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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 21.01.2022
Die Reise (eBook, ePUB)
Doulatabadi, Mahmud

Die Reise (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Tragische Hoffnungslosigkeit

Doulatabadi ist Schriftsteller, Schauspieler, Bibliothekar. Aufgewachsen in einer einfachen Familie, aber mit den Poemen von Ferdausi, Saadi und Hafez. Und zu Schahs Zeiten im Gefängnis.
Alle diese Erfahrungen fließen in sein Werk: er ist der größte zeitgenössische Epiker seines Landes.
Das Leben abseits der Metropolen und der Wallfahrtsorte zeigt der Roman als düstere Welt der einfachen Menschen, Ausweglosigkeit und Trostlosigkeit. Marhab, der dem immer wieder aufs Neue entfliehen will. Bis er Chatun sieht, die mit Mutter und Tochter in einem abgelegenen Haus bei den Bahngleisen lebt. Ihr Mann Mochtar ist nach Kuweit gegangen, um Geld zu verdienen, nachdem er seine Arbeit als Schmied verloren hatte.
Eines Tages kam der Gendarm mit der traurigen Nachricht, dass Mochtar ertrunken sei. Trauer und Wehklagen, aber das Leben ging weiter.

Und das Leben bescherte ihr Marhab. Sie kamen ins Gespräch, er begleitete sie heim. Sie fühlte sich geschmeichelt, obwohl sie doch eine ehrbare Frau war. Chatun blühte auf, alles andere zählte nicht. Bis er eines Tages nicht mehr auftauchte. Aber Marhab fühlte die Frauen wie einen Klotz an seinem Bein. Die Verantwortung bis an sein Lebensende machte ihm angst.
Es gab noch einen anderen Beobachter des Hauses, einen mit Krücken. Jeden Abend stand er seit Tagen bei den Schienen und beobachtete das Haus.

Mochtar traf Marhab im Teehaus, er erzählte von Kuweit, seinem Unfall, seinem Unglück. Sie waren zu 70 auf einem Boot, als dieses beschossen wurde. Er selbst wachte erst im Krankenhaus wieder auf, einbeinig.
Was sollte er noch dort, was konnte er dort noch arbeiten? Da gab es nur Schwarzarbeit und Erniedrigungen.
Aber wie sollte er zu Frau und Kind zurückkehren? Als untauglicher Invalide? „Bei uns hängen Freundlichkeit und Liebe vom Geldbeutel ab.“


Marhab wollte nichts als fort, ein Kreischen der Bremsen. Zwischen den Gleisen eine zerquetschte Leiche und die Krücke. Er blieb allein in Einsamkeit und Schweigen. Er nahm die Krücke auf und lehnte sich in sie, blicke auf das dunkle einsame Haus.

Der Autor schreibt über gesellschaftliche Zwänge, die Frauen, über die Armut, die Menschen zu Emigranten macht, über Sehnsüchte und Träume „Ich möchte wegfliegen wie ein Kondor. Immer bin ich auf der Suche.“ Was sucht Marhab? Was ist Freiheit? Ist es das ständige Unterwegssein, ohne feste Bindungen?

Der Buchtitel „Safar“ bedeutet „Reise“. Aber so gar nicht in Einklang zu bringen mit dem eingedeutschten „Safari“, was wir oft mit Jagd nach Glück verbinden: Jagd-, Entdecker- und Abenteuerglück. Vielleicht ist es auch hier eine Jagd nach Glück. Dem des Ankommens, des Zuhauseseins, der Geborgenheit?

Für mich beschreibt Doulatabadi diese „Safari“ kurz und knapp, ohne Effekthascherei, trocken, wie unbeteiligt. Und doch fühle ich tiefes Mitfühlen mit seinen Figuren. Die gewiss nicht einfach nur aus dem Hirn eines Romanciers entsprungen sind, sondern lebensnahe Pendants haben.
Für diese Lebensnähe ist Doulatabadi zu danken

Bewertung vom 20.12.2021
Feig, faul und frauenfeindlich
Alanam, Omar Khir

Feig, faul und frauenfeindlich


ausgezeichnet

Hürdenläufer in der Schönen Neuen Welt

Wie hat „der Westen“ erstaunt gejubelt beim Arabischen Frühling, nicht die wehrhaften Reaktionen repressiver Regimes, mit denen sie übrigens einträgliche Verbindungen unterhielten, einkalkulierend: eine Folge war der Flüchtlingsstrom mit seinen Tragödien und Verwicklungen.
Davon berichtet der Autor, aus ganz subjektiver, auf Österreich bezogener Sicht, die aber ein Äquivalent zur deutschen Situation ist.
Der Autor selbst ist Damaszener, der sein Heimatland verließ, um nicht zu töten und nicht getötet zu werden. Der in Österreich eine neue Heimat fand, eine Frau und einen Sohn und eine Laufbahn als Dichter und Schriftsteller. Und der nun in klaren und deutlichen Worten versucht, diese zwei Welten miteinander zu verbinden und der Leserschaft, die an orientalischen Hintergründen und orientalischer Seelenlandschaft interessiert ist, nahe zu bringen.
Er behandelt Themen wie Freiheit und Liebe, Familie und Tradition, Selbstfindung und Verpflichtung, Mut und Feigheit, Scheinheiligkeit und Ehre, Sexismus, Integration und Religion, Arbeit und Geld, Geschichte und Politik.
Er nimmt Aspekte des muslimischen Glaubens, verknüpft mit den dadurch entstandenen Traditionen ins Visier und betont die tiefen familiären Verbindungen, die es den Kindern oft unmöglich machen, ihren eigenen Weg in der sich ändernden Welt zu finden und mutig zu gehen. Sie werden gebunden durch Regeln und Pflichten und dem vielfältigen Begriff von Ehre.
Doch schon Khalil Gibran, ein libanesischer Schriftsteller und Philosoph wusste:
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.“
Omar Khir Alanam betont auch immer wieder, dass das neue Leben der Flüchtlinge in der „Schönen Neuen Welt“ wie ein Hürdenlauf sei, man müsse Mut zur Veränderung haben, man dürfe es sich nicht in der gebotenen sozialen Hängematte bequem machen, man müsse Herausforderungen erkennen und annehmen. Nur so kann ein neues Leben, ein „integriertes Leben“ gelingen. Aber die sog. Integration wird oft nicht nur durch die Flüchtlinge selbst verhindert, sondern die staatlichen Stellen scheinen oft kein wirkliches Interesse daran zu haben: Deutschkurse werden gekürzt oder gestrichen. Dabei ist doch die Sprache das wichtigste Instrument für ein Miteinander, für das Verständnis des Anderen, der in vielen Facetten so anders gar nicht ist: denn auch er ist nur ein Mensch, mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen.
Und er prangert an, dass viele Flüchtlinge jahrelang im Ungewissen leben müssen, nicht arbeiten dürfen, sich im bürokratischen Dschungel verlaufen.

