören, nie fragen, wie es ihnen, den Palästinensern, geht, was sie fühlen, was sie hoffen. Ein empathieloses geheucheltes Interesse für die Quotenaraber,
Das passt zu der Aussage in Alberto Memmis Buch „Die Kolonisatoren und die Kolonisierten“: Die Kolonisierten seien keine Subjekte, sondern lediglich Objekte.
Meisterhaft spielt Ibtisam Atem auf der Klaviatur zwischen Satire und Magie. Und lässt die Leser allein mit der Frage: was wäre wenn.....
Es ist ein mutiges Buch, unbedingt lesenswert, anregend zu Sekundärliteratur, um alle Facetten dieses Konflikts zu erfassen, Vielfalt ist gefragt, keine Einfalt. Denn:
Es gibt keine neuen Geschichten, wohl aber neue Ohren für die alten (A.A. Waberi)

Bewertung vom 24.05.2023
Die Hebamme
Hoem, Edvard

Die Hebamme


ausgezeichnet

Die Vierfaltigkeit – leben, lieben, leiden, sterben.
Das ist der Inhalt dieses großartigen biographischen Romans, mit dem der norwegische Schriftsteller seiner Ururgroßmutter Marta Kristine ein Denkmal setzt.
Anschaulich beschreibt er das Leben im 18./19. Jahrhundert an den norwegischen Fjorden, in abgelegenen Ortschaften, in kleinen Gemeinschaften von Bauern und „Häuslern“, eng mit der Natur, den Jahreszeiten und kirchlichen Festen verbunden.
Es ist eine Hommage an eine starke, eigenwillige, unzeitgemäße Frau, die mit Leidenschaft ihrer inneren Berufung folgt, die die Mühsalen des Lebens kennt und meistert - die Freude, die Liebe, das Leid, den Tod. Es ist eine Reverenz an ein arbeitsreiches, kinderreiches und auch erfülltes Leben.
Marta Kristine hatte eine glückliche Kindheit, ganz im Rhythmus der Natur. Sie war schon früh sehr wissbegierig und alles speichernd, auch das Ungesagte. Eine Erinnerung aus ihrer Kindheit: ein von der Zeit und den Winden verblichener Frauenschädel, mit wenigenHaarsträhnen, gut sichtbar aufgespießt: ihr Schädel sollte als Abschreckung dienen, weil sie ihr neugeborenes Kind getötet hatte.
Pastor Stubben war ihr Mentor, er war es auch, der den Gedanken Hebamme zu werden in ihr verankerte.
Norwegen erlebte eine harte Zeit und Hans, Marta Kristines Freund seit der Schulzeit, ging zum Heer. In ihr gärte Ruhelosigkeit, fort zu etwas Größerem als ihrem jetzigen Leben. Fortgehen kam nicht in Frage, aber Bleiben auch nicht.
Sie erhielt den 1. Brief ihres Lebens, von Hans. Ob sie seiner Jugend Freude und seines Alters Trost werden wolle. Darauf hatte sie gewartet, doch sie war inzwischen schwanger von einem anderen. Hans verstummte, als er ihr sie sah und verschwand abermals zum Heer. Zwischen Norwegen und Schweden kam es zum Krieg, Hans wurde verletzt, aber viele seiner Kameraden fanden einen grausamen bajonettstichigen Tod. Wie alle Kriege: nutz- und sinnlos.
Pastor Stubben half, ihren Traum zu verwirklichen. Er besorgte ihr ein Buch, das für sie ein Tor zu neuen Welten öffnete: zur Geburtswissenschaft und zum Reichtum der Sprache. Und es
kam der 2. Brief ihres Lebens, abermals von Hans: die guten alten Zeiten seien vorbei, jetzt kämen die guten neuen Zeiten. Aber nur mit ihr als seiner Frau.
Sie heirateten. Er ließ sie hochschwanger ziehen zu einer Ausbildung in der Kleinstadt. Sie sah Frauen in ihrer Vielfalt und erkannte, dass die Frauen überall und immer ganz besonderen Belastungen ausgesetzt waren.
Durch ein Stipendium bekam sie die Möglichkeit in Christiania die offizielle Hebammenschule zu besuchen. Dort lernte sie alle Feinheiten ihres Berufs. Im Juni 1822 machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Aus ihr war eine erwachsene Frau geworden. Hans und sie waren beide verändert. Er unterlag extremen Gemütsschwankungen: voller Tatendrang und fröhlich, dann tagelang wie erstarrt.
Er wurde als Korporal entlassen, wollte Fischer werden, kaufte eine Geige, doch es gelang ihm nie, melodische Töne zu spielen. Keine Arbeit gelang ihm wirklich gut. Er ließ die Hofarbeit schleifen, grübelte, war niedergeschlagen, schwermütig, dann wieder überschäumend voller Pläne. Bei wurde Neurasthenie diagnostiziert, eine Erbkrankheit. Ihnen wurde geraten, keine Kinder mehr zu bekommen. Aber sie konnten nicht voneinander lassen: Marta Kristine wurde insgesamt 11 mal schwanger.
Die Zeit verrann: ein Tag nach dem anderen, ein Monat nach dem anderen, ein Jahr nach dem anderen. Hans konnte ihr endlich von seinen Traumata erzählen, die aufgeschlitzten Körper der Nahkämpfe waren seine Schreckensbilder.
Er verstarb plötzlich und Marta Kristine wusste nicht, wie ihr Leben weiter gehen sollte. Sie lebte nur von ihrem Hebammenlohn, aber sie war nicht bereit, sich dem gnadenlosen Schicksal zu beugen.
1877 starb sie, zuvor hatte sie eine Rechnung ihres Lebens aufgemacht, das aus Stärke und Demut bestand. Als ob ihr Leben ein kurzer Sommertag gewesen wäre. Marta Kristen überlebte Hans um 37 Jahre.

Ein wunderbarer biographischer Roman, der uns Leserinnen und Lesern bewusst macht, wie gut wir im Hier und Jetzt leben ohne die harte Arbeit in und mit der Natur. Aber in anderen Gegenden dieser Welt sieht es nach wie vor ähnlich aus wie im 18./19. norwegischen Jahrhundert. Aber es gibt heute mehr starke, bewusste Frauen, die sich zur Wehr setzen, die ihre Rechte einfordern. Die Visionen haben für eine andere Welt, für eine bessere Welt, für eine gemeinsame Welt über Grenzen hinweg.
Irgendwo las ich, Gebären sei der Anfang der Welt. Ja, jedes geborene Kind ist der Anfang einer neuen Welt. Und Marta Kristine hat ihren Teil dazu beigetragen.
Auf dass Frauen UND Männer für die Zukunft Visionen für eine neue bessere gemeinsame Welt haben.

