Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
mapefue
Wohnort: 
Kirchbichl

Bewertungen

Insgesamt 167 Bewertungen
Bewertung vom 11.08.2022
Dummheit
Kastner, Heidi

Dummheit


ausgezeichnet

Für Kastner war ausschlaggebend das dünne, 96 Seite „starke“ Büchlein „Dummheit“ zu verfassen, „wie sich Politiker während der Pandemie verhalten hätten“. Darin versuche sie kurzweilig, unakademisch und uneitel, bestimmende Merkmale der Dummheit darzulegen. Sie unterscheidet zwischen Intelligenzminderung und Dummheit, liefert einen kurzen historischen Abriss der Intelligenzforschung und kommentiert das aktuelle Geschehen um Pandemie und deren Begleitdebatten. Darüber hinaus erzählt sie teils ziemlich komische Fallbeispiele nach, die ihr in ihrer Tätigkeit als Gerichtsgutachterin untergekommen sind.
Tunlichst vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbstüberhebung jener zu tappen, die die Dummheit immer nur bei den anderen festzustellen. Dumme Handlungen, beruhten „auch auf unzureichendem Wissen, aber nur dann, wenn man den eigenen Wissensmangel nicht als problematisch erkennt“ (Zitat Kastner).

Dummheit ruhe auf mehreren starken Säulen: der Pseudodebilität, die durch innere Denkhemmung bedingt sei; der Denkfaulheit, welche Menschen schlicht die Beschaffung von Fakten, mit deren Hilfe sie ihre Entscheidungsgrundlage erweitern könnten, verweigern lasse; hinzu käme der weitverbreitete Irrtum, sowieso von allem ausreichend Ahnung zu haben, vor allem von der Medizin. "Dabei würde wohl niemand bei einem offenen Unterschenkelbruch auf die bewährten Heilmethoden der Tante Anni vertrauen!" (Zitat Kastner).

Sie nimmt die Coronaschwurbler auf Korn, die „...mit der leicht paranoid anmutenden Gewissheit, dass sowieso hinter allem „die Pharmaindustrie“ stehe, dass alle Ärzte korrupte Knechte dieser Branche sind und dass man daher keinem trauen kann, wird von der Konsultation von Fachleuten abgeraten, zumindest solange es nicht ernsthaft um das eigene Leben geht.“ (Zitat Kastner).

Die Lektüre des schmalen Büchleins ist köstlich und beim Lesen fällt viel Selbstbestätigung sowie Wissenszuwachs ab. Und auch die Selbsterkenntnis, dass ich unter einem Mangel an „Emotionaler Empathie“ leide, den ich ab sofort vermindern werde: Wenn auf der Autobahn auf dem linken Fahrstreifen ein Porsche/BMW/VW mit gefühlten 250 km/h dahinbrettert, dann hat er natürlich einen guten Grund. Entweder muss er zu seiner unmittelbar gebärenden Frau, oder seinem Ehemann wird ein neues Herz eingepflanzt, oder es ist etwas ganz anderes…

Bewertung vom 08.08.2022
Abgerechnet / Atlee Pine Bd.4
Baldacci, David

Abgerechnet / Atlee Pine Bd.4


ausgezeichnet

ABGERECHNET wird zum Schluss. Im wahrsten Sinn des Wortes. Die vier Bände der Atlee Pine-Serie erschienen in kurzen regelmäßigen Abständen. Als echter Fan von FBI Special Agent Pine habe ich die ersten drei Bände mit nicht nachlassender Begeisterung gelesen. ABGERECHNET - wieder fulminant und packend geschrieben, wie alle. Es ist nun müßig, darüber zu diskutieren, welcher Band der beste gewesen sei. Eines steht fest: David Baldacci ist einer der besten Krimiautoren dieses Genres. Ich habe damals den dritten Band EINGEHOLT als besten Baldacci aller Zeiten beschrieben. ABGERECHNET hat etwas Endgültiges und deshalb schwingt zumindest ein klein bisschen Wehmut mit, dass ich mich von „Lee“ verabschieden muss. Das heißt aber nicht weniger, dass ABGERECHNET ein Topkrimi von bestechender Qualität ist, von einem weltweit anerkannten Spitzenautor David Baldacci.