Verfehlt ist auch die Ablehnung des Islam im Allgemeinen. Es müssten Initiativen entstehen,

um die wachsende Politisierung des Islam zu stoppen. Der Autor bricht eine Lanze für einen europäischen Islam, der Demokratie, Freiheit und Gleichheit beinhaltet und wundert sich, dass z.B. in Deutschland die Imame der DITIB aus der Türkei gesandte Beamte seien. Er bemängelt auch die dunklen Hinterhof-Moscheen, in denen radikale Kräfte eine ideale Brutstätte finden, durch die wahabitische Glaubensauslegung der Saudis gefördert.
Er fordert zudem eine kritische und reflektierte Geschichtsvermittlung für die Flüchtlinge über Rassismus, Antisemitismus, Homophobie ohne erhobenen Gutmenschenzeigefinger, aber auch über die westlichen Grundsteine zu den nahöstlichen Konflikten: der Aufteilung der osmanischen Gebiete ohne Rücksicht auf Religionen und Ethnien. Als Beispiel diene das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und England. Und nicht zu vergessen der Exportschlager der Waffenlieferungen.

Eine komplexe Lektüre, und doch fast beschwingt geschrieben, mit für viele gewiss neuen Eck- und Wissenspunkten. Die nicht nur die einen als Opfer und die anderen als Täter sieht. Die das Verbindende

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Bewertung vom 08.12.2021
Flügel in der Ferne
Hilal, Jadd

Flügel in der Ferne


sehr gut

Living in one land, dreaming in another

Dieser Titel einer Ausstellung von Shirin Neshat könnte das Motto dieses frauenbewegten Romans sein, der in alternierenden Puzzleteilen das Leben von vier Frauen beschreibt. Von Naïma und ihrer Tochter Ema, ihrer Enkelin Dara und ihrer Ur-Enkelin Lila. Frauenschicksale eines zerrissenen Lebens, in einem zerrissenen Land. Wie eine Patchworkdecke sind Geburten, Trennungen und Todesfälle miteinander vernäht.
Jadd Hilal ist selbst libanesisch-palästinensischer Abstammung, also prädestiniert dazu, diese generationsübergreifenden Familienbande plastisch zu schildern.

Die Zuordnung der mosaikartig angeordneten Textfragmente – mal ausführlicher, mal kurz – finde ich etwas verwirrend, werfen mich immer wieder zurück: Who is who? Und wer war wann wo?


Im Hintergrund spielen zwei weltgeschichtliche Akteure mit und sind letztendlich ausschlag-gebend für die zerrissenen Biographien der vier Frauen: die Nakba, die Vertreibung der Pa-lästinenser aus ihrem angestammten Gebiet durch die Israelis und der libanesische Bürgerkrieg, auch er indirekt durch die Nakba beeinflusst, denn die Vertreibung der PLO aus dem Libanon, die wiederum zuvor nach dem sog. Schwarzen September aus Jordanien vertrieben worden war, war der Auslöser. Und das Land ist bis heute - 2021 - nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder flackern Kleinkriege und Kämpfe auf in diesem mediterranen Land, in dem Christen maronitischer Prägung und sunnitische und schiitische Muslime um die Macht ringen und kämpfen.

Die Frauenschicksale aber sind natürlich eng mit den Charakteren ihrer Männer verbunden, die zwar nur in Nebenrollen auftreten, die alle in irgendeiner Form zu Gewalt neigen und Anpassung und Unterwerfung erzwingen und somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Realität sind. Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten. In andere Länder, aber auch in Alb- und Tagträume.

Deutlich werden die kriegerischen Rivalitäten der diversen Milizen und Militärs geschildert, die Instabilität eines Landes „mittendrin“. Aber auch die Privilegien gewisser Schichten, zu denen die UNO-Mitarbeiter und die anderer internationaler Organisationen zählen. Sie leben in „Gated Communities“, mit Privatchauffeur, Spesen für dies und jenes und früher Pensionierung. Weit entfernt von der Realität der Landesbewohner, ob Einheimische oder „Zugewanderte“. Die Beamten werden evakuiert, der Rest, die gewöhnlichen Libanesen, müssen bleiben. Warum? Sie sind keine Auserwählten, sie sind nur Statisten im „Big Game“. Und es wird offen dafür plädiert, die UNO abzuschaffen. Wozu einen Sicherheitsrat, in dem 5 Staaten (von denen keiner ein sog. Entwicklungsland ist) über 187 Staaten entscheiden.