Bewertung vom 12.04.2023
Mai
Shree, Geetanjali

Mai


ausgezeichnet

Der Käfig sucht einen Vogel. Kafka

Der Roman ist eine Familiengeschichte, eine coming of Age-Geschichte der Geschwister Sunaina und Subodh. Es ist eine konfliktbeladene Geschichte, die drei Generationen umfasst und eine psychologische Studie. Eine Studie, speziell der indischen Gesellschaft mit ihren Traditionen und fest gefügten Regeln, die selbst das familiäre Leben,„Das Innen und das Draußen“, als absolute Verhaltensnorm regeln.

Die Hauptperson ist Mai, Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter, deren devotes stilles Wesen die Kinder immer wieder herausfordert. Je älter sie werden, um so mehr haben sie den Drang, ihre Mutter zu befreien. Aus dem Gefängnis der untertänigen Schwiegertochter, der dem Ehemann gefälligen Ehefrau. Aus dem Gefängnis der Parda: einer räumlichen Abschottung der Frauen, verbunden mit Verschleierung. Das bringen wir europäischen Durchschnittsmenschen nur mit dem Islam in Verbindung und echauffieren uns darüber.


Sunaina berichtet in Ich-Form von ihrem Kampf für die Freiheit der Mutter und auch für ihre eigene und die ihres Bruders.
Sie wollen ihre Mutter befreien, beschützen, sie retten, aber immer wieder schwingt etwas Unergründliches auf in Mai. Trotz ihrer gebeugten Haltung, ihres gesenkten Kopfes mit zur Erde gewandtem Blick, ihres Schweigens und Nicht-Aufbegehrens bewahrt sie eine hoheitsvolle Würde und Kraft. Will sie überhaupt befreit werden? Ist der Goldene Käfig für sie eine Art Refugium?
Die Geschwister gehen immer nur von ihren eigenen Ansichten, Erfahrungen, Bedürfnissen aus und übertragen sie auf ihre Mutter, sie sind egozentrisch, denn nie fragen sie sich, was für ein Leben ihre Mutter vor der Heirat geführt hat.

Die von Shree gezeichneten Charaktere erscheinen mir in ihren Verhaltensweisen fremd, zu einem anderen Kosmos gehörend. Obwohl es ähnliche Konstellationen, nur in etwas anderer Verpackung, natürlich auch bei uns gab und sicher auch noch gibt. Gerade in „höheren“ Kreisen, in denen Abstammung, Familienehre und Traditionen noch eine gewichtige Rolle spielen.

Da ist die selbstgefällige herrschsüchtige Großmutter, die elf Kinder gebar, von denen nur ein Sohn und eine Tochter überlebten. Der Sohn wird wie ein Prinzgemahl vergöttert
Da ist der jähzornige, despotische und feudalistische Großvater. Da ist der Vater, der wie der Großvater, vage angedeutet, eine außereheliche Liaison hat. Der nicht sehr gesprächig ist, sich zurückhält, wenn die Großmutter gegen Mai stichelt. Er wird Schüler eines Baba und zieht sich in sich selbst zurück. Alle Weisheit hat für ihn ihren Ursprung im Hinduismus.
Großeltern wie Eltern leben im gleichen Haus, aber in getrennten Räumen – getrennte Leben.
Mai lebt mit den Kindern in einem Zimmer, nur nachts begibt sie sich zu ihrem Ehemann. Ab und zu nimmt er sie mit in die Außenwelt.

Sunaina und Subodh - ein fast symbiotisches Wir. Dieses Wir wollte die Mutter aus den Handschellen lösen, das Netz der Gefangenschaft entwirren und dieses Wir glaubte fest daran, dass Mais Leben erst mit ihnen begonnen hatte. Sie waren arrogant und hielten sich für bedeutsam und ihre jugendliche Energie für einzigartig. Sie sahen immer nur den Schatten und hörten nur die Stille. Aber Schatten und Stille habe ihre eigenen Gesetze und Ursprünge.
Das Wir löste sich auf und sie gingen eigene Wege – Subodh nach England, Sunaina malte und zog wieder nach Hause, nachdem der Vater erkrankt war. Das Haus, dem sie immer entfliehen wollte, wurde zu einer Mixtur aus Sicherheit und Wohlbehagen und war doch gleichzeitig erstickend
Als Mai so still starb, wie sie gelebt hatte, entdeckten die Geschwister, dass sie den Wesenskern ihrer Mutter nie erfasst hatten. Sie hatte ihre eigene Würde und Lebensfülle, ihr eigenes Ich. Sie hatten sie zu einem Nichts reduziert, weil sie nur die individuelle Selbstverwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen als hehres Ziel gesehen hatten.

Erst zum Schluss erkennt Sunaina, dass es immer zwei Wahrheiten gibt. Die Medaille und ihre Kehrseite. Auch ihre Ängste wie ihre Mutter zu werden. „Ich schaue in den Spiegel und sehe meine Mutter. (Nancy Friday)


Ein Roman, der über die Beurteilung von anderen Menschen nachdenken lässt, der intensiv und subtil viele psychologische Facetten anspricht, indem er lebendig den obsessiven Kampf der Kinder für die Freiheit und die sie enttäuschende Verweigerung der Mutter, diese Freiheit anzunehmen, schildert. Ihre Freiheiten sind nicht kompatibel.

Der Roman entführt uns in das indische Alltagsleben einer feudalistischen Gesellschaft und in die Vielfalt der indische Küche. Animiert zum Restaurantbesuch oder zum selber ausprobieren.
Aber vor allem zum Nachforschen über die traditionelle und moderne Rollen der Frauen im heutigen Indien, dem Subkontinent mit fast 1,5 Milliarden Menschen, mit einer komplexen Geschichte, einem rasanten wirtschaftlichen Wachstum und einer wichtigen Rolle im weltpolitischen Machtpoker.

Bewertung vom 22.03.2023
Nomade
Juretzka, Jörg

Nomade


sehr gut

Die Wüste er-fahren. Ohne Fata Morganas.

Ich lese selten Kriminalromane, bei diesem haben mich Titel und Innenleben gereizt.