Atlee Pine hat ihr ganzes Leben, das heißt etwa dreißig Jahre, sie ist inzwischen Mitte Dreißig, unablässig nach ihrer Zwillingsschwester Mercy gesucht. In ABGERECHNET gönnt Baldacci dieser den Platz, der ihr gebührt (die Originalausgabe heißt MERCY). Im Alter von sechs Jahren wurde sie entführt und war wie vom Erdboden verschwunden. Was nicht stimmte, denn sie wurde das Opfer von Kriminellen, die sich an ihrer Mutter rächen wollten. Ein Auszählreim des Entführers hat Atlee davor bewahrt, selbst das Opfer zu sein. Mercys Entführung lässt die Familie zerbrechen, die Mutter verschwindet und Atlee muss ohne aufwachsen.
Nach gefährlichen und fast tödlichen Nachforschungen hat Atlee endlich nicht nur den Grund für das Verlassen ihrer Eltern und Mercys Entführung erfahren und noch viel besser: Sie findet heraus, dass Mercy ihre Entführung überlebt hat und dann vor vielen Jahren ihren Entführern entkommen ist. Atlee hat zudem herausgefunden, dass ihr vermeintlicher Vater nicht der leibliche Vater ist, sondern Jack Lineberry, ein wohlhabender Geschäftsmann, der für die Suche nach Mercy Pine und deren Assistentin Blum mit großzügigen finanziellen und materiellen Ressourcen ausstattet.

Mery, mit Decknamen Eloise „El“ Cain, von ihrer jahrelangen Gefangenschaft physisch und psychisch gezeichnet, fristet ein minimalistisches Leben unter dem Radar. Groß gewachsen und körperlich gestählt kämpft sie in Mixed-Martial-Art-Käfigen und verdingt sie sich als Gelegenheitsarbeiterin. Nichtdestotrotz hat sie ein Herz für alle von der Gesellschaft Ausgestoßenen.

Das glückliche Aufeinandertreffen von Mercy und Atlee und das gemeinsame Erinnern an ihre Kindheit lässt auf sich warten, müssen beide kriminelle Angriffe abwehren und das Bekämpfen eines selbsternannten Sektenführers bestehen.
Baldaccis Stil ist unverkennbar, sein Markenzeichen. In den 81 Kapiteln und 477 Seiten wird der Plot vorzüglich, manchmal etwas zu breit angelegt. Verschiedene Fährten werden gelegt, die die Spannung aufrecht hält und anwachsen lässt, was ein „atemloses“ Lesen zur Folge hat. Ein Pageturner allemal.

Baldacci schließt Pine-Serie ab, startet vielleicht eine weitere mit „Mercy“.

Bewertung vom 02.08.2022
Das Quiz
Fürbaß, Julia

Das Quiz


weniger gut

Eine haarsträubende Geschichte, die zu einem Kammerspiel taugt. Eine schwer geschädigte Marlene, die in verschiedenen Erlebensebenen, Zeitzonen und realen und eingebildeten Menschen zu einem therapeutischen Experiment „Das Quiz“ missbraucht wird.

Der Absatz auf Seite 187 hat mich am meisten beeindruckt: „…ihr Leben (Marlenes) war zu einer einzigen irritierenden Reise durch die Welt, die sie nicht mehr verstand, geworden. Ihre Gedächtnislücken zu hinterfragen, würde sie bestimmt vor das nächste Rätsel stellen.“
Der Roman ist alles andere als leichte Kost, über mache Kapitel habe ich mir nur „diagonal lesend“ drüber geholfen.