Faszinierend für mich als Leserin ist die Liebe zum Land, zum Libanon, zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. So ist das Hin und Her z.B. für Dara ein Tauziehen zwischen liba-nesischer Lust am Leben und dem europäischen Verantwortungsbewusstsein und der geregelten Ordnung. In Ländern wie dem Libanon herrschen Unordnung und Großzügigkeit, man besitzt wenig und gibt gerne.

Bezeichnend die Szene auf dem Schiff, das Evakuierte nach Zypern bringen soll.
Eine Sängerin stimmte das Lied „Al Busta“ der über die Grenzen Libanons hinaus berühmten und verehrten Fairuz an, die Passagiere jubeln, weinen, stampfen, applaudieren, als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird.

Das Buch schließt mit Lilas Traum vom „durch die Lüfte fliegen“ wie die Vögel. „Als ich die Augen wieder öffnete, war ich wie ein Vogel, hatte Flügel, die die anderen nicht besaßen“.

„Füße, wofür brauche ich Euch, wenn ich Flügel zum Fliegen habe.“ Frida Kahlo

Die Träume, die Sehnsucht, Heimat, aber auch die frauenfamiliäre Verbundenheit - das ist die Quintessenz dieses Romans, der durch diese vier Frauen das Schicksal der Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten verdeutlicht. Und gerade in der heutigen Zeit ist Heimat ein Zustand, nach dem wir

Bewertung vom 26.11.2021
Die Narayama-Lieder
Fukazawa, Shichiro

Die Narayama-Lieder


ausgezeichnet

Dieses Büchlein ist eine Preziose: der Einband und natürlich der eigentümliche, außergewöhnliche Text selbst mit den Liedern, die mit spöttischem Unterton, das Dorfleben illustrierend, in den Text hineingewebt sind. Eigentümlich, weil er eine ungewöhnliche Schilderung ist, aus einer archaischen Zeit, aus einer archaischen Landschaft. Eine archaische „Triage“. Und doch atmet der Text Lebensfreude, denn Orin hat es akzeptiert, dass sie mit 70 „auf den Berg geht“, nicht dumpf oder aufbegehrend gegen die Tradition, sondern freudig als Lauf des Lebens, als unausweichliches Schicksal. Für uns moderne Menschen ist Orin eine Geisel archaischer Traditionen und die Triage gerade in den aktuellen pandemischen Zeiten ein Stich in das Wespennest unseres modernen Egos. Die verwitwete Orin lebt mit ihrem Sohn Tatsuhei und Enkeln in der „Wurzelhütte“. Das Dorf besteht aus 22 Hütten, alle „getauft“. Das karge Hochland bietet den Dörflern kaum Abwechslung, bis auf das Bon-Fest, bei dem die Ahnen für 3 Tage im Diesseits mit Tanz empfangen werden, Neujahr und das Narayama-Fest. Es gibt nur wenig Anbauflächen. Das bedeutet knappe Ressourcen, und Nahrungsmittel-Diebstahl ist ein großes Tabu im sozialen Gefüge. Beim Narayama-Fest, das nur einmal im Jahr gefeiert wird, wird jedoch üppig getafelt: die Früchte der frühen herbstlichen Ernte und die kostbarste Delikatesse überhaupt, weißer Reis. Orin freut sich auf das Fest, kann sie doch endlich wie alle Alten „auf den Berg gehen“, die wichtigste Reise ihres Lebens antreten, hinauf zum Göttlichen Berg. Sie ist bereit, denn sie hat für ihren Sohn eine neue Frau gefunden, Tamayan. Aber auch ihr Enkel Kesakichi hat sich schon verfrüht eine Frau gesucht, Matsuyan von der „Teichhütte“. Man heiratet spät, jedes neue Familienmitglied ist ein Esser mehr im essenknappen Dorfleben. Der Winter nähert sich. Mehr denn je eine Herausforderung, denn nun gibt es 2 Personen mehr, die essen wollen, zumal Matsuyan wie ein Bär futtert (sie ist im 5. Monat schwanger). Orin fühlt sich überflüssig mit den 2 neuen Frauen im Haus und sehnt sich nach der Reise zum Göttlichen Berg. Endlich gibt ihr Sohn schweren Herzens sein Einverständnis, obwohl die Schwiegertochter meint, man solle das kommende Baby von Matsuyan opfern. Orin lädt zum Abschiedstrunk. 7 Männer und 1 Frau erscheinen, geben Abweisungen und Erklärungen, nehmen Gelübde ab. So ist es Brauch. Es gibt drei Regeln: No. 1: unterwegs nicht sprechen. No. 2: niemand darf sie beim Aufbruch sehen, No. 3: der Begleiter darf bei der Rückkehr vom Berg nicht zurück blicken ( Reminiszenzen an Lots Frau und Orpheus?). Einer gibt Tatsuhei den Tipp: es reiche schon bis zu den 7 Tälern, ein Rat, den er erst auf dem Rückweg versteht. Orin will fort, ermahnt den Sohn, der sie über die 7 Täler, wo es nur einen und doch keinen Weg gebe, (die Symbolik des Unterwegsseins und des finalen Ankommens?) bis auf den Berg, wo der Gott wohnt, trägt. Auf dem Berg legt Orin ihre gewebte Matte zurecht und legt ein Bällchen weißen Reis darauf. Sie schiebt den Sohn in Richtung Abstieg und drückt fest seine Hände. Tatsuhei torkelt weinend abwärts. Er dreht sich nicht um. Doch dann beginnt es zu schneien, und er will dieses Glück mit seiner Mutter teilen, denn sie glaubte fest, dass es schneien würde, wenn sie auf den Berg, wo der Gott wohnt, geht. Er sieht sie beten, die Matte um sich gelegt, vom Schnee umhüllt. Er begegnet bei den 7 Tälern dem Sohn des Nachbarn, der seine Trage abschnallt und den Vater hinabstürzt. Das Schlussbild als „Das Leben geht weiter“-Sinnbild: der Enkel sitzt betrunken in Orins ge-füttertem Wattemantel, seine Frau trägt Orins Stoffgürtel. Und er sagt: Oma hat Glück: es schneit.In diesem kleinen Buch ist alles enthalten, was das menschliche Leben ausmacht: Liebe, Zuneigung, Trauer, Sorge, Neid, Schicksalsergebenheit, Auflehnung, existenzielle Not, Rituale, Würde, Erbarmen. Und der Tod. Der präsent ist als Teil des Lebens. Der in unseren Zeiten verdrängt wird, nur durch Schlagzeil