Für mich ist der vorliegende Roman weniger ein Kriminalroman als eine eine „on the Road“-Story, garniert mit kriminellen Einsprengseln.

Der Stil ist handfest, „handwerklich“. Ohne Hochgeistiges oder tiefenpsychologische Exzesse. Die schnoddrig-rotzigen Sprachfetzen gefallen mir nicht, sollen sie witzig sein, modern?

Es gibt drei nicht-humane Protagonisten, die ausführlich beschrieben werden.
Der Truck mit seinen Malaisen – eine kurze Automechaniker-Einführung, so dass man glaubt, selbst dünenauf dünenab alles im Griff zu haben
Die Wüste als immer vorhandene Kulisse in allen Farb-Schattierungen mit all ihren Schönheiten und Unwägbarkeiten wie Sandstürmen, Wasserfluten, Dünen und Ergs
Und Bella, die wachsame, eigensinnige, treue Hündin, die Mensch-Gefährtin in allen Lebenslagen.

Die anderen Protagonisten sind:
Jamilah, eine verwöhnte instagrammierte somalische Göre mit einem frisch entbundenen Säugling, einzige Überlebende eines Flüchtlingstrucks. Sie sorgt für mörderische ehrenrührige Verwicklungen.
Oumou, die in Tamanrasset auftaucht, auch sie Mutter eines Säuglings, Lehrerin aus Mali, Christin, vom Volk der Dogon.
Roots, ein jamaikanisch-äthiopischer Rasta-Zwerg mit seinem Skateboard,
Mombassa, ein behäbiger Kongolese mit der Undurchsichtigkeit eines Söldner-Maklers.
Abdel Medelci, der Zollchef Südalgeriens.
Ein älterer Afghane, unberechenbarer Räuberhäuptling mit seinen schieß- und mordlustigen, dumpfbackigen Jungs.
Gigi, der Cabriofahrer, ein Mann schwarz wie die Nacht, eine Art Vermittler zwischen Zuhältern und ihren „Pferdchen“
Und last not least die Touristen: regenbogenbunte, tätowierte Neo-Hippies mit ihren Knöpfen im Ohr und ihren Smartphone-Selfies. Und die Trautes-Heim-auf-Reisen-Mobiler.


Hauptdarsteller ist Kristof Kryszinski, ein Ex-Kriminalist, der sich in der Wüste von seinem gestressten Leben, von den Menschen, von Europa erholen will. Ein Selbstfindungs-Trip mit vielen Momenten der Entspannung, Tee oder Wodka trinkend, Opium rauschend….Aber auch ein Trip mit der Mission, vermisste oder verunglückte Personen aufzuspüren. Was ihm oft gelingt, oft aber misslingt. Warum tat er das? Weil nur Wüste ohne Kick und ohne detektivischen Spürsinn – wer waren die Opfer, wer waren die Täter? Woher? Warum? – dann doch zu eingleisig, zu einfarbig wurde.

Auf der Suche nach einem Ehepaar, das auf archäologischer Spurensuche unterwegs war, entdeckte er zwei tote Briten. Früher half man sich in der Wüste, wenn man verletzt oder ohne Wasser war, heute ist nahende Hilfe oft ein Todesurteil. Bewaffnete Banden treiben ihr räuberisches Unwesen, denn die westlichen Unterwegsler sind meist gut ausgestattet mit höchstpreisigen Dingen, sie selbst ein fettes Lösegeld wert.
Bei den Briten entdeckte er, gut versteckt, eine Portion Opium, zu wenig für professionellen Handel, zu viel für den Eigenbedarf. Wahrscheinlich wollten sie, unbedarft und naiv, das lauschige Gift irgendwo verticken, um ihre Reise zu finanzieren.
Und dann die Internet-Pseudo-Promis, Michel und Mikkel: „ein perfektes Paar, das in perfekter Umgebung bei perfektem Wetter sein perfektes Dasein öffentlich machte. Die hier in der Wüste ihre 3. Hochzeit perfekt inszenieren wollten.


In dem leicht lesbaren Roman ist neben der Schilderung der wüsten Fahrten, der handelnden und nicht handelnden Personen auch einiges an Kritik versteckt. Die 2 Klassen-Gesellschaft: westliche Vermisste werden oft durch politischen Druck sogar mit Hubschraubern gesucht, all die versandeten Afrikaner auf dem Weg ins Gelobte Land waren nicht einmal einen Gedanken wert.
So waren auch sie eine wunderbare Einnahmequelle für die Schlepper und Schleuser, denn die kassierten im voraus und hatten ihr Geld schon sicher im Safe, egal, was dann möglicherweise unterwegs passieren mochte. Niemand schrieb Schlagzeilen, es gab keine internationalen Demonstrationen für diese hilflosen Opfer. Und selbst wenn sie es irgendwohin schafften – nun ja, als aufgeklärte Leser wissen wir, wie ihre Geschichten enden.
Für die ansässigen Bewohner sind die westlichen Wüstenfahrer ein Volk von Verrückten. Sich freiwillig der gnadenlosen Wüstennatur auszuliefern, in einer „Blechschachtel“ vor sich hin zu leben, wo die doch zu Hause alles haben: fließendes Wasser, einen Arzt und einen Supermarkt in der Nähe und sogar Geld vom Staat.

All diese Irrungen und Verwirrungen sind plastisch und lebensecht beschrieben. Und es gibt sogar ein offenes Happy-End. Eine Lektüre, die ich durchaus avec plaisir gelesen habe.
Dieses Vergnügen sollten Sie sich auch gönnen, besonders wenn Sie wüstenaffin sind. Und vielleicht danach die Wüste nicht nur mitfahrend, sondern mitgehend erlebend. Wie Otl Aicher.
"Die Wüste ist eine Denklandschaft. Man geht nicht nur zwischen Dünen umher, man macht Gedankengänge. Es verändern sich die Gedankenhorizonte."

Bewertung vom 07.03.2023
Seebeben
Pereira de Almeida, Djaimilia

Seebeben


ausgezeichnet

Vom Leben und Sterben.
Der Autorin Djaimilia Pereira de Almeida ist wieder ein kleines Meisterwerk gelungen. Ein Meisterwerk der Sprache und der Empathie mit einem „Fremdling“. Wechselnd in der Ich-Form und der 3. Person das Leben des schwarzen alten Mannes Boa Morte da Silva aus Angola wie einen Fächer vor uns ausbreitend, einen Spannungsbogen schaffend.