Und zum Schluss taucht auch noch eine Nicole auf.

Bewertung vom 28.07.2022
Triest für Fortgeschrittene
Desrues, Georges;Bernard, Erich

Triest für Fortgeschrittene


ausgezeichnet

Ist jetzt Triest die südlichste Stadt des Nordens oder die nördlichste des Südens? Wenn die stürmische Bora von Norden die Stadt in Eiseskälte erstarren lässt, dann ist Triest eine Stadt des Nordens. Zeit, um in eines der vielen Buffets zu flüchten, zu einer warmen Jota, dieser nahrhaften Suppe aus Sauerkraut, Bohnen, Kartoffeln und Geselchtem. Richtig gelesen, Sauerkraut gehört in jeden Triester Wurstkessel, wem nach Pasta ist, der muss seine Destination schnell ändern.

Triest Geschichte und ihr gesamtes Wesen ist wie die Küche geprägt nicht nur von der Zerrissenheit zwischen Norden und Süden, zwischen mitteleuropäischer und mediterraner Identität, sondern auch zwischen Osten und Westen, an deren politischer Grenze man hier jahrzehntelang lag, mit starken Einflüssen aus dem Balkan einerseits und aus dem nahen Venedig andererseits. Mal abgesehen von der jahrhundertlangen Herrschaft der Habsburger, die Triest zum wichtigsten Hafen des Mittelmeerraum für die österreichisch-ungarische Marine machte, war die Stadt Zentrum des italienischen Irredentismus und mit der Machtübernahme der Faschisten unter Mussolini verlor Triest seine Autonomie und wurde italianisiert; Kroaten und Slowenen wurden vertrieben. Nach dem zweiten Weltkrieg verlor Italien die Gebiete von Istrien und Teile von Dalmatien. 300.00 Menschen verließen ihre ehemalige Heimat und ließen sich in Triest nieder. Wie sich die Geschichte umdrehte. Nicht alle Flüchtlinge wurden freundlich aufgenommen. (Die deutschen Flüchtlinge aus Ostpreußen können ebenfalls ein Lied davon singen.)
Seither bemüht sich Triest eine italienische Stadt zu sein und ist stolz auf ihre ausgegrabenen „römischen“ Wurzeln. Nun profitiert Triest auch von der ewigen Rivalin Venedig, das einzelne Kreuzfahrtschiffe „durchlässt.“

Triest, die Stadt des Kaffees. Die Türken hätten 1683 einige Säcke Kaffee vor den Toren Wiens zurückgelassen und das soll die Geburtsstunde des Wiener Kaffeehauses gewesen sein und damit wurde Triest der wichtigste Umschlagplatz für Kaffee: Cittá del Caffè mit der weltweit bekannten Rösterei Illy. Aber nicht wie bleichgesichtige Nordländer „un caffé“ bestellen, sondern in Triest heißt es „un capo in b“ oder „caffé latte.“

Wem es im Sommer in der Stadt zu heiß ist, dem empfehlen die Autoren eine Fahrt mit der „Blauen Tram“ (wenn sie denn wieder fährt), dem geheimen Wahrzeichen von Triest hinauf auf den Karst nach Opicina, auf 350 Höhenmeter über Triest, dann in eine der Buschenschanken auf dem Karstplateau mit dem phantastischen Ausblick auf die Stadt und den Golf von Triest. Der Habsburger-Kaiser Josef II. hatte im Jahr 1784 seine berühmte „Zirkularverordnung“erlassen, die es den Weinbauern erlaubte, ihren Wein an bestimmten Tagen im Jahr direkt zu verkaufen und auszuschenken. Ursprung für die lokale Variante des Heurigen bzw. der Buschenschank/Osmice/Osmize. Auf der anderen Seite der Grenze in Slowenien, damals in Jugoslawien mit seinem sozialistischen Wirtschaftssystem, war kein Platz für Privatinitiativen. Zu verkosten sind Wein, harte Eier, Proschutto und Salumi. Zentrum des Weinbaus am Karst ist Prepotto, den die Triester auch das „Saint Émilion“ des Karsts nennen. Es ist in Friaul-Julisch Venetien eine der führenden Weißweinregionen Italiens. Die Besonderheit ist der „Orange Wein“, ein mazerierter Weißwein.