Bewertung vom 31.10.2021
Minarett
Aboulela, Leila

Minarett


ausgezeichnet

Leila Aboulela konfrontiert uns mit Nadschwa, der Ich-Erzählerin dieses Romans. Er ist in sechs Kapitel gegliedert: zeitlich von 1984-2004 hin und her springend, was ich verwirrend finde. Er ist Schilderung einer Lebenssuche nach Geborgenheit, Zuneigung und Sicherheit mit vielen Irrungen und Wirrungen.
Wir werden Zeuge dieser Auf und Abs, dieses Herausgeworfenseins aus einer afrikanischen Welt in eine graue und kühl-britische, aus einer Kindheit und Jugend einer verwestlichten Oberschicht in die Unsicherheit des Exils, ohne Eltern und Freunde, ohne Ressourcen. Ein Leben wie in einer Zwangsjacke.
Nadschwas Leben in einer wohlhabenden einflussreichen Familie mit der zwillingssymbiotischen Beziehung zu ihrem Bruder Omar,„Und trotzdem lauerte in mir manchmal ein Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum“. Auf dem Campus der Uni sah sie betende Frauen, bewunderte die Choreographie ihrer Bewegungen.
Sie fühlte eine starke Anziehungskraft zu dem politisch engagierten Anwar, obwohl er sie wegen ihrer Herkunft verspottete, ihren Lebensstil verachtete.
Ein Putsch zwang Nadschwa, Omar und die Mutter überstürzt nach London abzureisen. Der Vater wurde verhaftet, ihre Ländereien und Häuser konfisziert, der Vater wegen Korruption angeklagt und gehängt.
In London „…klaffte die Erde auseinander und wir stürzten in die Tiefe, entfremdeten uns voneinander, weil wir einander noch nie hatten fallen sehen.“

Die Mutter starb, Omar verbüßte eine sehr lange Haftstrafe, weil er fast einen Polizisten erstochen hatte. Nadschwa blieb allein, musste arbeiten.

Ein Wiedersehen mit Anwar, der jetzt als politischer Flüchtling in London lebte. Sie wurden ein Paar trotz der unüberbrückbaren Unterschiede. In ihr wuchsen Schuldgefühle über die verlorene Jungfräulichkeit. Durch Wafâa erste Kontakte zur Moschee, wo sich Frauen regelmäßig zum Unterricht trafen. Diese Besuche wurden zu einer festen Konstante ihres Lebens. Sie begann den Hidschab zu tragen, die ramadanische Fastenzeit einzuhalten und Hoffnung zu nähren, dass Allah ihr ihr früheres Glück zurück geben bzw. ein anderes, neues Glück schenken würde. Anwar bezeichnete ihren Weg zum Glauben als Gehirnwäsche, er verstand nicht, dass Nadschwa in sich geborgen sein wollte und sich den „großen Dingen“ wie Meinungsfreiheit, Menschenrecht, Terrorismus entzog. Für sie war ihr Weg ein Peeling der Seele.

Sie lernte den sehr religiösen Tamer kennen, viele Jahre jünger, es entwickelten sich zarte Gefühlsbande. Als sie sich küssten, wurden sie von seiner Schwester und ihrer Arbeitgeberin entdeckt.

Aboulela gelingt es, die Seelennöte einer in die Fremdheit gestoßenen, lebensfremden jungen Frau nachvollziehbar zu schildern. Die aus der Wohlbehütetheit ihres bisherigen farbigen Lebens in ein glanzloses geworfen wird ohne jeglichen Kontakt zu Einheimischen. Die in ihren Liebes-beziehungen zu Anwar und Tamer scheiterte. Anwar, der sie nicht heiraten wollte. Dessen biologisch-rassistisch-reaktionäres Argument mich frösteln macht: er wollte Nadschwas geneti-sches Erbe, das Blut ihres Vaters, nicht in den Adern seiner Kinder fließen sehen. Also auch nur ein Lebenslügner, kein aufgeklärt-rationaler Systemveränderer, als den er sich selbst so gern sah.
Und doch bleibt die weibliche Hauptfigur irgendwie blass und blutleer, mir fehlt kämpferischer Geist. Ein Auflehnen gegen ihr Schicksal, statt es passiv-depressiv zu akzeptieren.