Boa Morte mäandert in Selbstreflexionen und Briefen an seine Tochter Aurora durch sein Leben. Das Leben eines Vergessenen, eines Heimatlosen, der sich in den Straßen Lissabons, im Viertel Chiado seinen Lebensunterhalt als Parkplatzwächter verdient. Es ist die Geschichte eines Mannes,der sich der kolonialen portugiesischen Armee verpflichtete. In der Hoffnung, ein anerkannter Portugiese zu werden. Er hat getötet: die eigenen Blutsbrüder und Landsleute, wahllos. Ein Kamerad starb in seinen Armen.“Ich habe ihn sterben lassen, um mich selbst zu retten.“ Alles im Namen des „Vaterlandes“. Seine Frau, mit dem Baby auf dem Rücken, hat ihn verlassen. Sie hatte ihn gewarnt: „Du wirst nie Portugiese sein, die Weißen haben dich benutzt, wie sie uns alle benutzt haben.“ Er hätte sie getötet, wenn nicht ein Nachbar dazwischen gegangen wäre. Er sah sie nie wieder.
1979 seine „Heimkehr“ in das nie gesehene „Vaterland".

Sein vergangenes und sein jetziges Leben spulen sich wie ein Film durch seine Gedanken.
Nun schreibt er das Drehbuch seines Lebens. Er fühlt sich von der Stadt geschwängert, wenn er mit vorgewölbtem Nabelbruch-Bauch durch die Straßen Lissabons streift: Chiado. Rua Nova do Almada, Rua do Loreto.Rua do Alecrim, Largo de Camões und immer wieder António Maria Cardoso. Buchläden, Restaurants, Bäckereien, Menschen im Laufschritt. Keiner beachtet ihn. Aber er registriert offenen Auges seine Stadt, die Veränderungen, die Menschen und ihre Gleichgültigkeit. Ein Fremder, in einem fremden Land, in einem fremden Leben und doch gibt es Lebewesen, die ihm nah sind, denen er nah ist.
Fatinha, ein Mädchen, schwarz wie er, aus Sáo Tomé und Príncipe, das an einer Straßenbahnhaltestelle der Linie 28 lebt. Sie ist erst 20, hat Diabetes, redet wirres Zeug, ist ungekämmt und riecht ungewaschen, ist dick von Wein und Bier. Sie nennt ihn ihren Prinzen und die Haltestelle ihren Palast, in den sie manchmal imaginierte Gäste einlädt.
Vando, ein junger Drogensüchtiger, für den er wie ein Vater ist, der sich mit Boa Morte einen Gemüsegarten außerhalb der Stadt aufbaut. Freude am Sprießen und Gedeihen der Pflanzen, Gott vollbringt in der Dunkelheit des Beetes seine Wunder. Hoffnung auf ein bisschen Extrageld durch Verkauf auf dem Markt.
Dona Idalina, die ihm ein Zimmer überlässt und das Gartenstück, sie hat vier Hühner besorgt. Sie feiern, mit Gitarrenmusik und Tanz, sie haben frische Eier.
Senhor Prestes, der sich um die Gestrandeten, aus dem Gesundheitswesen Gefallenen kümmert.
Und dann - ja, dann ist da Jardel, Jardel da Silva. Der wie ein Wunder an seiner Seite auftaucht und sein treuester Gefährte wird. Eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Hund. Durch ihn fühlt er sich lebendig. Jardel ist sein Lebensretter.
Und dann seine Tochter Aurora: nah und fern zugleich. „Wenn ich Dir schreibe, lebst Du, bin ich lebendig“. Er wäre gern mit ihr Seite an Seite gegangen.

Boa Morte sieht sich selbst als Mann ohne Gepäck, dessen Heimat der Chiado ist. „Niemand sieht uns, die Gestrandeten, niemand will uns sehen, aber wir sehen einander.“ Seine Briefe an die Tochter, von der er nicht einmal die Adresse weiß, sind ein Stück Lebensgeständnis über das Hier und Jetzt, über das Vergangene, sind durchtränkt mit Saudade, des lusitanischen Weltschmerzes, der Wehmut und auch der Sehnsucht.



Boa Morte ist ein stiller Beobachter: die Farben der Mäntel, der Autos und der Markisen. Das Gelb der Sonnenschirme, goldenes Nachmittagslicht auf Marmorfassaden, leuchtendes Lila einer Plastiktüte. Er nimmt die Geräusche der Großstadt in sich auf: das Kreischen der Möwen, das Läuten der Kirchenglocken, das Gebimmel der Straßenbahnen, das metallische Geräusch von Kaffeelöffeln aus einem Café, ein Schlaflied aus einem Fenster.

Wir werden Zeugen seines Abschiednehmens. Er möchte nur ein Symbol auf seinem Grabstein: seine Schritte als Fußabdruck, die seine Wanderungen versinnbildlichen. Seine Wanderungen durch das Leben, durch den Chiado. Er übergibt Fatinha seine Briefe an die Tochter, aber der Wind wehte sie fort. Er geht in die Metro und verschwindet in der Menge.

„Wenn ein Mensch stirbt, stirbt eine Bibliothek.“ Boa Morte (der gute Tod) sah sich selbst als zerrissene, als geplünderte Bibliothek.

Ein kleiner Roman, der die Menschen sensibel und mitfühlend portraitiert, poetisch und prosaisch zugleich, der voller Schmerz und Reue ist und doch von Hoffnungsschimmern, von menschlicher Würde durchwoben ist.

Ein zartes behutsames Werk, das zart und behutsam gelesen werden muss.
Man möchte den nächsten „Nachtzug nach Lissabon“ nehmen, um auf den Wegen des Chiado den Schritten Boa Morte da Silvas zu folgen.

Bewertung vom 25.02.2023
Männer in der Sonne
Kanafani, Ghassan

Männer in der Sonne


ausgezeichnet

Die Pforten des Paradieses oder die Pforten der Hölle?