Architektonisch ist Triest eine wahre Fundgrube, die sich dem „Fortgeschrittenen“ in vielen „Spaziergängen“ durch die Stadt erschließt. Vom Alten Hafen zum Neuen Hafen, vorbei an den zahlreichen Badeanstalten, rund um die „Sacchetta“ und durch den Bezirk SanVito; bis zum heutigen Triest mit seinen „brualistischen“ Wohnmaschinen.
Ein Muss ist der Besuch des Museo Revoltella.

Georges Desrues und Erich Bernard geben mit ihrem einzigartigen Triest-Portrait einer großartigen Stadt Impressionen von deren unbekannten Seiten.

Bewertung vom 15.07.2022
Ende in Sicht
Rönne, Ronja von

Ende in Sicht


ausgezeichnet

Köstlich, Rönnes feiner Spott gemischt mit ebensolchem Humor, menschenfreundlich und sie liebt das LEBEN.
„Treffen sich zwei Lebensmüde…“, nein das ist nicht der Beginn eines Witzes, sondern der Start eines grotesk-melancholisch Roadmovies.

Die 15-jährige Juli ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde. Weder eine Therapie noch das Engagement des alleinerziehenden Vaters konnten ihr weiterhelfen. Jetzt steht der depressive Teenager auf einer sogenannten Grünbrücke, die gebaut wurde, damit "Rehe und Wildschweine nicht der A33 zum Opfer fielen", nicht als "Fallwild" in den "Rädern des Feierabendverkehrs verenden." Juli wird selbst zu Fallwild, stürzt von der Brücke - eher zufällig, weil sie nach ihrer fallenden Schnecke greift und das Gleichgewicht verliert. Juli überlebt und wird von Hella Licht gefunden, die in ihrem altersschwachen Passat noch vor Juli stoppen kann, denn rechtzeitig erkennt sie den verletzten Körper auf der Autobahn und zieht Juli an den Fahrbahnrand. Die bittere Pointe: Die 69-jährige Hella, abgehalfterter Schlagerstar, will ihr freudloses Leben in einer Schweizer Sterbeklinik beenden.

Hella und Juli sind sich nicht sympathisch. Sie streiten, versöhnen und lügen sich an - keine gibt zu, dass sie den Selbstmord geplant hat - finden trotz allem zu großer Ehrlichkeit. Sie lassen sich in einem Nackedei-Spa einsperren und plündern die Bar, es passiert viel Unerwartetes, fast werden sie angezeigt, was sie vor allem komisch finden – und da ist sie, die Hoffnung wohl jedes Depressiven (auch vieler nicht depressiver Menschen): dass etwas von außen geschehen möge, das ihrem Leben eine positive Wende gibt. Oder ist es in „Ende in Sicht“ bereits passiert?

In ihrer Danksagung am Ende des Bandes erklärt die Autorin, dass dieses Buch nicht ohne ihre eigenen Erfahrungen mit Depression entstanden wäre, „nicht wegen, sondern trotz dieser Scheißkrankheit.“ Ihr Dank gilt den Menschen und deren Hilfe „die mich in dunkleren Zeiten aushalten, mir aufhelfen, mich daran erinnern, dass eine kranke Wahrnehmung der Welt noch lange nicht bedeutet, dass tatsächlich alles so schlimm ist, wie es tut“.
Schlussendlich der Tipp zur Webseite der deutschen Depressionshilfe mit angeschlossener Telefonnummer. Hoffentlich ein „Ende in Sicht“.