Wir als Leserinnen und Leser mögen diesen Lebensweg nicht nachvollziehen können: wir leben selbst meist ein rationales, areligiöses, angeblich zeitgemäßes Leben und uns erscheint der Islam als eine Religion der Unterwerfung. Was das arabische Wort ja auch explizit bedeutet. Sich ergeben in den Willen Gottes. Eine sich unterwerfende Unzeitmäßigkeit. Wobei wir vergessen, dass bei uns in früheren Zeiten Nonnen Jesus als ihren Bräutigam sahen und heute die evangelikalen Sekten und die esoterischen New Age-Gruppen, die Hinwendung zum buddh

Bewertung vom 02.10.2021
Das grüne Auge
Appanah, Nathacha

Das grüne Auge


ausgezeichnet

Illusorische Paradiese

Tropische Inseln gelten als Elysium. Die Autorin beschreibt in ihrem Roman über das französische Mayotte im Komoren-Archipel eine andere Realität.

Das Leben des durch seine zweifarbigen Augen „verfluchten“ Moïse verläuft die ersten Jahre in gradlinigen glücklichen Bahnen. Für seine weiße Mutter Marie ist er ein Wunsch- kind. Für seine biologische Mutter jedoch war das Baby mit einem schwarzen und einem grünen Auge eine Inkarnation des Dschinn. Und so drückte sie ihn der nächstbesten weißen Frau, Marie, in die Arme, nachdem ihr die Flucht nach „Frankreich“ gelungen war.

Doch das Schicksal will es anders und Moïses privilegiertes Leben findet ein jähes Ende. Marie hatte endlich den Mut gefunden, ihm die Wahrheit über ihn und über sich selbst zu erzählen. Er verändert sich, macht ihr Vorwürfe, dass sie ihn gehindert hätte, sein wahres, Leben zu leben. Und Maries andauernde Kopfschmerzen enden in ihrem plötzlichen Tod. Das Leben zieht Moïse in einen Strudel von Gewalt. Er wird konfrontiert mit seinem wahren Leben, das er von Marie gefordert hatte: im Gaza genannten Ghetto mit seinen Jugendbanden, die stehlen, rauchen, trinken, sich mit „der Chemischen“ voll dröhnen. Er hat kein Zuhause mehr, nur seinen Rucksack, der ihm nun als Kopfkissen dient.

Er ist ein Außenseiter in diesem Elendsviertel, diesem gewalttätigen Niemandsland. Ein Ort ohne Hoffnung. Aber niemand kümmert es, was dort geschieht. Niemand kümmert sich um die illegalen Flüchtlinge, die wie eine zerstörerische Woge in kleinen Booten übers Meer kommen. Alle wollen sie ins Paradies. Die Besuche von Politikern, die Kampagnen und die Reportagen ändern nichts an diesem Urzustand.
Es gibt Zeiten, da ist Moïse fast glücklich, er raucht, singt und tanzt zum Tamtam, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Aber er erkennt tief in seinem Inneren die Destruktivität von Ghettos.
Wie kann in so einem Milieu ein Mensch ein guter Mensch bleiben? Wie kann dort Hoffnung gedeihen? Der Wille zur Veränderung?
Da helfen auch die gutmenschlichen NGO’ler nicht, die für ein paar Monate nach Mayotte kommen, erfolglos Projekte anschieben. Sie kamen und sie gingen blind zurück in die Wohlbehütetheit. Die Strukturen der jugendlichen Überlebenswelt haben sie nicht erforscht.

Bruce ist Moïses jugendlicher Gegenspieler, gewaltbereit, herrschsüchtig, unbesiegbar, der Chef, dem alle blind gehorchen. Genau diese Hörigkeit führt in die Katastrophe, die Moïse als Opfer zurücklässt, die ihn zum Mörder werden lässt.

Moïse kann seinem Schicksal, von machetenschwingenden Jungs gelyncht zu werden, entfliehen. „Ich heiße Moïse, ich bin fünfzehn und ich lebe. Ich habe keine Angst mehr vor der Meute, ich laufe zum Ende der Pier und tauche ein in den Ozean. Ich tauche nicht wieder auf.“

Ist es ein Happy End? Ist es sein prophezeites verfluchtes Schicksal? Offene Interpretationsmöglichkeiten.

Eindeutig aber ist, dass Nathacha Appanah ein wunderbares Buch geschrieben hat, ein Buch, das trotz aller Tristesse, trotz aller Gewalt mit wunderschönen poetischen Momenten beglückt, so dass man als Lesender für ein paar Augenblicke (mit dem schwarzen oder dem grünen Auge?) fast an das Paradies glauben kann.

Unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die viele Fragen beleuchtet: Rassismus, Lost Paradises, Flüchtlinge, ungleiche Chancen, Gewalt, Gutmenschen. Eine nachhaltige Lektüre.

Bewertung vom 13.09.2021
Keine Luft zum Atmen
al-Atawna, Asmaa

Keine Luft zum Atmen


sehr gut

Die Ausbrecherin.

Asmaa al Atawnas Debütroman ist der Bericht einer Rebellion, einer Sehnsucht nach Ausbruch, nach Bruch mit den Regeln ihrer patriarcharlischen Gesellschaft, nach Freiheit, nach dem eigenen Ich.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der Weg hinaus und das Leben dort. Beides in Ich-Form geschrieben. Es ist flüssig zu lesen, in schnörkellosem Stil, fast ein bisschen „schulaufsatzmäßig“.

Als Tochter einer palästinensischen Mischfamilie, Beduinen und wohlhabende Bauern, bricht sie schon früh die Spielregeln ihrer Gesellschaft. Sie ist aufsässig und rebellisch. Aber ihr Gefühl des Einge-sperrtseins ist nicht nur den gesellschaftlichen Riten geschuldet, sondern potenziert sich dadurch, dass sie im Gaza-Streifen aufgewachsen ist, unter israelischer Besatzung, ohne die Freiheit des Kommens und Gehens nach eigenem Belieben.

