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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ruth Justen
Wohnort: 
Leipzig
Über mich: 
Ich lese für mein Leben gern. Daraus ist "Ruth liest", ein Blog mit kurzen und prägnanten Büchertipps einer leidenschaftlichen Leserin, entstanden. Das Webtagebuch möchte anderen Bücherfreunden Orientierung im riesigen Reich der Belletristik geben. Interessierte können daher nicht nur nach Autoren, sondern auch nach Ländern und Schlagwörtern suchen.

Bewertungen

Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 25.11.2011
Ein guter Ort zum Sterben
Babtschenko, Arkadi

Ein guter Ort zum Sterben


sehr gut

Der Titel "Ein guter Ort zum Sterben" ist Programm. Für die Soldaten der russischen Armee ist der Krieg in Tschetschenien 2000 eine Todesfalle. Schonungslos skizziert der Autor das Kriegsgeschehen aus Sicht der russischen Soldaten. Sie sind hoffnungslos und verängstigt. Und vielleicht gerade deshalb umso gefährlicher für ihre Kriegsgegner. Es ist die ewig gleiche Geschichte vom Kanonenfutter, aber sie ist so packend, lakonisch und traurig erzählt, dass man das schmale Büchlein in einem Rutsch durchliest.

Rowohlt - Berlin Verlag 2009

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.11.2011
Dreckskerl
Kuczok, Wojciech

Dreckskerl


sehr gut

Dreckskerl, so charmant tituliert der alte K. seinen Sohn. Alles klar - denkt der Leser. Aber so einfach macht es der Autor sich und uns nicht.

Er beschreibt in seinem Werk eine Kindheit in Polen nach dem 2. Weltkrieg. Die Verwüstungen des Krieges toben in der Gesellschaft weiter. Die Familien bekriegen sich unter einander. Eine Art Kriegszustand herrscht auch innerhalb der Familie des alten K. Um das eigene Scheitern als erfolgloser Künstler nicht einzugestehen, schlägt er seinen Sohn regelmäßig. Der Junge flieht in einen längeren Kuraufenthalt. Unter der strengen und lieblosen Obhut im Sanatorium sehnt er sich nach seinen Eltern und selbst nach der Peitsche des Vaters. Kuczok rechnet hier mit der polnischen Nachkriegsgeneration ab. Und doch trägt das Buch bei aller Traurigkeit versöhnliche Züge gegenüber den Eltern. Sie haben schreckliche Erlebnisse und Erfahrungen gemacht, die sie und ihre Nachkommen auch weiterhin verfolgen. Ein nachdenklich stimmendes Buch.

Suhrkamp Verlag 2007

Bewertung vom 25.11.2011
Die Erfindung des Lebens
Ortheil, Hanns-Josef

Die Erfindung des Lebens


sehr gut

Die Hauptfigur in Ortheils "Erfindung des Lebens" ist ein Junge, der allein mit seinen Eltern im Nachkriegs-Deutschland aufwächst. Seine drei älteren Brüder sind vor seiner Geburt gestorben. Die Mutter beschließt in ihrer Verzweiflung, nicht mehr zu sprechen. Da Mutter und Sohn eine schwierige Symbiose entwickeln, verfällt auch der Junge in eine selbst gewählte Stummheit. Erst der missglückte Schulstart macht den Eltern die Isolation ihres Sohnes bewusst.

Stück für Stück gelingt es dem Vater, seinen Sohn aus dieser Isolation in ein lebensfrohes Leben zu führen. Auf diesem Weg zeigt der Junge zwei herausragende Talente. Er hat ein außergewöhnliches Gespür für Wörter und für das Klavierspiel. Nur das zweite Talent nehmen alle wahr und so verfolgt er das Karriereziel Konzertpianist. Während des Studiums zwingt ihn eine Sehnenscheidenentzündung zur Aufgabe dieses Ziels. Das stürzt ihn in eine tiefe Krise, aus der er erst heraus kommt, als er sein zweites Talent, das Schreiben, erkennt. So wird er ein erfolgreicher Schriftsteller. Doch fehlt ihm das Liebesglück. Dieses erfährt er als Mann im besten Alter, als er ein Buch über seine Kindheit schreibt.

Ortheil zeigt die tiefen Wunden der Nachkriegsgeneration und ihren manchmal schon verzweifelten Versuch, diese zu verschließen. Wenigstens im Roman gibt es Heilung. Für mich ist das Buch ein starkes Stück deutscher Gegenwartsliteratur.

Luchterhand Literaturverlage in der Verlagsgruppe Random House 2009

26 von 30 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.11.2011
Die Orangen des Präsidenten
Khider, Abbas

Die Orangen des Präsidenten


ausgezeichnet

Irak 1989: Mitten in der Abiturprüfungszeit macht Mahdi eine Spritztour mit seinem Freund Ali. Beide werden von den Schergen des Saddam Hussein Regimes verhaftet und landen für Jahre quasi in der Hölle. Die Hölle endet nicht wirklich mit der Befreiung aus dem Gefängnis, denn draußen tobt 1991 der 2. Golfkrieg. So flieht Mahdi aus dem Irak.