Bewertung vom 10.07.2022
Sarah Jane
Sallis, James

Sarah Jane


sehr gut

Die einzige Linearität besteht darin, dass der Roman nicht linear ist.

James Sallis skizziert die Welten und Charaktere seiner Protagonisten mit knapper, aber treffender, humorloser Ausdrucksweise. Hinter seinen Sätzen verbirgt sich eine Sensibilität, gekennzeichnet durch Zynismus, Fatalismus und moralischer Mehrdeutigkeit, eben „noir“.

Der Roman handelt von einer Frau, die ihren Platz in der Welt findet, aber ihrer Vergangenheit nicht entfliehen kann. Sallis versprüht tiefe Empathie für zentrale und nebensächliche Charaktere. Sarah begann als 7jährige ein Tagebuch zu führen. Kryptisch und zugleich mit dunkler Spannung ihr Bekenntnis: "Aber ich habe nicht die Sachen gemacht, die man mir andichtet. Zumindest nicht alle."

Zunächst rurales Noir auf Daddys Hühnerfarm und seiner Ansicht von privater Justiz: „Wir stammen aus einer guten Hillbilly-Familie. Wir rufen nicht die Polizei.“ Einer Mutter, die hin und wieder auf unbestimmte Zeit verschwindet. Dieses unstete rastlose Streben wird für Sarah bezeichnender Charakterzug. Mit siebzehn verschwindet sie, setzt sich in den Bus ohne Ziel und Plan, steigt einfach fünfhundert Kilometer weiter wieder aus: Cracker Barn.

Sarah meldet sich nicht ganz freiwillig für einen Militäreinsatz im Irak, kehrt traumatisiert zurück, arbeitet als Köchin, bringt mehrere unglückliche Beziehungen hinter sich, holt ihren Collegeabschluss nach, wird schließlich eine engagierte Polizistin und findet in ihrem Vor­gesetzten und Mentor Calvin ‚Cal‘ Phillips einen Seelenverwandten, dem gegenüber sie sich öffnen und über ihre Vergangenheit sprechen kann. Als Cal plötzlich verschwindet findet sich Sarah unversehens als Sheriff wieder.

Ein Verbrechen, das mehrere Jahre zurückliegt, holt Sarah ein, als ein FBI-Mann auftaucht, um in ihrem Umfeld zu recherchieren. Als er eines Tages mit „professionell“ gebrochenem Genick gefunden wird, sind die Umstände seines Todes schwer zu klären, und Sarah, die mehr ahnt, als sie preisgibt, gerät unter Druck. Ihr junger Kollege KC scheint unter die oberflächliche Kruste blicken zu können.

Bei weitem kein klassischer Krimi, wenn überhaupt, dann mehr philosophische Einlassungen der Protagonisten. Gesprächsfetzen und Gedanken, die ineinanderfließen, Texteinschübe entführen in neue Gegenden und Zeitphasen, das alles ist keine leichte Kost und verlangt vom Leser höchste Konzentration.

Einfach und flüssig zu lesen ist „Sarah Jane“ nicht, aber ein intellektuelles Vergnügen.

Bewertung vom 30.06.2022
Das neue Herz
Wolff, Lina

Das neue Herz


ausgezeichnet

Nonne Lucia, gottgesandte Erlöserin oder des Teufels Killerin.