Anschaulich schildert sie ihr Viertel, das sog. „Schwarze Viertel,“ weil das Flüchtlingslager an das Viertel der „Schwarzen“ (ehemaligen Sklaven) grenzte, ein Labyrinth für jeden Fremden. Angesprochen wird der inner-palästinensische Rassismus: Ausgrenzung und Verachtung gegenüber dunkelhäutigen, schwarzen Menschen.
Plastisch und lebendig erleben wir den Alltag mit seinen fest gefahrenen Strukturen und seiner sozialen Kontrolle, Namen bekommen ein menschliches Antlitz: die Großeltern und Geschwister, die Nachbarn. Die Brüder Râmi und Abdallah. In der Schule Streiche und körperliche Züchtigung. Aber die kannte sie von zu Hause: die Mutter benutzte ein schmales Bambusrohr oder einen Schlauch, der Großvater einen Gehstock, der Vater einen Ledergürtel.
Sie schrieb sich mit 18 Jahren an der neuen Al Fatah-Universität ein und lebte bei ihrer verheirateten Schwester Amal. Zum ersten Mal fühlte sie sich frei in Gaza, die Intifada war zu Ende, das Oslo-Abkommen in Kraft und Vaters Wut war weit entfernt. Sie vertiefte sich in Romane, entdeckte andere Schicksale, fühlte sich dadurch nicht mehr allein.
Da sie wegen unbotmäßigen Verhaltens von der Uni verwiesen wurde, suchte und fand sie Arbeit: als Reporterin bei einer Nachrichtenagentur. Sie schrieb über die Bewohner der überfüllten Lager, über Besatzung und Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität und die naiv-bevormundende UNRWA: „sie behandelt uns wegen Kopfschmerzen, obwohl wir eigentlich Krebs haben.“

Durch Zufall hatte sie in der Zeitung vom Märtyrertod Abdallahs gelesen und die triste Begegnung mit Râmi auf dem Friedhof ließen Trauer, Kummer und Wut in ihr aufsteigen.
Es war Zeit zu gehen, zu fliehen, der Hölle zu entrinnen. „An einen ruhigeren und grüneren Ort.“

Wir lesen, wie sich Aufsässigkeit und Anderssein entwickelt und artikuliert: gegen die Unmündigkeit in einer patriarchalischen Gesellschaft, gegen die Strangulierung des eigenen Ichs. Vielleicht hatte Asmaa schon das Gen der Rebellion durch ihre Geburt in sich: fast erstickt durch die Nabelschnur, der Fluch des Vaters, dass sie nicht der ersehnte Stammhalter war. Vielleicht spielte ihr hier das Unterbewusste einen Streich: sich Freiheiten wie ein Junge nehmen zu wollen. Ganz wichtig ist ihr zu betonen, dass es ihr primär um die persönliche Freiheit ging. Die politische Unfreiheit war nicht unbeteiligt an dem Gefühl der Enge, war aber nicht der ausschlaggebende Punkt ihres Ausbruchs. Gewiss gilt dieser Wunsch nach Ausbruch auch für junge Männer. Denn auch sie unterliegen den ungeschriebenen sozialen Gesetzen ihres Umfeldes.


Sie wollte nicht als Widerstandskämpferin abgestempelt werden, sondern sie wollte nur wie Virginia Woolf: A Room of One’s Own. Und dieser ganz eigene Raum, im architektonischen wie im seelischen Sinn, ist wohl die Essenz dieses Buches und vielleicht auch ein Lösungspunkt: sich der familiären und sozialen Kontrolle entziehen zu können. Um frei zu atmen, Kraft zu schöpfen, tagträumerisch an die Decke zu starren oder aus dem Fensterchen zu schauen, ungestört zu lesen und zu denken, Tagebuch zu schreiben……

Bewertung vom 28.08.2021
Mein Onkel, den der Wind mitnahm
Ali, Bachtyar

Mein Onkel, den der Wind mitnahm


ausgezeichnet

Die wundersame Geschichte vom „Fliegenden Kurden“.

Bachtyar Ali ist ein kurdisch-irakischer Schriftsteller, der in Sorani, einer kurdischen Sprache, schreibt. Seine traumhafte poetische Sprachumsetzung macht die Lektüre seiner Bücher zu einem sprachlichen Hochgenuss. Sie sind Solitäre in der Buchlandschaft. Seine Sprache ist leise, sich nicht in den Vordergrund drängelnd, nicht marktschreierisch. Er fabuliert im Stile orientalischer Märchenerzähler in scheherazadischen Bildern.
Der vorliegende Roman ist in Ich-Form geschrieben, von Salar, dessen Onkel Djamschid die tragende Person neben dem Element des Windes ist. Und wir als Lesende fliegen mit als „blinde Passagiere“ wie auf einem Fliegenden Teppich.

Djamschid war vor seiner Verhaftung wegen kommunistischer Umtriebe fast eine barocke Gestalt. Während der Haft, in der er allen Folterfinessen widerstanden hatte, war er zu einem Strich in der Landschaft, zu dem Schatten eines Menschen geworden. Als er wieder einmal zu einem Verhör abgeholt worden war, wurde er im Gefängnishof von einem starken Wind erfasst und sein federleichter Körper entschwebte in himmlische Sphären. Erst nach Stunden landete er auf dem Dach des großväterlichen Hauses mit einem ausgelöschten Gedächtnis.