Ghassan Kanafani: Symbol des palästinensischen linksextremistischen Widerstands, umstrittener Volksheld. Mit 13 Jahren wurde er zum Flüchtling, wurde Journalist und Schriftsteller, Für ihn waren Literatur und Politik symbiotisch verbunden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung universelle Werte, die Geschichte seines Volkes wurde zum Lackmustest. 1972, mit 36 Jahren, wurde er durch eine Mossad’sche Autobombe getötet…

„Männer in der Sonne“, in kurzen klaren Sätzen, ohne emotionalisierende Ausschmückungen, schildert ein menschliches Drama mit unmenschlichem Ende: das Schicksal von 4 palästinen-sischen Männern. Abul-Chaisurân bietet sich als Transporteur für 3 Männer an, die vom Irak nach Kuweit wollen: um Arbeit zu finden, um ihre Familien zu unterstützen und menschenwürdig leben zu können, um der Trost- und Hoffnungslosigkeit zu entfliehen.

Abu Thais, ein alter Mann, der jahrelang vom fruchtigen Segen seiner alten Olivenbäume träumte. Der nun am Schatt al Arab im Sand lag und erfuhr, dass es in Kuweit keine Olivenbäume gab.

Assaad aus Ramla war über Jordanien gekommen. Er war misstrauisch. Sein Onkel hatte ihm 50 Dinar geliehen, er sollte seine Tochter heiraten. Nur weil sie am gleichen Tag geboren wurde wie er. Aber niemand hatte ihn gefragt, ob er überhaupt heiraten, ob er Nada heiraten wolle. Er fühlte sich wie eine Ware.

Der erst 16 Jahre alte Marwân war zum ersten Mal allein, fremd unter vielen Menschen. Sein Vater hatte seine Familie verlassen, nachdem sein ältester Bruder kein Geld mehr aus Kuweit schickte und keiner wusste, was mit ihm geschehen war. Der Vater konnte seinen Traum verwirklichen, das Lager zu verlassen, indem er die Tochter eines Freundes heiratete, die bei einem Angriff auf Jaffa ein Bein verloren hatte.

Die 3 Männer forderten von Abul-Chaisurân einen genauen Plan, würden ihn erst bezahlen, wenn sie in Kuweit wären.
Er war Fahrer eines reichen Mannes, den er auf Jagdausflügen begleitete. Mit dem leeren Wassertankwagen eines Jagdausflugs wollte er sich ein bisschen Geld dazu verdienen. Er brauchte es, weil er sich zur Ruhe setzen wollte, um seinen Dämonen zu entkommen. Er war während eines Kampfeinsatzes gefangen und gefoltert worden: man hatte ihn seiner Männlichkeit beraubt. So hatte er seine Männlichkeit und sein Vaterland verloren.

„Wir müssen 2 Kontrollpunkte passieren. Bei beiden dauert es nur 5 Minuten, die ihr im Tankwagen verbringen müsst.“ Abu Khais und Assaad waren misstrauisch. Aber die 3 entschieden sich für die Fahrt.

Kurz vor dem1. Kontrollpunkt ließ er die Männer in den Tank hinabsteigen. „Zieht eure Hemden aus, es ist wie in einem Glutofen, aber nur für 5 Minuten.“ Er schloss den Deckel. Die Abfertigung dauerte tatsächlich nur 6 Minuten – die Männer glichen jedoch Mumien und nicht lebendigen Menschen, als sie hinaus kletterten.

Sie stoppten und rauchten, weit entfernt mit ihren Gedanken, in der Gegenwart und in der Zukunft; Träume, Wünsche, Hoffnungen vermischten sich mit Angst und Verzweiflung.
Am letzten Kontrollpunkt: „Es ist jetzt genau halb 12, merkt euch das. Nicht länger als 7 Minuten!Die Übergabe der Papiere dauerte: er musste die Neugier der Grenzen befriedigen, ein Glas Tee trinken. Erst 9 Minuten vor 12 konnte er den Deckel des Tankwagens öffnen.
Totenstille. Nichts und niemand rührte sich. Er war zu spät.

Um ihre Körper nicht den wilden Tiere und ihre ausgebleichten Skelette dem Sand zu überlassen. lud er sie an der städtischen Müllhalde ab, die Leichen waren kalt und steif, wo sie am nächsten Morgen gleich gefunden werden würden. Er fuhr weiter, stoppte, sprang aus dem Wagen, lief zurück und nahm das Geld aus den Taschen und Marwâns Uhr. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ (Brecht).
Doch Abul-Chaisurân fand keinen Frieden, denn ein folternder Gedanke hämmerte in seinem Kopf, immer und immer wieder: warum haben sie nicht an die Tankwand geklopft? Warum warum warum?

Mit dieser offenen Frage schließt Kanafani sein Drama des Ausgeliefertseins an Menschen, an die Politik, an das Schicksal. مكتوب – Maktub: es steht geschrieben. Für Muslime gibt es kein blindes Schicksal, sondern ein von Gott zugeteiltes.

Abul-Chaisurân verglich den Weg von 150 km mit dem schmalen Pfad, der nach muslimischer Überlieferung ins Paradies oder in die Hölle führt.
Wo ist das Paradies? Wo ist die Hölle? Auf Erden? War Kuwait das Paradies? Ohne Oliven-bäume? Mit Geld in den Taschen, um die Mutter zu unterstützen? Um sich zur Ruhe zu setzen?

Die Schilderung der „Drei Männer in der Sonne“ sind aktueller denn je: Menschen, die ihre Träume verwirklichen wollen, sich nach einem besseren Leben, einem Leben in Würde sehnen. Die als Wirtschaftsflüchtlinge in Europa keine Chance hätten. Obwohl ihre Situation erst durch Krieg, Vertreibung und Besatzung wirkmächtig wurde.
Der Roman ist eine Anklage gegen den Krieg und seine langfristigen Folgeerscheinungen, er ist ein Requiem für die „ausgelagerten“ Menschen.

Bewertung vom 08.02.2023
Der letzte Syrer
Souleimane, Omar Youssef

Der letzte Syrer


sehr gut

Die Früchte des Zorns der Ahnungslosen

In 70 Miniaturen, die prägnant die einzelnen Protagonisten und ihre Gemütszustände, ihre Ängste, ihre Zweifel, aber auch ihre Zuversicht aufzeigen, versucht Omar Youssef Souleimane in seinem Romandebüt einigen Menschen des syrischen Arabischen Frühlings im Jahre 2011 ein Gesicht zu geben. Sie bestehen aus einem Beziehungsgeflecht von Youssef, Mohammad und Sarah, Joséphine und Chalil, Bilal, Raschid, Adel und Said, sie sind alle jung und sagen dem bestehenden Regime, das seit dem Militärputsch 1963 durch Bashar Assads Vater, existiert, den Kampf an. Mit Engagement und Phantasie, gewaltfrei, nicht bedenkend, dass ein diktatorischer Staat so nicht zu besiegen ist. Nicht ahnend, dass daraus ein internationaler Konflikt erwächst, ein Stellvertreterkrieg mit roten Linien und islamistischen Gruppierungen.
Nach Jahren des Schweigens und Unterdrückung der Schrei nach Freiheit. Dieser Schrei kommt wie aus einer Echokammer und pflanzt sich fort von Tunesien über Libyien, Ägypten und dem Yemen bis nach Syrien.