Eine Schwedin in Madrid. Sie beobachtet eine Frau, die ihren schwerkranken Mann im Rollstuhl liebevoll pflegt. „Die Frau und der Mann sind etwas Seltenes, zwei Menschen, die untrennbar miteinander verbunden sind, durch großes Leid und durch großes Glück.“ Dabei denkt sie an ihre Freundinnen zu Hause, von denen eine „…der Meinung ist, eine Frau, die auf ihre Figur achte, unterwerfe sich dem männlichen Blick, weshalb sie einer so ungehemmten wie stetigen Expansion ihrer Körpermitte freie Bahn lässt.“ Im eigenen Leben der 45-jährigen Bennedith (den Namen erfährt der Leser erst sehr spät?) sieht es auch nicht viel besser aus, im Gegenteil: „Ein Eldorado der Misserfolge, ein Labyrinth aus gescheiterten Beziehungen, und egal welche Richtung sie einschlägt, sie findet keinen Ausweg.“ Sie spricht die Frau an, denn sie sucht „eine Beschäftigung, die ihrem Leben einen Sinn gibt“, und erhält den Job, für den sie aber kein Geld annehmen will.
Der Mittfünfziger Mercuro (gleichnamiger Titel des ersten Kapitels) Cano auf der Suche nach einem Unterschlupf, spricht Bennedith an, ihm einen zu gewähren mit der Aussicht, eine interessante Geschichte zu erzählen, von einer „Paartherapie und der Frau, die mein Leben ruiniert hat. Nennen wir sie die Feministin.“ Schwester Lucia, die Nonne.

Packend die folgende Geschichte: Innerhalb von 24 Stunden in einer fremden Stadt überschlagen sich die Ereignisse, hat Bennedith bereits einen – zwar etwas mitgenommenen, aber immerhin – Mitbewohner und eine Care-Arbeit ohne Gehalt. Mercuros Frau ist herzkrank, sie braucht ein Spenderorgan, um zu überleben. Mercuro wandte sich in seiner Verzweiflung an die Verantwortlichen der Reality Show „Fleisch und Sühne“, die Leuten in ausweglosen Lebenssituationen hilft, aber nur eine im Darknet zu streamende Veranstaltung ist, weil sie teilweise mit illegalen Methoden arbeitet und die Menschen, die ins Studio kommen, bloßstellt bis auf die Knochen. Die über 90-jährige Nonne, Schwester Lucia (die „Feministin“), fungiert als Supervisor, die über die Fälle urteilt, Miss Pink und Mister Blue moderieren die Sendung, deren wesentlicher Bestandteil „die Erniedrigung“ ist. „Am besten schlagen sich Kandidaten, die diese Erniedrigung an sich abperlen lassen wie Wasser an Gänsefedern.“ In Mercuros Fall wurden sein Machotum und seine zahlreichen Affären schonungslos aufgedeckt. Und obwohl er versucht, ein Herz für seine Frau zu organisieren, und seine Ehe retten will, hasst das Publikum ihn laut Umfragen des Senders seit seinem ersten Auftritt. Nun befindet er sich auf der Flucht vor den Sendungsmachern, weil nach deren Plänen er selbst der Spender sein soll.
Die obskure Schlusspointe seines atemlosen Monologs: „Bitte lass mich noch hierbleiben. Ich mache alles, was du willst. Nur Sex kann ich dir nicht versprechen, denn ich befürchte, der ganze Stress hat mir die Potenz geraubt. Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.“ Macho Macho, dazu noch ein spanischer.
Kaum zu glauben, dass beide später ein Liebespaar werden, dass Bennedith einen Mann in Notwehr erschlägt und im Frauengefängnis Alcalá Meco II landet.

Mitte des Romans schlägt Lina Wolff das zweite Kapitel auf: Lucia. In Briefen an Bennedith breitet sie ihre gesamte Biografie in einer Art Lebensbeichte aus. Als sie ein „Erweckungserlebnis“, ‚dass sie jemanden durch die Apokalypse führen solle,‘ für Gottes Anweisung hält, leitet sie für sich die uneingeschränkte Gewissheit ab, in Eigenregie über das Schicksal anderer zu entscheiden.

Lina Wolffs „Das neue Herz“, viel besser die Übersetzung des schwedischen Titels „Köttets tid“ – „Die Zeit des Fleisches“ ist eine enigmatische, bitterböse, tödliche und zugleich witzige Satire auf dystopische reality shows der Zukunft. Wenn das Publikum „Daumen runter“ votet und damit den Tod des Delinquenten fordert.