Und so begann eine unfreiwillige Odyssee durch die Lüfte und ein biographisches Abenteuer. Er schwebte über die Landesgrenzen hinweg: er war eine menschliche Drohne im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, ein „Schlachtenbummler" mit einem Spezialanzug, der sich wie ein Chamäleon den Farben des Himmels anpasste. Er beweinte sein eigenes Schicksal und das der Frauen: sie wurden Witwen und sohneslos. In iranischer Gefangenschaft wurde er als verkleideter Imam mit dem Kampfruf „Die Seele des Imam Hussein ist mit Euch“ missbraucht. Bei seiner Rückkehr hatte er Angst vor den Winden und der Weite des Himmels und verkroch sich mit seinen Neffen Salar und Smail in den Höhlen eines verlassenen Dorfes.

Djamschids Abenteuer in der Liebe, bei den Peschmerga, als Gottesprediger, als Flüchtlingshelfer und als Zirkusattraktion, immer verbunden mit einem totalen Gedächtnisverlust inspirierten seinen Neffen Salar dazu, dem Gedächtnis seines Onkels ein Schnippchen zu schlagen und seine Lebensgeschichte auf seine pergamentene Haut tätowieren. Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, so dass er aussah wie eine mesopotamische Schrifttafel. Djamschid sehnte sich an einen Ort ohne Wiederkehr und ohne verwe-hende Winde. Nach Jahren erhielt Salar ein blaues Kuvert mit einem Dankesbrief für die langjährigen Dienste, die er ihm treu gedient hatte und mit Fotos, die einen rundlichen Mann im Bambushain zeigten.


Und Salar begann Djamschids Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte vom Sichtreibenlassen und Getriebenwerden und von der alten Mär „´Jeder ist seines Glückes Schmied“. Eine Geschichte mit einem runden Ende.
.
Was Bachtyar Ali hier erzählt, ist ein Potpourri an Einfällen, ist fast eine monomythische Heldenreise und hat auch etwas vom „Ritter von der traurigen Gestalt“, auch wenn Djamschid nicht gegen Windmühlenflügel kämpft, so doch gegen ein vom Winde verwehtes Schicksal. Und natürlich erinnert es nicht mehr ganz junge Deutsche an die „Geschichte vom Fliegenden Robert“ aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

Für mich ist das fliegende und wehende Narrativ des Djamschid wie ein magisches Collier, wie ein kurioser Reigen, die die eigene Phantasie anregen und träumen lassen. Was wäre wenn….Und ist das nicht eine der Aufgaben der Literatur? Zum Vordenken, zum Nachdenken, zum Querdenken anzuregen?

Das ist Bachtyar Ali auf meisterliche Weise gelungen und ihm gebührt mein innigster Dank.

Bewertung vom 28.08.2021
Gestapelte Frauen
Melo, Patricia

Gestapelte Frauen


ausgezeichnet

Ein danteskes Purgatorio
Ein phantastischer Roman? Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern auf Fakten basiert, die allerdings von einer Romanhandlung umhüllt sind. Ja, weil er den LeserInnen eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet, ein Menü, das aus testerongeschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.

Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin. Diese wird von ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt im Südwesten Brasiliens geschickt. Als Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Eines offenbart sich klar und deutlich: die Täter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analpheten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, ausbeuten, aussaugen, überfordern.

Die Leiche eines gefolterten vergewaltigten indigenen Mädchens wird abgelegt im Flussschilf gefunden. Auf dem Rücken im Wasser treibend, geknebelt, mit abgeschnittenen Brustwarzen und Glasscherben in der Vagina. Die drei angeklagten jungen Männer gehören zur Haute volée des Ortes und werden selbstverständlich freigesprochen. Denn Eingeborene sind keine wirklichen Menschen und Frauen noch weniger. Eine Reportage der mutigen Chefredakteurin Rita vom Diario da Estrella über das Leben der drei Playboys kostet sie das Leben. Aber auch die drei jungen Täter ereilt ihr Schicksal. Und die Staatsanwältin Carla findet in dieser Spirale der Gewalt ein ebenfalls ein tragisches Ende.

Eingebettet in diese eindringlichen Mordfälle sind die schamanistischen Reisen der Erzählerin durch Zapira, die sie durch Ayahuasca in Traum- und Wachhalluzinationen das Unsichtbare und das Verborgene in einem Kreis von mit Vogelfedern geschmückten Frauen sehen lässt. Die Frau der Grünen Steine ist ihre Anführerin. Dies sei ein Krieg, ein Gemetzel, eine Epidemie. Und sie stellt die Frage: warum töten wir Frauen nicht? Sind es die anders komponierten Hormone, die gesellschaftlichen Strukturen, die weichere Physis oder weil wir Trägerinnen des Leben sind? Denn die Männer töten nicht nur uns, sie töten die Tiere, die Flüsse, die Wälder und die Meere. Sie töten das Leben.

Die Erzählerin beginnt ein Aufklärungsprojekt: aus gesammelten Fotos und Aufzählungen der Mord- und Folterwerkzeuge, der verunstalteten Körperteile stellt sie eine Website zusammen: gestapeltefrauen.com.

Eine erschreckende Lektüre, bei der die Leserschaft sich schütteln möchte, mit offenem Mund und einem Fragezeichen im Gesicht: ist das möglich? Kann das wahr sein? Femizide sind jedoch kein „exotisches“ Problem. Auch in unseren westlich aufgeklärten Gesellschaften sind Frauen-morde und Gewalt gegen Frauen alltäglich. Sie sind nur subtiler verpackt in den Villen und Reihenhäusern. Geschieht all das im „Hier und Jetzt“, in diesen modernen Zeiten? Oder gerade, weil wir in modernen Zeiten leben?