Ein spontaner Aufstand junger Leute, von denen keiner weiß, wie man die Gewalt bekämpft, von denen keiner die Bedingungen und Möglichkeiten einer revolutionären Bewegung kennt. Alles, was sie wissen, ist, dass sie der Barbarei die Stirn bieten wollen.“ (Miguel Otero Silva).


Gekonnt baut der Autor in die Portraits der jungen Menschen die politische und gesellschaftliche Situation ein: die verschiedenen Ethnien und religiösen Strömungen des Landes, die Geschichte Syriens, das immer von außen überflutet wurde von den Heerscharen der Kalifen, der Mongolen und der Osmanen. Nicht zu vergessen die geopolitischen westlichen Interessen (Sykes-Picott-Abkommen) und ihre Folgen.
Und er lässt der Hoffnung Raum mit wunderbar poetischen Passagen.
Raschid: Ich habe die Erde verletzt, man muss sanft auf sie treten. Sie ist unsere Mutter und wir sind ihre verlorenen Kinder. Mohammad: Ich habe meine Sachen gepackt, die Bücher im Garten vergraben: der Bücherbaum. Das Wort ist mächtiger als das Schwert.

Auch die Sexualität verfängt sich im Netzwerk der Freiheit. In diesem Falle die der Homosexualität. In einer alternierenden Mailkorrespondenz zwischen Mohammad und Youssef gewinnt die Unterdrückung des eigenen Begehrens, die Fernsteuerung durch festgefügte Traditionen sehr deutlich Gestalt. Es scheint mir jedoch, als ob diese Unterdrückung speziell dem Islam zugeordnet wird und weniger den allgemeinen patriarchalischen Strukturen (auch im orthodoxen Judentum ist Homosexualität ein widernatürlicher Akt). Und dass ein frei gelebtes homosexuelles Leben als westliche Freiheit übergewichtig gewertet wird. Westliche Beispiele: In der Bundesrepublik Deutschland war Homosexualität erst seit 1969 straffrei und in vielen Bundesstaaten der USA sogar erst 2003.
Sexualität und Religion waren immer auch Macht- und Unterdrückungsinstrumente der herrschenden Klassen. Das hat sich bis heute nicht geändert, wenn auch die Mechanismen camoufliert sind.

Die Folterszenen mögen für manche Leser und Leserinnen schwer erträglich sein, zeigen aber doch nur die Realität nicht nur in syrischen Folterkammern.

Im großen und ganzen ist der kleine Roman ein Spiegelbild jeglicher Insurrektion, der es mitunter gelingt zu einer wahrhaften Revolution zu werden. Hier bleibt es bei einer Rebellion, der die jungen Menschen nicht gewachsen sind. Es bleibt das Opfer oder das Exil. Und der Funke Hoffnung für das syrische Volk, dass sich irgendwann irgendwie alle Parteien zur Versöhnung, zur Aussöhnung, zum Frieden entschließen. Das ist wohl das Schwierigste: Kompromisse finden, um Frieden schließen. Damals und heute.

Unbedingt lesenswert für Leserinnen und Leser, die die Verknüpfungen von Persönlichem und Politischem schätzen. Die den Nahen Osten und besonders Syrien besser verstehen wollen.