Sollte Lina Wolffs „Das neue Herz“ verfilmt werden, gibt es für Schwester Lucia nur die

Bewertung vom 22.06.2022
Einsame Entscheidung / Leander Lost Bd.5
Ribeiro, Gil

Einsame Entscheidung / Leander Lost Bd.5


ausgezeichnet

Auch nach dem fünften Band der Lost-Reihe von Gil Ribeiro/Holger Karsten Schmidt ist meine Begeisterung ungebrochen. Die Befürchtungen, dass mit den Fortsetzungsbänden die Qualität abnimmt, hat sich nicht bestätigt, ganz im Gegenteil. Lost in Fuseta „Einsame Entscheidung“ ist der beste Krimi von allen. Gil Ribeiro hat eine Schreibroutine entwickelt mit einem ausgeklügelten Krimiplot, einer stetigen Steigerung der Spannung, mit liebgewonnenen und nicht missen wollenden Charakteren, eine unausgesprochene Zuneigung zur Algarve, einem portugiesischen Lokalkolorit, das nie bieder und geschmacklos wirkt.

Als Einleitung wird das Team der Polícia Judiciária von Sub-Inspektoren Graciana Rosado und Carlos Esteves, die deutschen und spanischen „Leihgaben“ Leander Lost und Miguel Duarte während einer verdeckten Ermittlung vorgestellt. Der Spanier Duarte der Pfau – pavão, Lost kein Freund von extravagantem Kleidungsstil, trotz seinem auffallenden – zumindest für die Einheimischen. Er war Kriminalkommissar in Hamburg – als Deutscher vor fast zwei Jahren für ein Austauschprojekt zur portugiesischen Polizei gekommen; besser gesagt nach Portugal gemobbt, weil in Deutschland wegen seines Aspergersyndroms unverstanden. Soraia Rosado, die Schwester von Graciana Rosado versteht ihn, hat ihn liebgewonnen, beide wohnen in der Villa Elias mit ihrem „Patenkind“ Zara.

Im Stil eines Investigativ Journalisten greift Ribeiro ein aktuelles gesellschaftliches Problem auf und packt es in einen spannenden Krimi: Ein britischer Chemiekonzern hat ein Wunder-Düngemittel „Fairy“ produziert mit wahrhaft phänomenaler Wirkung: Superschnelles Pflanzenwachstum bei reduziertem Wasserverbrauch. Die Sache hat nur einen „klitzekleinen“ Nachteil: Frauen, die diese Pflanzen essen gebären missgebildete Kinder. Der Konzern will die Veröffentlichung dieser Studie betreffend die katastrophalen Wirkungen mit allen Mitteln verhindern. Lost nicht nur dabei, sondern mittendrin. Ein Wettlauf um Leben und Tod beginnt.

Gil Ribeiros „Einsame Entscheidung“ Lost in Fuseta ist mit Abstand der beste Krimi der Lost-Reihe.

Cover Abbildung: Leuchtturm Cabo de Santa Maria auf der Insel Culatra

Bewertung vom 14.06.2022
Verity
Hoover, Colleen

Verity


ausgezeichnet

Was gibt es treffenderes als sich mit einer einsamen Ameise auf seinem Zeh zu vergleichen. „Vielleicht war sie wie ich und mochte andere Artgenossen einfach nicht“, denkt Lowen. Manhattan, ein Paradies für Sozialphobiker.

Sie wird auf jemanden treffen, der noch eine viel größere psychische Delle hat.