Frau Melo gebührt großer Dank für ihre augenöffnende Arbeit und ihre intensiven Recherchen,
die uns allen, Frauen wie Männer, zum Nachdenken und Handeln anregen und zwingen sollte.
Sie ist ein Kompass durch den Dschungel, dem männlichen mit seinen „Testosteronalien“ und dem grünwuchernden des Amazonas und der Amazonen, einer bald verlorenen Welt.
Das Buch ist ein Plädoyer für Achtsamkeit im Miteinander der Geschlechter (m/w/d) und für Respekt im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ.
Denn: Die Würde des Men

Bewertung vom 02.08.2021
Patasana - Mord am Euphrat
Ümit, Ahmet

Patasana - Mord am Euphrat


ausgezeichnet

Und der Euphrat war Zeuge. Panta rhei.

Ich bin keine große Krimi-Leserin. Und einen türkischen Krimi habe ich noch nie gelesen.

Dabei ist dieser Kriminalroman von Ahmet Ümit eine ganz spezielle Mixtur: da mischen sich zeitgenössische Morde mit Morden, die vor 80 Jahren begangen wurden und verweben sich mit Geschehnissen aus der 2700 Jahre zurückliegenden Vorzeit. Der Roman ist wie ein Teppich und Anatoliens Geschichte ist ein idealer Webstuhl. Hier tummelten sich so viele Völker, bekriegten sich, vermischten sich: die Hethither, die Hatti, die Assyrer, die Urartäer, die Phryger, die Armenier. Und die Namen der Könige glitzern fremdländisch wie gewebte Pailetten.

Die Grundgeschichte ist: ein Team aus Archäologen hat eine hethitische Stadt entdeckt und dort 28 Schrifttafeln in akkadischer Keilschrift unversehrt geborgen. Der Sprachexperte Timothy Hurley bestätigt, dass es sich um Tafeln des 1. Hofschreibers Patasana handelt und dass es seine persönlichen Erinnerungen seien. Es war somit das erste inoffizielle historische Dokument seiner Art.

Das Team setzt sich zusammen aus Esra, der Grabungsleiterin, Kemal, dem verantwortlichen Archäologen, der Fotografin Eilif, Teoman, Murat und Halaf ,dem Koch. Aus Timothy und Bernd, einem deutschen Archäologen.

Die Texte der hethitischen Tafeln korrespondieren alternierend mit den aktuellen Geschehnissen: nämlich Morde in der direkten Umgebung der Archäologen. Der allseits geschätzte und verehrte Haci Settar ist vom Minarett gestürzt worden. Wer war sein Mörder? Waren es fanatische Gläubige oder die kurdische Guerrilla, die seit Jahren die Region in Atem hielt? Oder vielleicht Schatzsucher?
Das 2. Mordopfer war Resat Aga, Führer der Dorfschützen. Man hatte ihn geköpft am Dorfrand gefunden, den Kopf in seinem Schoß. Welche Gemeinsamkeit hatten diese beiden Morde? Haci Setta war friedliebend und ehrwürdig, Resat Aga skrupellos und brutal. In dieser Region galt die öffentliche Rache, um die Ehre wieder herzustellen. Aber nicht diese geheimnisumwitterten Umstände. Das Opfer des 3. Mordes fand man an einem Balken aufgehängt.

Die internationale Pressekonferenz zu den Fundstücken kulminierte in einem Vortrag von Tim. Er beschrieb die Lage der Staaten 700 v.C.: er sah in Patasana einen Vorboten der heutigen Intellektuellen: er hatte sein Denken befreien können, wollte mitteilen, warnen, damit Massaker und die Liquidierung ganzer Völker sich nicht wiederholten. Er hatte die naive Hoffnung, dass der Mensch sich bessere, dass er nicht mehr töte wegen Glauben, Herkunft und Hautfarbe. Aber 2700 Jahre später bleibt der schwarze Fleck im Herzen des Menschen beständig.

Tim selbst war Soldat in Vietnam und sah im Krieg eine Seinsform des Menschen. Kriege banalisieren den Tod. Er ist Massenware.

Die Aufdeckung der Morde und die Enthüllungen dazu sind mehr als überraschend und verbinden sich mit Patasanas letzten Worten: Werdet klug, verwandelt das Leben in ein Fest, feiert das Glück, erlebt Freude statt Tränen und ein Lächeln statt Hass.

In den Texten sind vier Liebesgeschichten eingebettet: die von Patasana. Die von Bernd. Die von Kemal und Eilif und die von Esra und Esref, zwei erwachsene, reife und offene Menschen, vielleicht mit einem Happy End?


Tims exorzistisches Traktat über die Moral des Tötens, des Krieges, der Bösartigkeit und der Friedensmöglichkeit ist wie ein Destillat der menschlichen bellizistischen Vergangenheit und Gegenwart.

Für mich war die Lektüre dieses Kriminalromans nicht nur detektivische Spannung, wer wieso warum?, sondern auch ein Ausflug in die Melting Pot-Geschichte Anatoliens und vor allem in die menschliche Seele.

Und wen es interessiert: Weiterführend zur Disposition des Tötens vielleicht die Lektüre von Theweleits „Männerfantasien“ und Welzers „Täter“. Und ein Nachdenken über das Töten der Neuzeit: da gibt es Breivik, Kindersoldaten, Machetenschwinger, die Kllling Fields, Srebnica, die CIA-inspirierten Foltertmethoden, die