Bewertung vom 13.01.2023
Ausflug nach Spanien
Capek, Karel

Ausflug nach Spanien


ausgezeichnet

Spain is different. Damals. Heute auch noch?
Der tschechische Autor Karel Ćapek war ein Mahner und Kritiker.
1929 reist er mit dem Zug nach Spanien. Im schnellsten Zug mit 98km/Std.. Der schnellste Zug heute ist der TGV mit 320 km/Std. Diese Differenz des schnell/schneller/am schnellsten zeigt den Wandel der Zeit.
Das kleine Buch ist eine Art Charakterdarstellung des Landes, seiner Menschen und seiner Kultur mit satirischen und humorvollen Spitzen. Federleichte, fast rhythmische Illustrationen des Autors geben den kurzen Kapiteln zusätzliche Würze.
Es wirkt wie eine Stimulans, das Land mit seinem Blick kennenzulernen und mit den möglichen eigenen Erfahrungen zu vergleichen, die sicher durch Zeit und Raum anders ausfallen.
Schon beim Grenzübergang merkt er: Spain is different. Dieser Slogan aus den 60ern hat heute nur noch bedingt Gültigkeit. Viele Traditionen und Charakteristika der Kultur konnten sich aber der globalen Uniformität standhaft widersetzen.
Damals: Die iberische Halbinsel: ein Kontinent für sich, durch die Pyrenäen abgeschirmt. Nicht mehr Europa, strenger, älter, fast afrikanisch und wüstenhaft. Aber immer wieder Täler und Gärten wie Oasen in die Öde gesprenkelt. Die Gärten der maurischen Paläste – ein Vegetationsdschungel, aufgeheitert durch Fayencen, Brunnen und Fontänen. Künstliche Paradiese, ein Traum der Wüstennomaden. Selbst die farbenfrohen „Kleingärten“ an den Balkonen und in den Patios spiegeln die Sehnsucht nach Farben und Grün wider.
Neben einzelnen Städten wie Toledo und Sevilla widmet der Autor sich den Mantillas, dem Zigeunerviertel Triana, der Corrida, dem Flamenco, den Castañuelas, der Bodega und spanischen Repräsentanten von Leinwand und Farben: Velázquez, El Greco, Goya. immer wieder wird die verfeinerte, subtile Kultur der Mauren, die der Iberischen Halbinsel immerhin von 711-1492 ihren Stempel aufprägten, erwähnt.
Ein ganzes Kapitel widmet Ćapek der Mantilla, dem schwarzen Spitzentuch der Spanierin. Ist es ein Kloster-, Harems- oder Brautschleier? Er bewundert das Selbstbewusstsein und den Nationalstolz der Spanierinnen, die sich nicht der Weltmode unterwerfen. Die Frau wird übrigens wie ein Schatz gehütet, jedes männliche Familienmitglied wacht über die jungfräuliche Ehre. Das ist aber wohl nicht nur maurisches Erbe, sondern auch Relikt des Mittelalters.
Flamenco und Castañuelas tanzen und klappern sich durch die Texte. Rhythmisch, stolz, orientalisch. Ein geheimnisvolles Miteinander der Gitarrensaiten, Kastag-netten, Tamburine, der hämmernden Absätze. Der Canto klingt wie ein Ruf des Muezzins, fast monoton, von leidenschaftlicher Qual einer unglücklichen Liebe, Eifersucht und Rache.
Natürlich muss bei einem Text über Spanien die Corrida erwähnt werden. Ćapek empfand ein Gemisch aus großartigen Momenten, Entsetzen, Bewunderung und Scham. Die Angst des Tieres im Kampf zu sehen empfindet er als erniedrigend. Der Kampf zwischen Mensch und Tier aber ist uralt, zum Kult wurde er auf Kreta, in Rom und später dann in Andalusien in Regeln gegossen und verfeinert. Ursprünglich vielleicht ein Kampf des Lichts gegen die Finsternis: die glitzernden Anzüge der Toreros heißen „Traje de luz“, Anzug des Lichts.
Die Bodegas des Landes sind für ihn ein Ort der Bildung für Reisende, die eine geschmacksneugierige Zunge haben, um all die unterschiedlichen Weine, Würste, Käse zu gustieren.
Auf dem Rückweg passiert der Autor Barcelona, bemerkt die Unterschiede zwischen Nord und Süd, hier lebt man vor der Haustür auf den Gehsteigen, hier ist der Patio nicht mehr Mittelpunkt des Lebens. In den Arbeitersiedlungen schwelt etwas unterschwellig Anarchistisches: es sind Menschen, die keine Spanier sein wollen, mit ihrer eigenen Sprache. Ebenso wie die Basken, die als Ureinwohner des Mittelmeerraumes gelten mit einer komplizierten Sprache, deren Herkunft bis heute unbekannt ist. Vielleicht sind es die verschwundenen Bewohner von Atlantis?
Und so schließt Karel Ćapek den spanische Reisebogen mit dem Ausdruck der Dankbarkeit und Freude, dass er die Fülle eines fremden Landes erleben durfte. Jeder Unterschied der Menschen, der Landschaften, der Kultur und der Dinge macht das Leben mannigfaltiger. Es sei die ganze Welt mit seinen 1001 Gesichtern zu lieben.
Es ist ein Vergnügen, diese Texte zu lesen, besonders wenn man vergleichen kann: das Damals und das Hier und Jetzt. Sie geben Einblicke in eine andere Zeit und sind doch nicht aus der Zeit gefallen. Sie demonstrieren bravourös die wahrneh-menden Augenblicke des Reisenden und seine Gefühle angesichts der weiten, fremden Welt, die zugleich so nah ist.
Für Spanien-Liebhaber oder die, die es noch werden wollen, ein Lektüre-Muss!!!!
Dem Verlag sei dank, dass er die hier erwähnten Zigeuner nicht modegerecht in Sinti und Roma verwandelt hat. Das wäre in diesem Falle irgendwie unangemessen.

Bewertung vom 19.11.2022
Das Lächeln des Diktators
Ali, Bachtyar

Das Lächeln des Diktators


ausgezeichnet

Bücher sind eine stehende Armee der Freiheit. (Jean Paul).
Diese Essays sind eine Reise durch ein persönliche Universum. Als Seismograph enthüllt er nicht nur ein Thema, sondern er wickelt es aus, entfaltet es (Willemsen). Er leuchtet die Persönlichkeit Saddam Husseins, eines Diktators par excellence, aus. „ L’etat c’est moi“ passt wie maßgeschneidert auf ihn und seine Herrschaft. Das Lachen bei seiner Hinrichtung war eine seiner Inszenierungen: Das Lächeln des Mächtigen. Das Lächeln des Ge-Mächtigen. Die 43 lächelnden Gesichtsmuskeln mit makellosen Zähnen sind eine moderne Währung. Er wäre ein perfekter Instagramer geworden.

Ali beschreibt die Moderne als technische Erobererin. Für den Orient war Technik etwas Wesensfremdes. Es gab keinen Gegenentwurf, man blieb im Status quo. Schon Al Afghani fragte, warum der Orient so rückschrittlich sei und Dan Diner erkannte die "Versiegelte Zeit". Homo faber und Homo consumens waren westliche Götter, sie läuteten die Veränderung der Gesellschaft ein, aber im Orient ruhte man sich auf den hochzeitlichen Diwanen der arabischen Kultur aus. Es kam nur zu Machtverschiebungen. Der Staat wurde zum Schrittmacher, die Gesellschaft jedoch trabte noch im alten Rhythmus.

Abermals zeigt sich der Zerfall des Osmanischen Reiches als Zäsur. Die Säkularisierung war schwach. Die Assassinen kehrten in modernem Gewand als die Bewaffneten Gottes zurück. Alles war Gottes Wille. Der Mensch blieb passiv, Gottes Abbild materialisierte sich in Diktatoren. Früher hatte man ein eine persönliche Beziehung zum Allmächtigen. Die moderne Büchse der Pandora ließ die Städte wuchern, die Bauern hatten durch Landflucht ihren natürlichen Rhythmus verloren. Dieser Bruch zwischen Mensch und Natur, die innere Leere war die Triebkraft des politischen Islams.

Ali beschreibt eine spiegellose Gesellschaft. Wer sich nicht selbst betrachten kann, hat kein wahres Bild von sich. Said verschweigt im „Orientalismus“ die selbst geschaffenen Trugbilder und die Unfähigkeit zur Selbstreflexion. Ein Spiegel zeigt das wahre Gesicht. Er ist kein Fernglas für die Weite, sondern ein Brennglas für die eigene Nähe.

Der orientalischen Literatur sind Krieg und Gewalt nicht fremd, das individuelle Morden ist ein unbekanntes Element. Töten ist ein Mittel der Macht, des Kollektivs, kein Einzelwerk. Kriege, Attentate, Hinrichtungen sind alltäglich. Schaustellung von Macht und Männlichkeit. Der Verlust der Macht bedeutet phalluslos zu sein. Die Angst vor Kastration und die männlichen Körperpanzer ergänzen sich. Im Orient ist Krieg ein Männlichkeitscode.