Khider zeichnet mit viel Humor ein Bild vom Irak Ende der 80er und Anfang 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Humor kann den tiefen Ernst der Geschichte jedoch nicht verdecken. Herausgekommen ist eine hoch interessantes Buch voller Empathie und Wärme für seine Protagonisten.

Edition Nautilus 2011

Bewertung vom 25.11.2011
Die Analphabetin
Kristof, Agota

Die Analphabetin


ausgezeichnet

Stell dir vor, du bist ein gebildeter Mensch und musst von einem Tag auf den anderen in ein anderes Land und damit in eine andere Sprache flüchten. Ätzend. Wenn das Schreiben immer schon Teil deines Lebens war, ist es mehr als das, es ist grausam. So geschehen in Agota Kristofs Erzählung "Die Analphabetin" und im waren Leben der Autorin. Dennoch oder gerade deshalb wurde Kristof eine bedeutende Autorin der Schweiz.

Das Bändchen liest sich in einer Stunde und gewährt tiefe Einblicke in den Neubau eines Lebens und die Bewahrung der alten Heimat.

Ammann Verlag 2005

Bewertung vom 25.11.2011
Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Grossman, David

Eine Frau flieht vor einer Nachricht


ausgezeichnet

Politik, Geselschaft und Familie wurden selten so genial verbunden wie in diesem Roman vom israelischen Meister David Grossmann.

Er schildert die Geschichte einer Mutter (Ora), die ihren Sohn Ofer zum Militärtreffpunkt bringt und angesichts der anstehenden Militäroffensive, Angst vor der Nachricht seines Todes hat. Genau vor dieser Nachricht flieht sie auf eine Wanderreise durch Israel gemeinsam mit dem getrennt lebenden Vater ihres Sohnes. Auf dem Weg erzählt sie seinem Vater Avram von der Kindheit und Jugend Ofers. Gleichzeitig erfährt der Leser, wie sich Ora und Avram kennen gelernt haben und welche Traumata sie mit sich führen.

Fast nebenbei reflektiert Grossmann damit die Geschichte der Kriege in Israel ab 1967.

Selten war ein Buch gleichzeitig auch so persönlich. Während Grossmann den Roman verfasste, starb einer seiner Söhne als Soldat am letzten Tag des Libanonkrieges 2006. Vielleicht ist deshalb ein so intensives Werk entstanden.

Carl Hanser Verlag 2009

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.11.2011
Befreiung
Márai, Sándor

Befreiung


sehr gut

1945 ist für die Ungarn ein Jahr der Befreiung und der Gefangennahme zugleich. Daher steht der ungarische Bürger eingeklemmt zwischen zwei Diktaturen im Mittelpunkt von Marais Roman. Ungemein bedrückend zeigt er die Gewalteinwirkungen der beiden Terrorregime vor und nach 1945 auf die Zivilbevölkerung. Man spürt Marais enttäuschte Hoffnungen nach der "Befreiung" durch die Sowjetarmee und ahnt seine Verzweiflung. Nicht umsonst verließ der Autor nach der Niederschrift dieses Buches seine Heimat Ungarn.

Marai ist ein atemloser, beängstigender und beeindruckender Roman gelungen. Zugleich ist es ein mutiges Werk. Wenige haben direkt nach dem Untergang des Dritten Reiches die Kraft gehabt, sich mit den Schattenseiten der Sowjetunion auseinanderzusetzen

Piper Verlag 2010

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.11.2011
Stille Wut
Bizzio, Sergio

Stille Wut


sehr gut

Ein Bauarbeiter wird des Mordes verdächtigt und flieht ins Haus seiner Geliebten, in dem sie als Dienstmädchen arbeitet. Keiner im Haus bemerkt den ungebetenen Gast. Über Jahre verfolgt er von seinem Versteck aus die Bewohner und das Geschehen im Umfeld des Hauses. So wird Jose Maria Zeuge innhäusiger Gewalt und gesellschaftlicher Abgründe jenseits der Mauer. Die Fluchtburg wird zur Grabstätte und das Leben bleibt ungelebt. Traurig, aber traurig schön geschrieben.

DVA 2010

Bewertung vom 25.11.2011
76
Bruzzone, Félix

76


gut

Die zweite Generation ist ein Standardbegriff für alle Shoaforscher. Bruno Bettelheim und seine Kollegen haben immer wieder gezeigt, dass die Kinder der Opfer ebenso traumatisiert sind wie ihre Eltern. Dies gilt nicht nur für die Kinder von Shoaüberlebenden.

Darum lässt Felix Bruzzone Kinder von "Verschwundenen" zu Wort kommen. Die Eltern wurden zur Zeit der Militärdiktatur und Argentinien zwischen 1976 und 1983 verschleppt und ermordet. Die Kinder sind ohne ihre Eltern aufgewachsen. In ihren Erzählungen schildern sie ihre Kindheitserinnerungen. Teils versuchen sie ihre Eltern wenigstens in der Phantasie lebendig zu machen. Immer aber wird deutlich, wie sehr sie die Leere, das Zurückbleiben ohne Eltern bis zum heutigen Tage mindestens prägt meistens quält.

Obwohl leichtfüßig geschrieben, ist das dünne Buch ein schwer zu ertragender Stoff. Was wäre, wenn die eigenen Kinder alleine bleiben?

Berenberg Verlag 2010