Lowen Ashleigh, eine mittelmäßige Schriftstellerin am Rande des finanziellen Ruins, erhält das Jobangebot ihres Lebens, lukrativ, sie nimmt es an. Jeremy Crawford, Ehemann der Bestsellerautorin Verity Crawford hat Lowen beauftragt, die restlichen 3 Bände einer erfolgreichen Serie fertigzustellen. Verity ist seit einem schweren Unfall so beeinträchtigt, dass sie nicht mehr schreiben, bzw. sich überhaupt nicht mehr bewegen kann; ähnlich einem Wachkoma.

Lowen wird von Jeremy eingeladen, einige Zeit im Haus der Crawfords zu verbringen - zwecks Sichtung von Veritys Notizen und Handlungsskizzen für die noch zu schreibenden Bände. Sie entdeckt ein augenscheinlich autobiografisches Manuskript mit verstörenden Enthüllungen und glaubt bald, dass Verity ihre Bewegungsunfähigkeit nur vortäuscht. Das Haus gleicht einer Burg und verströmt eine unheimliche Atmosphäre, Lowens Aufenthalt entwickelt sich zum Horror. Die vermeintlich wahre Autobiographie Veritys ist teuflisch beängstigend.

Colleen Hoover ist mit „Verity“ einen sehr zügig zu lesender packender Spannungsroman mit unerwarteten Wendungen gelungen. Lowen Ashleigh als Ich-Erzählerin schwankt zwischen den Realitäten, was sie liest und der Realität, die sie wahrnimmt.

Das Ende ist unvorhersehbar und es stellt sich die spannende Frage nach der Wahrheit.

Bewertung vom 10.06.2022
Das Chalet
Ware, Ruth

Das Chalet


sehr gut

den französischen Alpen weit über der Baumgrenze zu einem Retreat; In einem Luxus-Chalet „Perce neige“, zu deutsch niedlich „Schneeglöckchen“. Die Gastgeber sind der Koch Danny und das Mädchen für Alles Erin. Damit sind die zwei wichtigsten Personen Liz und Erin genannt, die in unzähligen Kapiteln als Ich-Erzählerinnen den Thriller dominieren.

Das Team ist gespalten in der Frage, ob ihre einst erfolgreiche App „Snoop“ an einen Investor um viel Geld verkauft werden oder ob das Unternehmen eigenständig bleiben soll. Die zwei Gründer von „Snoop“ Topher St. Clair-Bridges und Eva van den Berg sind gegensätzlicher Meinung – Konfliktpotenzial vorprogammiert.

Trotz Lawinengefahr besteht Topher, leidenschaftlicher Snowboarder darauf, dass sich alle auf die Piste begeben - zum Skifahren. Eva fährt auf einer sehr schweren Piste und kehrt von der Skitabfahrt nicht mehr zurück. Der erste Abgang und es sollte nicht der letzte sein. Eine Lawine erreicht das Chalet und zerstört Teile davon und schneidet es von der Umwelt völlig ab. Während noch genug Lebensmittel und Holzvorräte vorhanden sind, nimmt die Zahl der Gäste durch Todesfälle stetig ab. Der Originaltitel „One by One“ ist diesbezüglich viel treffender als der Deutsche.

Ruth Ware charakterisiert die Hipstertypen in sehr überzeugender und treffender Weise, es scheint ihr ein besonderes Anliegen zu sein, diese zu demaskieren. Herausragend jedoch die Darstellung der Liz. Als ob sie nicht bereits als Aschenputtel gezeichnet ist, legt Ware mit jedem Kapitel noch ein Schäufelchen nach bis Liz völlig „arm“-selig scheint. Bis zum Showdown.

Der Schreibstil (die Übersetzung) fördert den Lesefluss, dieser wird durch die atemraubende Spannung und die realitätsnahen Schilderungen gefördert. Es fällt schwer das Buch zur Seite zulegen, ein echter Pageturner.

Ruth Ware kennt sicher die Meisterkrimis von Agatha Christie „Mord im Orientexpress“ und „Tod auf dem Nil“ und wandelt damit auf den Spuren einer unerreichten Krimiikone.