Bachtyar Alis Sprache, das Sorani, war verboten. Sprache macht uns zu einem sozialen Geschöpf, gibt uns Heimat. Sie ist unsere persönliche Schatztruhe, sie birgt unsere Träume, Wünsche und Ängste. Für Heidegger ist Sprache das „Haus des Seins“. Später gelernte Sprachen sind nur erweiterte Horizonte.

Im letzten Essay evoziert Ali sein Elternhaus, in dem es verbotene Bücher gab.
E gehorchte dem Befehl seiner Großmutter und verbrannte sie.
Später floh er nach Teheran: dort zog er von Buchhandlung zu Buchhandlung, las ein Kapitel hier, ein Kapitel dort. Er schmuggelte Bücher moderner Klassiker. Rührend seine Ansprache an das Bücher-Muli: „ ich vertraue dir mein Leben und das Überleben dieser Bücher an. Die einen wichtigen Teil der menschlichen Zivilisation beherbergen. Weil ich glaube, dass du diese Aufgabe besser erfüllen kannst als die Menschen.“
Die autoritären Staaten fürchten den Leser. Am Flughafen in Frankfurt fragte man ihn, warum er gekommen sei. „Um in Ruhe lesen zu können.“

Bachtyar Alis Essays sind zeitgeschichtliche Preziosen, verbunden mit politischen und gesellschaftlichen Betrachtungen, verflochten mit seinen ganz persönlichen Erfahrungen. Er hat ein tiefes Verständnis für Literatur, für das Lesen und Schreiben, fühlt sich dabei umhüllt von seiner ersten Sprache. Er öffnet uns neue Horizonte aus dem Dickicht des Hausgemachten, bringt Vielfalt statt Einfalt. Das ist in der Welt des literarischen und journalistischen Einheitsbreis ein großes Verdienst. DANKE.

Bewertung vom 31.10.2022
anderswo, daheim
Aboulela, Leila

anderswo, daheim


ausgezeichnet

Hier und Dort. Dort und Hier.

Leila Aboulela entführt uns mit ihren dreizehn Kurzgeschichten in eine Welt der Schwebe. Die meist weiblichen Protagonisten versuchen wie auf einem Schwebebalken die Balance zu halten. Zwischen Hier und Dort und Dort und Hier. Zwischen Jetzt und Damals.
Aboulela hat ein feines Gespür für zerrissene Fäden, für ein fadenloses Leben, ein Leben auf der Suche nach dem Roten Faden, der das Dort mit dem Hier und das Damals mit dem Jetzt verbindet.
Warum verlässt man sein Mutterland, sein Vaterland, um fremdländisch zu sein? Weil es dort keine Arbeit gibt, weil man ein Studium beenden möchte, weil man heiratet. In den Geschichten sind es keine Katastrophen wie Hunger, Überschwemmungen, Erdbeben oder politische Verfolgung. Einfach die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Aber die Geschichten sind durchtränkt von Wehmut und Heimweh, von zerstörten Hoffnungen, geplatzten Illusionen, von Unsicherheiten.
Da gibt es die wärmenden Erinnerungen an süßen Zimttee, geröstete Wassermelonenkerne, Hitze, Wasser des Nil, an einen anderen Lebensrhythmus, sinnlicher, gemächlicher und zugleich lebendiger als im kühlen kalten England.
Für manche der Protagonisten wird der Glaube zur starken Überlebenskraft, gibt der Glaube Halt. In der Geschichte „Kebabshop“ findet Kassim mit einem marokkanischen, dem weltlichen Leben zuneigenden Vater und einer schottischen Mutter, die kein Interesse an Religion hat, zum Glauben. Dina schwankt zwischen dem Leben, das er ihr bietet und der Unerfülltheit, das ihr Elternhaus ihr vermittelt.
In „Altes und Neues“, lesen wir von einem englischen Konvertiten, der zu seiner Braut zur Eheschließung nach Khartum fliegt. Und sich dort mit den Realitäten dieses Landes konfrontiert sieht. Die nicht unbedingt mit den angelesenen übereinstimmen.
In „Der Mann der Aromatherapeutin“ endet ein gemeinsames Leben, eine Ehe mit dem Schild „Zu verkaufen“. Zu weit driften die zwei Charaktere und die zwei Welten auseinander: Elaine steigert sich in ihr Gefühl des Erwähltseins und der Überlegenheit zu Adam. Sie spirituell, er materiali- stisch. Da lässt es sich gut glauben, dass ihr spiritueller Lehrer ein Indianer oder ein somalischer Krieger sei. Adam würde sie in ihrer Entwicklung zurückhalten, behindern.
In „Bunte Lichter“ sind die farbfrohen Lichterketten Symbole für die Weihnachtsbeleuchtung hier und die Beleuchtung der Hochzeitshäuser dort. Visuelle Weihnachtsfreude und Tod des geliebten Bruders durch eine defekte Lichterkette. Statt Hochzeit der Tod. Der Vater stiftet eine Schule aus Lehm in seinem Heimatdort in Erinnerung an seinen Sohn, die Mutter hängt einen großen Tontopf, der immer kühles Wasser spenden wird, in den Baum. Hier gibt es gestiftete Erinnerungsbänke.
In „Circle Line“ werden das Älterwerden und die Selbsttäuschungen angesprochen. Die Welt dreht sich schnell wie ein Riesenrad, hoch hinauf, tief hinunter und wieder hoch hinauf und tief hinunter: der Rhythmus des Lebens.
In „Sommerlabyrinth“ nähert sich Nadia ihren Wurzeln, sie merkt, dass Ägypten, das ihr bisher so fremd geblieben war, Teil ihrer DNA ist. Sie will für ein Projektjahr nach Kairo gehen, um Arabisch zu lernen.
Die Geschichten zeigen lebensnah diverse Perspektiven auf, die zum Nachdenken anregen, wie es Menschen im Hier geht, die von Dort sind. Ihre Fremdheit nähert sich unserer eigenen Fremdheit in dieser schnellen modernen Welt, in der „Zeitenwende“, die die Karten auf allen Ebenen, den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, neu mischt.
Und so ist in diesen interkulturellen Geschichten die grundsätzliche Fremdheit des Menschen enthalten.
Schon Schubert hat in seinem Liederzyklus „Die Winterreise“ die Fremdheit thematisiert.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ .