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alekto

Bewertungen

Insgesamt 117 Bewertungen
Bewertung vom 09.05.2023
Empusion (eBook, ePUB)
Tokarczuk, Olga

Empusion (eBook, ePUB)


sehr gut

Philosophische Diskurse treffen auf Mystery-Elemente in einem Umfeld toxischer Männlichkeit

Mieczysław Wojnicz reist im Herbst 1913 nach Görbersdorf, um wegen seiner Schwindsucht von Doktor Semperweiß behandelt zu werden. Bis ein Platz im Kurhaus frei wird, wohnt er im Gästehaus für Herren, das von Wilhelm Opitz betrieben wird. Doch schon am Tag nach seiner Ankunft muss Wojnicz bei seiner Rückkehr aus dem Sanatorium die Leiche von Frau Opitz vorfinden, da sie kurz zuvor gestorben ist. Ist das aber wirklich ein Selbstmord gewesen, wie von ihrem Mann behauptet wird?
Protagonist von Empusion ist der junge Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik Mieczysław Wojnicz, aus dessen Perspektive der Roman geschildert wird. Wojnicz fällt es schwer sich in Görbersdorf zu akklimatisieren, da er sich von den sonst anwesenden polnischen Patienten fernhält. Neben den im Jahr 1913 spielenden Ereignissen habe ich Hauptfigur Mieczysław Wojnicz näher kennengelernt, indem Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend beschrieben wurden. Mieczysław ist bei seinem Vater, dem Ingenieur January Wojnicz, groß geworden, weil seine Mutter kurz nach der Geburt gestorben ist. Umsorgt wurde Mieczysław von seiner Kinderfrau Gliceria. Dagegen sind sein Vater und sein Onkel Emil bestrebt gewesen Mieczysław jegliche Verweichlichung auszutreiben.

Die Gruppe, die ebenso wie Mieczysław Wojnicz im Gästehaus für Herren bei Herbergswirt Opitz wohnt, hat Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk abwechslungsreich zusammengestellt. Deren Gespräche arten meist in lebhafte Diskussionen oder ausufernde Vorträge aus. Diese weisen eine beachtliche Bandbreite an Themen auf, die vom Verschwinden der zwei Jahre zuvor aus dem Louvre gestohlenen Mona Lisa, über die erste schriftlich belegte Erwähnung von Hexen in den Fröschen, einer griechischen Komödie von Aristophanes, bis hin zu den Hexenprozessen, in denen die einst in der Umgebung von Görbersdorf lebenden Frauen angeklagt, gefoltert und brutal ermordet worden sind, reichen. So verschieden diese Gespräche beginnen, laufen sie doch immer auf den gleichen Schlusspunkt hinaus, wenn die Männer, die sonst unterschiedliche Standpunkte vertreten, nur über ihr Frauenbild zu einem Konsens gelangen.
Zwar hat Olga Tokarczuk die das Gästehaus bewohnende Männergruppe bei deren Vorstellung noch interessant erscheinen lassen, bald schon hat sich aber bei mir eine gewisse Monotonie eingestellt, indem deren Diskussionen ein sich wiederholendes Ende haben. Bei diesem wird in detaillierter Weise, ohne dass das auf den geringsten Widerstand stößt, die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau, die von Natur aus eine untergeordnete Rolle einnimmt, in allen möglichen Variationen erläutert. Da die daran beteiligten Männer stets gleich lautende Behauptungen aufstellen, die sie weder mit Argumenten untermauern noch konkreten Beispielen belegen können, haben sich diese Gespräche schnell im Kreis gedreht, weil diesen kein neuer Aspekt mehr hinzugefügt wurde. Besser hätte mir gefallen, wenn die Autorin ihre Männergruppe nicht derart eindimensional charakterisiert hätte, indem sie ihnen lediglich diese einseitige, beschränkte Sicht auf die Welt, an der nie der kleinste Zweifel aufgekommen ist, zugestanden hat.

Mit dem abgeschiedenen Görbersdorf, das wegen seiner von den umliegenden Bergen geschützten Lage und seines milden Klimas von Doktor Brehmer ausgewählt wurde, dort sein Sanatorium samt eindrucksvollem Kurhaus zu bauen, hat Olga Tokarczuk die perfekte Kulisse ala “A Cure for Wellness” für ihre Schauergeschichte gefunden. Denn das prächtige Kurhaus erinnert mit seinen roten Backsteinmauern, Kreuzgängen und Türmchen an ein mittelalterliches Schloss und da es abgesehen von der Krypta für Doktor Brehmer keinen Friedhof in Görbersdorf gibt, scheint der Ort trotz seiner Allgegenwärtigkeit dem Tod trotzen zu wollen. Von Beginn an ist Wojnicz mit Mysterien konfrontiert, weil kurz nach seiner Ankunft Frau Opitz, die wohl von ihrem Mann geschlagen wurde, unter nicht näher geklärten Umständen verstirbt, behauptet wird, dass im Wald in Stücke gerissene Leichen gefunden wurde, und Wojnicz selbst in der Nacht merkwürdige Geräusche vom Dachboden kommen hört.
Die ungewöhnliche Kombination von philosophischen Auseinandersetzungen mit Mystery-Elementen fügt sich erst zu einem erstaunlich harmonischen Ganzen. Im weiteren Verlauf überwiegen jedoch die gesellschaftspolitisch oder kunstgeschichtlich angehauchten Diskussionen derart, dass die Handlung des Romans unausgewogen wirkt. Stärker wäre Empusion ausgefallen, wenn Olga Tokarczuk den Mut besessen hätte, ihre Geschichte in einem so düster abgründigen Tonfall zu erzählen, der besser dazu gepasst hätte, und ihren Mystery-Komponenten mehr Raum zu geben. Dabei hätte ich mir insbesondere weitere Informationen zum Hintergrund der rätselhaften Erscheinungen, von denen Görbersdorf heimgesucht wird, gewünscht, da zum Schluss des Romans diesbezüglich einige Fragen bei mir offen geblieben sind.

Bewertung vom 07.05.2023
Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3
Horowitz, Anthony

Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3


sehr gut

Ruhig erzählter, durchdacht konstruierter, wenig spannender dritter Fall für Hawthorne und Horowitz

“Wenn Worte töten” führt den ehemaligen Scotland Yard-Mitarbeiter Daniel Hawthorne und seinen Biografen Anthony Horowitz zum erstmals stattfindenden Literaturfestival auf die Kanalinsel Alderney. Dort sollen Hawthorne und Horowitz Werbung für ihr neues Buch, das zwar noch nicht erschienen ist, machen, um die Zahl der Vorbestellungen anzukurbeln. Bereits vor deren Abflug verhalten sich einige der anderen am Festival teilnehmenden Autoren verdächtig. Vor Ort eskalieren die schwelenden Konflikte zwischen Fernsehkoch Marc Bellamy und dem unsympathischen Sponsor des Festivals Charles Le Mesurier, die sich von früher kennen. Auch die Einwohner von Alderney stehen angesichts der geplanten Hochspannungsleitung, die über die Insel verlaufen soll, unter Strom. Das Zentrum der Aufmerksamkeit bildet Colin Matheson als Kopf des Entscheidungsgremiums, dessen Frau Judith das Festival organisiert. Und dann geschieht ein Mord.

Indem ich die vorigen Bände der Reihe nicht kannte, ist mir der Einstieg in diesen Krimi durch dessen erstes Kapitel erleichtert worden. Darin wird ein beim Verlag angesetztes Meeting beschrieben, da Hawthorne dem Verlag vorgestellt werden soll. Das erweist sich als clevere Idee des Autoren, weil er dabei nebenher seine Hauptfiguren einführen, die Dynamik von deren Beziehung näher beleuchten und auf wesentliche Ereignisse aus den bisherigen Büchern Bezug nehmen kann.
Hawthorne ist lange Zeit als Polizist für Scotland Yard tätig gewesen, bevor er Privatdetektiv geworden ist und nun als Berater bei der Aufklärung schwieriger Verbrechen unterstützt. Anthony begleitet ihn bei seiner Arbeit, um darüber Romane zu schreiben. So ergibt sich eine moderne Version der klassischen Holmes-Watson Konstellation. Dieser Eindruck wird durch Hawthornes eigenwillige Gewohnheiten und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zur Deduktion, die er gleich nach seinem ersten Treffen mit Mitarbeitern des Verlags zur Schau stellt, verstärkt.
Dass Horowitz sich dafür nicht zu schade ist, sich auf die Rolle eines Watson-artigen Sidekicks zu beschränken, ist ein sympathischer Zug. So ist ihm Hawthorne nicht nur bei der Lösung ihrer Fälle überlegen, sondern kommt sogar besser auf dem Literaturfestival an. In der Art, wie der Autor sich selbst in sein Buch hineingeschrieben hat, hat er eine ungewöhnliche Meta-Ebene gefunden, die in ihrer Unterscheidung von Realität und Fiktion konsequent durchgezogen wird. Zudem nutzt der Autor die Gelegenheit während des im Verlag angesetzten Meetings oder Besuchs eines Literaturfestivals kleine Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb mit einfließen zu lassen.

Obgleich sich einige der eingeführten Figuren schon zuvor verdächtig verhalten haben, dauert es recht lang, bis die eigentliche Krimi-Handlung in die Gänge kommt. Als der angekündigte Mord geschieht, der unerwartet brutal ausfällt, ist bereits ein Drittel des Buchs verstrichen. Aber auch danach wollte bei mir trotz des clever konstruierten, gut durchdachten Plots, der mich zum Mitraten animiert hat, nicht so recht Spannung aufkommen. Quasi jede der beteiligten Personen hat Geheimnisse zu verbergen, die erst nach und nach aufgedeckt werden. Gekonnt umgesetzt sind die Hinweise darauf, die vom Autor eingestreut werden. Dabei sind nur bedauerlicherweise an mindestens zwei Stellen Hinweise durch die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche verloren gegangen. Diese liegen im sprachlichen Umgang oder in Wortspielen, die sich in der Form nicht in der deutschen Ausgabe wiederfinden, begründet. Beispielsweise hätte ich als passender empfunden, wenn der Spitzname, den Fernsehkoch Marc Bellamy in Internatszeiten erhalten hat, Teesieb anstelle von Tea Leaf lauten würde.
Dieser Roman sucht Spannung weniger durch actiongeladene Szenen, sondern vielmehr durch die Intensität, die in verschiedenen emotionalen Traumata steckt, zu erzeugen. Dabei will der Autor jedoch zu viel auf einmal, indem jede der auftretenden Figuren ihre Last zu tragen hat, die von Hawthorne enthüllt werden muss. An dieser Stelle wäre weniger mehr gewesen, wenn etwa auf den um eine Undercover-Operation kreisenden Handlungsstrang verzichtet worden wäre. Denn so ist dieser Krimi in seinem letzten Drittel eher zum pflichtschuldigen Abspulen von einer Szene nach der nächsten geraten, die lediglich der schlüssigen Auflösung der zuvor eingestreuten Hinweise dient. Das Drama, das in der Tragik des Lebens nicht nur des Mörders, sondern auch von Zeugen und anderen Beteiligten liegt und diese zu ihren Lügen, Betrügereien und weit schlimmeren Taten getrieben hat, ist für mich nicht greifbar geworden. Dafür hätte diesen Figuren mehr Zeit und Raum gegeben werden müssen. Zudem hätte ich mir gewünscht, dass der Autor den Mut besessen hätte, den in seinem Krimi vorherrschenden Ton insgesamt düsterer ausfallen zu lassen, um die darin eine Rolle spielenden menschlichen Abgründe besser ausloten zu können.

Bewertung vom 03.05.2023
Geschichte für einen Augenblick (eBook, ePUB)
Ozeki, Ruth

Geschichte für einen Augenblick (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnlich kombinierter, in sich nicht ganz stimmiger, abwechslungsreich erzählter Roman

Als Schriftstellerin Ruth am Strand spazieren geht, findet sie dort das angeschwemmte Tagebuch der jungen Nao aus Tokyo. In den Einband von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat Nao ihre Gedanken niedergeschrieben, weil sie wohl nicht mehr lange leben wird. Indem ihr die eigene Vergangenheit bedeutungslos erscheint, entschließt sie sich von ihrer Urgroßmutter Jiko zu erzählen. Die ist eine 104 Jahre alte Zen-buddhistische Nonne, zu der sie ein enges Verhältnis pflegt.

“Geschichte für einen Augenblick” wird aus Sicht von Nao in Gestalt der von ihr verfassten Tagebucheinträge und von Schriftstellerin Ruth geschildert, während eben diese Tagebucheinträge von ihr gelesen werden. Beim Lesen entwickelt sich eine interessante Dynamik zwischen den beiden ungleichen Frauen. Nao spricht in ihrem Tagebuch wiederholt dessen zukünftigen Leser an, obwohl der ihr unbekannt ist. Ruth hingegen versucht den Hintergrund der Tagebucheinträge zu recherchieren, wenn sie mehr über Naos Familie anhand der gegebenen Informationen erfahren will. Ruth googelt etwa, ob Naos Familie zu den Opfer des Tsunami gehört. Denn die erste These, die zum Tagebuch von Ruths Mann Oliver aufgestellt wurde, besagt, dass das als Vorbote des Tsunami-Trifts bei ihnen angekommen ist.
Die Kapitel von Nao geben einen tieferen Einblick in die japanische Lebensweise, etwa in die Pop-Kultur sowie über von Naos Urgroßmutter Jiko gelieferte Erklärungen in buddhistische Weisheiten. In ihren Tagebucheinträgen schreibt Nao ihre Gedankengänge einfach herunter. Erläuterungen dazu werden in Gestalt von diversen Fußnoten nachgeschoben, mit denen Ruth das Gelesene kommentiert. Ihre Anmerkungen betreffen japanischen Gerichte wie Omaraisu, Stadtteile wie Akihabara oder Harajuku, die japanische Höflichkeitsform oder auch die gesundheitlichen Vorteile von Ginkgoblättern. Darüber hinausgehende Ausführungen finden sich in mehreren Anhängen, die sich u.a. mit Zen-Augenblicken oder der Namensgebung japanischer Tempel auseinandersetzen.
Die von Ruth Ozeki in ihrem Roman "Geschichte für einen Augenblick" angesprochenen Themen sind an sich recht tragisch. So schildert Nao zu Beginn die Schicksalsschläge, die ihre Familie erleiden musste, als sie ihr Leben in den USA verloren hat. Eine der Konsequenzen, die das nach sich gezogen hat, ist das grausame Mobbing von Nao in der Schule. Denn sie hinkt im Stoff hinterher, weil sie zuvor nur auf eine amerikanische Schule gegangen ist. Ruth hingegen sorgt sich um ihren erkrankten Mann Oliver, während sie sich mit ihren Memoiren befasst. In diesen verarbeitet sie den Verlust ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter, um die sie sich gekümmert hat. Dennoch ist der Roman eher locker-leicht geschrieben, was dem Drama einen Teil seiner Wirkung nimmt und einen eigenwilligen Touch durch die nebenher einfließenden Zen-meditativen Betrachtungen erhält.

Mit Ende des ersten Teils kippt die Stimmung aber. Der eingangs noch so positive Ton, indem selbst abgründige Themen abgehandelt wurden, wird deutlich düsterer, als das Leid der Tsunami Opfer in eindringlichen, vor Ort aufgenommenen Videos beschrieben wird, die Ruth sich online anschaut. Insgesamt fällt der Roman morbider aus, wenn Nao sich nach einer von ihrer Klasse mit Unterstützung des Lehrers für sie abgehaltenen Totenfeier bemüht ein lebendiger Geist zu werden, um in der Nacht die Mitschüler, die sie gequält haben, heimzusuchen.
Im Verlauf von "Geschichte für einen Augenblick" entwickelt Ruth Ozeki ihre Handlung mehrfach in eine für mich unerwartete Richtung, wenn sie darin überraschende Elemente integriert. Da lässt die Autorin etwa das Milieu der japanischen Pop-Kultur auf Informationen zum Walsterben, Wiederaufforstungsprojekte auf einen nach seinem zu programmierenden Gewissen entscheidenden Algorithmus, im zweiten Weltkrieg ausgebildete Himmelssoldaten auf japanischen Zen-Buddhismus und westliche Philosophie, das systematische Mobbing einer Schülerin auf Mystery-Elemente treffen und wiederholt schlägt die Stimmung um, in der der Roman wiedergegeben wird. Dabei will die Autorin jedoch zu viel auf einmal. Denn es ist ihr leider nicht geglückt ihre so interessante Sammlung unterschiedlichster Themen zu einem in sich stimmigen, übergeordneten Ganzen zusammenzuführen. "Geschichte für einen Augenblick" hätte ich als gelungener empfunden, wenn daraus zwei separate Bücher geworden wären. In einem davon hätten als Historien-Drama mit buddhistisch-philosophisch angehauchter Betrachtungsweise die Lebensgeschichte von Naos Urgroßmutter Jiko und deren Sohn, dem Himmelssoldaten Haruki, behandelt werden können. Ein weiteres Buch hätte ein Coming-of-Age Roman mit besonderer Meta-Ebene und Mystery-Elementen sein können, in dessen Verlauf die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwommen wären, bis diese in die Einbindung quantenmechanischer Theorien gegipfelt hätten.

Bewertung vom 28.04.2023
Ecce Machina (eBook, ePUB)
Sharpson, Neil

Ecce Machina (eBook, ePUB)


sehr gut

Intensiv erzählter Science-Fiction-Thriller mit stimmiger Auflösung und zu ausufernd geratenen Epilog

Paulo Xirau, der vor zwanzig Jahren aus Persien in die Kaspische Republik eingewandert ist, ging zunächst einer einfachen Tätigkeit in einer Konservenfabrik nach. Dann begann sein steiler Aufstieg als Journalist bis hin zu seiner wöchentlich erscheinenden Kolumne in der Kaspischen Wahrheit, die jeder im Land kennt. Doch der hat im Jahr 2210 mit Xiraus Tod bei einer Kneipenschlägerei ein jähes Ende gefunden. Auf Druck der USA und seitens Europa hat das Parlament der Kaspischen Republik seiner Witwe Lily eine Sondergenehmigung erteilt, so dass diese einreisen darf, um die sterblichen Überreste ihres Mannes zu identifizieren. Weil Lily sich nicht frei im Land bewegen soll, bekommt sie für ihren dreitägigen Aufenthalt als Aufpasser Nikolai South, Agent bei der Staatssicherheit, zur Seite gestellt.

Die im Science-Fiction-Roman Ecce Machina von Neil Sharpson entworfene Welt ist geprägt von der wegweisenden Erfindung des Contran. Damit ist es möglich, das Bewusstsein eines Menschen auf einen Server hochzuladen. Auch der umgekehrte Prozess des Downloads in geklonte Körper, die sich mieten lassen, ist schon lange möglich.
Neil Sharpson nutzt die Gelegenheit die seinem Roman zugrunde liegende Ausgangssituation in ein von ihm stark beschriebenes, dystopisches Setting zu entwickeln. Die Handlung spielt in der Kaspischen Republik, in der die letzten wahren Menschen leben. Die hat sich vom Rest der Welt abgeschottet, nachdem sie sich Allem mit dem Contranen in Verbindung stehenden verweigert hat. So idealistisch die Kapische Republik begonnen hat, ist sie längst zu einem totalitären Regime geworden, das seine Macht durch die verbreitete Furcht und die fortwährende Überwachung, der die Kaspier ausgesetzt sind, bewahrt. Die von anderen Regierungen verhängten Embargos haben das Land in Armut gestürzt. Der Hunger, den Protagonist Nikolai South leidet, wird greifbar, wenn sein karges Frühstück aus nur wenigen Crackern besteht. Der allgegenwärtige Mangel lässt jeden Straßenverkäufer zum Spitzel werden, der nur noch damit befasst ist, relevante Beobachtungen seines Umfelds an die dafür zuständigen Institutionen zu melden. Denn von der Regierung wird selbst der kleinste Verrat an der vorherrschenden Ideologie nicht geduldet.

Der Roman wird aus Sicht von Hauptfigur Nikolai South geschildert, der seit bald dreißig Jahren Beamter bei der Staatssicherheit ist. Aufgrund seines fast vollständigen Mangels an Ehrgeiz ist er bislang nur ein einziges Mal befördert worden. Denn nachdem seine Frau Olesja vor zwanzig Jahren während eines plötzlich aufziehenden Sturms ertrunken ist, hat South nur noch das Minimum der ihm auferlegten Pflichten erfüllt, wenn er Dienst nach Vorschrift geleistet hat, und ist sonst möglichst unsichtbar geblieben. Da er weder Familie noch Freunde hat, verbringt er seine Mittagspausen allein am Kai, wo er trotz der herrschenden Nahrungsmittelknappheit die Brotrinde mit den ihn umkreisenden Möwen teilt.
Neil Sharpson lässt zwar philosophische Betrachtungen im Kontext der künstlichen Intelligenz in seinen Roman einfließen, legt aber den Fokus auf dessen Handlung, die einen clever konstruierten, politischen Science-Fiction-Thriller im Umfeld der künstlichen Intelligenz darstellt. Nur auf humorvolle Szenen wie beispielsweise das Abendessen von South mit seinem Vorgesetzten Grier, bei dem dieser die Hälfte des aufgetischten Kartoffelbreis in seinen Taschen verschwinden lässt, hätte ich verzichten können. Denn dadurch wird der düsteren Dystopie, in der das einfache Volk der nahezu absoluten Kontrolle durch die Institutionen der Kaspischen Republik unterworfen ist, nur ein Teil ihrer Wirkung genommen. Auf Ebene der zentralen Figuren erzählt der Autor gleich in mehrfacher Hinsicht eine tragische Geschichte von enttäuschter Liebe und Verrat. Die erreicht ihren emotionalen Höhepunkt, als Protagonist South das in den Geheimnissen seiner Vergangenheit verborgene Drama vollständig begreift. Das wäre für mich ein geeigneter Schlusspunkt unter diesen Roman gewesen, der noch länger hätte nachwirken können, wenn darauf lediglich die schlüssige Auflösung, die das kriminelle Genie Joschik enthüllt, gefolgt wäre. Doch indem Neil Sharpson einen wirklich ausufernden Epilog nachschiebt, der die darauffolgenden Jahrzehnte in der Kaspischen Republik zusammenfasst, übernimmt er sich, wenn er dabei zu viel auf einmal will. Weil darin auch Figuren, die vorher kaum in Erscheinung getreten sind, eine wesentliche Rolle zukommt, sind deren Entwicklungen, die mehrere überraschende Wendungen genommen haben, für mich nur schwer nachvollziehbar gewesen. Auch erreicht die Schilderung dieser Ereignisse, die dem Autor ermöglichen, seinen Roman mit einem gefälligen Ende abzuschließen, nie die tragische Fallhöhe und emotionale Wucht der Kapitel, in denen South seine Vergangenheit begreift und daraus resultierende Entscheidungen trifft.

Bewertung vom 28.04.2023
Going Back - Wo fing das Böse an? (eBook, ePUB)
McAllister, Gillian

Going Back - Wo fing das Böse an? (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnliches Familien-Drama mit Thriller-Elementen und Multiversum-Thematik

Familie Brotherhood, die im Vorort Crosby von Liverpool wohnt, besteht aus Mutter Jen, Vater Kelly und ihrem achtzehnjährigen Sohn Todd. Die Brotherhoods scheinen eine ganz normale Familie zu sein, bis sich kurz vor Halloween die Katastrophe ereignet, als Mutter Jen noch länger wach geblieben ist, um auf ihren Sohn zu warten, der noch nicht nach Hause gekommen ist.
Eine Inhaltsangabe, die mehr über diesen Roman von Gillian McAllister verrät, nimmt zwangsläufig die in den ersten Kapiteln erfolgenden, unerwarteten Wendungen vorweg. Indem mich das Buch über weite Strecken weniger als Thriller, doch mehr als intensiv geschildertes Familien-Drama zu überzeugen wusste, ist Going Back eines der ungewöhnlichsten Bücher, die ich bislang in diesem Jahr gelesen habe. Dabei ist das Highlight sein außergewöhnlicher Ansatz, der diesem Roman einen ganz besonderen Touch verleiht. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht zu dessen Aufbau sagen. Denn gerade an seinem Anfang folgt bei diesem Buch ein Paukenschlag auf den nächsten und diese Twists, deren Effekt umso größer ist, je weniger zuvor darüber bekannt ist, zählen für mich zu den besten in diesem Buch.

Jeder, der sich von diesem Thriller gänzlich überraschen lassen will, sollte ab diesem Punkt in meiner Rezension nicht weiterlesen. In den Mittelpunkt von Going Back stellt Gillian McAllister die Beziehung zwischen Mutter Jen und ihrem Sohn Todd. Deren schwieriges Verhältnis ist von Jens Abwesenheit geprägt. Denn stets hat sie ihrer Arbeit Priorität eingeräumt. Doch dann kommt jene Nacht des von Gillian McAllister als Tag Null benannten 27. Oktobers, der zum Dreh- und Angelpunkt des weiteren Romans werden wird. Da begeht Todd ein schreckliches Verbrechen. Den Schock hat Jen kaum verkraftet, als sie am nächsten Morgen aufwacht, der aber gestern (Tag minus 1) ist.
Damit hat Gillian McAllister ein interessantes Setting für ihren ungewöhnlichen Thriller gefunden. Das erinnerte mich an Zeitschleifen-Filme, erzeugte dabei aber eine ganz eigene Dynamik, indem Jen, anders als das sonst der Fall ist, nicht immer wieder den gleichen Tag durchleben muss, sondern jeden Morgen noch weiter in der Vergangenheit zurück aufwacht. Durch diesen geschickten Schachzug hat Gillian McAllister die Längen, die sich sonst durch allzu häufige Wiederholung eines einzigen Tags einstellen, vermieden.
Stattdessen kann sich die Autorin ganz darauf konzentrieren, das in der von Jen in Frage gestellten Beziehung zu ihrem Sohn begründete, eindringliche Familien-Drama zu schildern. Auch entwickelt sich Jen immer mehr zur Hobby-Detektivin. Denn ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, herauszufinden, wie ihr Sohn zum Täter werden konnte. So erfährt Jen zunächst an jedem Tag etwas Neues, das zur Lösung des Falls beiträgt, ihr aber beim ersten Mal entgangen ist.

Der starke Beginn des Romans hat mich mit der Vielzahl von Mysterien überzeugt, mit denen Jen konfrontiert ist. Dadurch wurde ebenso wie durch die unerwarteten Wendungen Spannung erzeugt. Going Back hatte für mich jedoch Längen in seinem Mittelteil, indem Jens Zweifel erst das Drama intensivieren, dann aber den Punkt erreichen, an dem sie sich im Kreis zu drehen beginnen, wenn diesen kein wesentlicher Aspekt mehr hinzuzufügt wird. Damit meine ich insbesondere die Kapitel, die die Tage behandeln, an denen Jen nichts grundlegend Neues über ihre Familie herausgefunden hat. Der Spannungskurve hätte an diesen Stellen gut getan, wenn die Autorin ihre Geschichte, die sonst mehr zum sich wiederholenden Familien-Drama verkommt als an einen Thriller erinnert, mit stärkerem Fokus auf die übergeordnete Miss Marple-Zeitreisen-Handlung erzählt hätte. So wären unnötige Längen vermieden worden, indem sich der Roman dann mehr auf die Klärung der von Jen zu lösenden Rätsel konzentriert hätte.
Auch der Schluss von Going Back konnte mich nicht vollends überzeugen, da ich den finalen Twist, der da für Jen gänzlich unerwartet gekommen ist, mangels vorhandener Alternativen schon sehr früh habe kommen sehen. Weil Gillian McAllister in ihrem übrigen Roman das Familien-Drama derart in den Mittelpunkt gestellt hat, hätte ich eine Auflösung, die ausschließlich Jens Familie mit einbezieht, als stimmiger empfunden. Indem das von der Autorin gefundene Ende so für mich nicht ganz zum Rest des Romans passen will, hätte sich als Alternative zur Fokussierung auf das Familien-Drama angeboten zuvor eingeführte, interessante Nebencharaktere außerhalb der Kernfamilie von Jen stärker aufzubauen und in die Handlung zu integrieren. Dafür hätten sich neben den in den allerletzten Abschnitten dieses Buchs eine Rolle spielenden Figuren auch der extrem logisch denkende Rakesh Kapoor, der Jens ältester Freund und Kollege ist, Jens Mandantin und Privatdetektivin Gina Davis, die in ihrer Scheidung erst nur die Möglichkeit zur Bestrafung ihres Ehemanns sieht, und der charismatische Kriminelle Joseph Jones angeboten.

Bewertung vom 19.04.2023
Das Böse dahinter
Clark, Tracy

Das Böse dahinter


sehr gut

Abwechslungsreich erzählter Krimi um eine brutale Mordserie in Chicago

Elyse Pratt joggt in der Früh den Riverwalk entlang, als sie eine furchtbare Entdeckung macht. Ihre Schreie wegen der von ihr gefundenen Toten erregen die Aufmerksamkeit von Passanten auf der Brücke, die die Polizei rufen. Und so nimmt Harriet Foster, Detective beim Chicago Police Department, an ihrem ersten Tag nach ihrer Auszeit, mit der eine Versetzung auf eigenen Wunsch einhergeht, an der Seite ihres neuen Partners Jim Lonergan die Ermittlungen in diesem brutalen Mordfall auf.

“Das Böse dahinter” ist der erste Band einer Reihe von Tracy Clark, in der Harriet Foster den Tod von Peggy Birch untersucht. Harriet hat bis auf ihren Job alles verloren. Nachdem ihr Sohn als Teenager von einem Fahrraddieb erschossen wurde, ging ihre Ehe in die Brüche und vor acht Wochen hat ihre beste Freundin und Partnerin Detective Glynnis Thompson Selbstmord begangen, ohne dass sie es hat kommen sehen. So ist an sich noch nicht soweit wieder zu arbeiten. Da lassen die Schwierigkeiten mit ihrem neuen Partner Lonergan, der sich selbst als Polizist alter Schule bezeichnet, nicht lang auf sich warten. Neben der Perspektive von Foster wird der Krimi auch aus Sicht der Zwillinge Amelia und Bodie Morgan erzählt. Als Kinder mussten die Geschwister das Böse entdecken, das ihr Vater Tom vor ihnen im sonst stets abgeschlossenen Keller verborgen hat. Bodie hofft innig, dass sein Vater, den er fürchtet, bereits tot ist. Bodie ist der Loser, der nichts auf die Reihe bekommt, Amelia hingegen eine aufstrebende Künstlerin, die für sich eine komplett neue Lebensgeschichte ersonnen hat.
Nach dem starken Beginn, der von der Joggingrunde von Elyse handelt, hat Tracy Clark mit ihrer abwechlungsreichen Erzählweise, bei der eine Vielzahl unterschiedlicher Themen angeschnitten wird, zu viel auf einmal gewollt. In nur wenigen Kapiteln führt sie die schweren Verluste von Hauptfigur Harriet Foster, die in ihren gegensätzlichen Ansichten begründeten Reibereien zwischen ihr und ihrem neuen Partner Lonergan, die Verbrechen des Vaters von Bodie und Amelia, die aufgrund seiner Hautfarbe erfolgende Diskriminierung und Vorverurteilung des am Tatort aufgefundenen und somit Verdächtigen Keith Ainsley, die das Leben von Peggy Birch dominierenden toxischen Beziehungen und die Proteste der Bevölkerung gegen die Polizei an.

Besser hätte mir der Einstieg gefallen, wenn die Autorin sich mehr auf das Drama darin konzentriert hätte. Dabei hätte insbesondere der Vorstellung von Foster, die nach dem letzten Schicksalsschlag kaum wieder aufstehen konnte, um ihrem Umfeld eine halbwegs heile Fassade vorzutäuschen, mehr Raum gegeben werden müssen. Auch ist die Problematik, die im Fehlverhalten des typischen weißen Cops alter Schule liegt, zwar ein aktuell relevantes Thema, will aber nicht so recht zu den zentralen Elementen der von Tracy Clark erzählten Handlung passen.
In seinem weiteren Verlauf hat der Krimi für mich weniger gut im schwierigen Verhältnis von Foster und ihrem neuen Partner Lonergan, dem politischen Druck, dem Fosters neue Chefin ausgesetzt ist, und in den falschen Spuren funktioniert, die um den Gras Konsum für den Eigengebrauch und den Ausflügen in die Aktivisten-Szene, die die Reform der Polizei in Chicago betreffen, kreisen. Dagegen haben mich die Teile überzeugt, in denen Tracy Clark starke Bilder für den Verlust wie beispielsweise in der entscheidenden Frage, die ihr der Sohn ihrer verstorbenen Partnerin Glynnis Thompson auf der der Feier seines zehnten Geburtstages stellt, gefunden hat. Auch hat mir die Dynamik zwischen Foster und Detective Vera Li gefallen, die ihren Anfang bei einem gemeinsamen Hotdog-Mittagessen nimmt.
Die im Kern um Bodie und seine Familie erzählte Geschichte ist in ihren wesentlichen Punkten clever konstruiert und hätte sich für ein intensiv düsteres Thriller-Drama angeboten, das in Bodies emotionalem Dilemma und unheimlichen Stalking-Szenen glänzt. Weit mehr hätte Tracy Clark aus ihrem Krimi heraus holen können, wenn sie den Fokus ganz auf Bodie, Amelia und Co gelegt hätte. Vom Prinzip her wurde durch die Integration von Bodies Psychiaterin Dr. Mariana Silva die Handlung um eine interessante Komponente erweitert. Die Autorin hat jedoch die Gelegenheit, die sich dadurch geboten hat, mit Dr. Silvas Fachwissen über antisoziale Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und Serienmörder im Speziellen die Ermittlungen von Foster mit fundiertem psychologischem Wissen zu ergänzen, ungenutzt verstreichen lassen. Dabei hätte ich gern auch mehr über die Vergangenheit von Bodie und seiner Schwester Amelia erfahren. Grundlegend sind zwar die Fragen, die ich mir diesbezüglich gestellt habe, mit Ende des Buchs beantwortet. Ich hätte mir aber gewünscht, dass deren Familiengeschichte detaillierter geschildert worden wäre, da das diese für mich nachvollziehbarer hätte werden lassen, wenn ich näher dran an der Tragik in ihrem Leben gewesen wäre.

Bewertung vom 18.04.2023
Seventeen / Die Seventeen Reihe Bd.1
Brownlow, John

Seventeen / Die Seventeen Reihe Bd.1


sehr gut

Schwarzhumoriges Debüt rund um Auftragsmörder und Spione mit Anleihen bei John Wick und Mission Impossible

Jones, besser bekannt als Seventeen, ist der beste Auftragskiller der Welt. Nachdem er gerade einen Job abgeschlossen hat, erreicht ihn der Anruf seines Vermittlers Handler, dass er einen weiteren Auftrag ausführen soll. Und so sucht Seventeen eine Übergabe unter Spionen zu infiltrieren. Dabei sind sein Ziel der Empfänger und die von diesem übernommene Ware, ohne dass er weiß, wer der Mann ist, was das Übergabeobjekt ist und wo diese Übergabe überhaupt stattfinden soll.

Protagonist Jones aka Seventeen, der von John Brownlow während eines Auftrags in Berlin vorgestellt wird, ist ein von sich überzeugtes Arschloch, das das selbst auch gar nicht in Frage stellt. Seine Gedankengänge sind geprägt von seiner derben Sprache und triefen von schwarzem Humor. Seventeen, der seinen Job wie kaum ein anderer beherrscht, zeigt seit neuestem erste Anzeichen dafür ein Gewissen zu entwickeln.
Zu Beginn haben mich zwar die spannenden, da actiongeladenen Szenen überzeugt. Doch ist es mir schwer gefallen einen Zugang zu Jones aka Seventeen zu finden. So habe ich zwar viel über die Art und Weise erfahren, in der er seine Aufträge ausführt. Interessanter wäre jedoch gewesen, wenn ich Seventeens moralische Zwickmühle, in die sein aufkeimendes Gewissen den abgebrühten Auftragsmörder stürzt, hätte nachempfinden können. Und auch die Angst, mit der der draufgängerische Seventeen konfrontiert wird, als er sich seinem legendären Vorgänger Sixteen stellen soll, ist seltsam abstrakt geblieben.
Einen Zugang zur Hauptfigur habe ich erst bekommen, als John Brownlow nach und nach dessen Lebensgeschichte enthüllt hat, die in seiner von Armut gezeichneten Kindheit beginnt. Als Seventeen seine Mutter zu früh verliert, gerät er auf die schiefe Bahn, um noch mehr Leid ertragen zu müssen, bis er endlich den Punkt erreicht, an dem er zum ersten Mal zurückschlägt. Indem er Rache nimmt, schwört er sich, nie wieder als Opfer angesehen zu werden. Insgesamt hat John Brownlow dessen Entwicklung für mich nachvollziehbar werden lassen.

John Brownlow lässt zwar gekonnt erzählt die Vergangenheit von Seventeen wiederholt in gegenwärtige Ereignisse einfließen. Insgesamt schien mir der Autor jedoch mit diesem von ihm beherrschten Schreibstil eher seine Kunstfertigkeit demonstrieren als die Spannung weiter hochtreiben zu wollen.
Besser hätte mir das Buch gefallen, wenn John Brownlow höchstens in einem vorangestellten Prolog, indem er einen Job von Seventeen in Berlin oder einen seiner vielen anderen Aufträge beschreibt, von der chronologischen Erzählweise seiner Geschichte abgewichen wäre. D.h. der Autor hätte mit Seventeens Kindheit bei seiner Mutter Junebug begonnen, um mit seiner ihn traumatisierenden Jugend fortzufahren, bis er dann zum ersten Mal nicht mehr einstecken muss, sondern zurückschlägt und den darauf folgenden, von ihm getroffenen Entscheidungen, die seinen Werdegang bestimmen. Damit wäre der Roman stärker ausgefallen, weil ich von Anfang an eine Beziehung zur Hauptfigur hätte aufbauen können, deren Lebensweg für mich so nachvollziehbar gewesen wäre. So hätte nach der Schilderung von Seventeens Kindheit und Jugend, die mehr Drama als Thriller ist, die Spannung in diesem Roman bis zu dessen Finale weiter angezogen werden können. Und sofern dieser stringente Aufbau für das schriftstellerische, als Autor von Drehbüchern geschulte Können von John Brownlow zu simpel gewesen wäre, hätte er stattdessen parallel die Lebensgeschichte von Seventeen und seinem Vorgänger Sixteen auf zwei unterschiedlich schnell verlaufenden Zeitachsen erzählen können.

John Brownlow punktet mit der interessanten Lebensgeschichte von Seventeen, seinen spannenden Aufträgen und einzigartigen Fähigkeiten, die im Rahmen der von ihm ausgeführten Jobs zum Tragen kommen. Besonders gut kommen letztere im Aufeinandertreffen von Seventeen und seinem ihm überlegenen Vorgänger Sixteen zur Geltung. Dieses Duell erinnerte mich an das Finale des Films Fallout, indem Ethan Hunt August Walker aka John Lark zur Strecke bringt. Anders als in diesem Teil der Mission Impossible-Reihe sind bei John Brownlow die Sympathien nicht so eindeutig verteilt, da Sixteen und Seventeen, die sich so sehr ähneln, dass sie derselbe Typ in einer jüngeren und älteren Version zu sein scheinen, sich nicht in gut und böse unterscheiden lassen.
Der Roman scheitert jedoch am Versuch ein übergeordnetes Auftragsmörder-Universum zu etablieren, wie das etwa die John Wick-Welt prägt. Die Ansätze dafür sind zwar vorhanden, wenn Jones aka Seventeen auf seinem Weg zur Nr. 1 vieles über die Vermittler, Hintermänner und Auftraggeber sowie die Regeln, die in seiner neuen Lebensumgebung gelten, lernt. John Brownlow gelingt es jedoch nicht diese interessanten Ansätze, die immer mal wieder in Seventeens Gedankengängen anklingen, zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen.

Bewertung vom 16.04.2023
30 Tage Dunkelheit (eBook, ePUB)
Madsen, Jenny Lund

30 Tage Dunkelheit (eBook, ePUB)


sehr gut

Ruhig erzählter Krimi mit ungewöhnlicher Meta-Ebene und wenig passendem Humor in der Finsternis Islands

Hannah Krause-Bendix ist als literarische Autorin mehrfach für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert worden, hat aber unter ihrer äußerst überschaubaren Leserschaft zu leiden. Um ihrem Lektor Bastian einen Gefallen zu tun, rafft sie sich zu einer Signierstunde auf der Buchmesse auf. Dort trifft sie auf ihren Erzfeind Jorn Jensen, der in Hannahs Augen der schlechteste Krimi-Autor der Welt ist. Da dessen Bücher sich allerdings hervorragend verkaufen, eskaliert der Konflikt zwischen Hannah und Jorn vor einer immer größer werdenden Menge an Zuschauern und mündet in der Ansage, dass Hannah in nur einem Monat einen Krimi schreiben wird, der besser ist als alle von Jorns bisherigen Werken.

Mit Hannah hat Jenny Lund Madsen eine alles andere als sympathische Protagonistin für ihren Roman ersonnen, die dafür aber umso interessanter ist. Die neurotische Hannah ist auf dem besten Weg zur Alkoholikerin und hat schon lange nichts mehr veröffentlicht. Auch nimmt sie kein Blatt vor den Mund und so trifft ihre scharfe Zunge jeden gleichermaßen. Bei ihrer isländischen Gastgeberin Ella, mit der sie sich nur schriftlich verständigen kann, beginnt sie jedoch allmählich eine andere Seite von sich zu zeigen. Bei Ella hat Hannahs Lektor Bastian sie einquartiert, damit sie dort ihren Krimi schreiben kann. Im kleinen isländischen Dorf Husafjördur soll Hannah die Abgeschiedenheit und Ruhe finden, die sie hoffentlich zum Schreiben inspirieren wird.
Damit hat Jenny Lund Madsen neben einer interessanten Hauptfigur auch eine ungewöhnliche Ausgangssituation für ihren Krimi gefunden. Im weiteren Verlauf erzählt die Autorin ihre eher eigenwillige Geschichte in einem ganz eigenen Tempo, so dass es etwa recht lange dauert, bis die eigentliche Handlung, die um den Mordfall kreist, in die Gänge kommt.
Zuvor ist insbesondere die Meta-Ebene zu etablieren, bei der eine an einem Kriminalroman arbeitende Schriftstellerin auf einen tatsächlichen Mordfall trifft. Nach Hannahs Ankunft in Husafjördur stirbt Thor, der innig geliebte Neffe von Ella, unter rätselhaften Umständen, die zunächst als Unfall deklariert werden. Dabei ist von Jenny Lund Madsen gut umgesetzt worden, wie sich Hannah die Inspiration für ihren Krimi aus der Realität zusammenklaut, indem sie die Recherchen, die sie im Todesfall von Thor anstellt, in ihren Krimi mit einfließen lässt. Ab und an diktiert aber auch Hannahs aktuelle Stimmungslage, was sie schreibt, wenn sie sich etwa den Rachegelüsten an ihrer Nemesis Jorn hingibt. Das gibt dem Roman eine ganz eigene Note.

Im Verlauf des Romans zeigt sich die Meta-Ebene in Gestalt der verstärkten Integration von Jorn in dessen Handlung. In dieser Form funktioniert die eingangs starke Meta-Ebene jedoch weit weniger gut. Das geht dann Hand in Hand mit der Entwicklung, die Hannah in diesem Krimi durchläuft. So dauert das gar nicht lange, bis die in ihrem Zynismus überzeugende Hannah in ihrer Mordermittlung durch ihre neu gewonnene Naivität behindert wird, wenn sie keinem der Dorfbewohner einen Mord zutraut. Diese Veränderung von Hannahs grundlegenden Charakterzügen erfolgte derart rasch, dass sie mir unglaubwürdig erschien. Lediglich ihre Neurosen durfte sie behalten, weil diese als Ausgangspunkt für humorvoll angelegte Szenen dienten.
Der allzu oft recht primitive Humor hat meinen Geschmack etwa beim Willkommensfrühstück nicht getroffen. Teils habe ich Episoden, die herausgestellt haben, wie ungeschickt Hannah als Hobby-Detektivin vorgegangen ist, eher als Klamauk empfunden. Das ist kein Vergleich zum Beginn, bei dem der Schlagabtausch von Hannah und Jorn auf der Buchmesse, noch großes Kino gewesen ist.
"30 Tage Dunkelheit" wäre weit intensiver geraten, wenn der Name dieses Krimis mehr Programm gewesen wäre. Das meine ich weniger im wortwörtlichen Sinn, der von Jenny Lund Madsen als Untermalung der düsteren Stimmung gut umgesetzt wurde. Denn Hannah besucht Island, als die Tage kurz und damit in lang währende Finsternis getaucht sind. Im übertragenen Sinn zeigen sich aber Schwächen. Da hätte ich mir gewünscht, dass die Drama-Teile dieses Krimis statt der humorvollen Szenen, der an der Figur von Jorn aufgehangenen Meta-Ebene und der Romanze hervorgehoben worden wären. Das hätte für mich eine Konzentration auf die Beziehung von Hannahs Gastgeberin Ella zu ihrer Schwester Vigdis und deren Mann Aegir bedeutet. Gelungen sind zwar die konfrontativen Begegnungen von Hannah und Aegir sowie von Ella und Aegir ausgefallen. Dabei hat die Autorin jedoch gerade Vigdis zu wenig Raum gegeben, so dass diese Figur in ihrer Reduktion auf die Rolle der lieben Schwester blass geblieben ist. Das hat der Tragik, die in den lang begrabenen Familiengeheimnissen liegt, einen Teil ihrer Wirkung genommen. Womöglich hätte sich sogar angeboten, mehr Zeit bis zum ersten Mord verstreichen zu lassen, damit Hannah Ellas Familie näher kennen lernen kann.

Bewertung vom 12.04.2023
Der Gemeine Lumpfisch
Beauman, Ned

Der Gemeine Lumpfisch


sehr gut

Abwechslungsreich erzählte, durchdacht konstruierte Dystopie mit Thriller-Elementen im Gewand einer Satire

Karin Resaint hat gerade an Bord der Varuna ihre im Auftrag der Brahmasamudram Mining Company erfolgende Evaluierung, die die Intelligenz des gemeinen Lumpfisches untersucht, abgeschlossen. Doch dann wird sie aus heiterem Himmel im Auftrag von Umweltverträglichkeitskoordinator Mark Halyard in ihrer Kabine festgesetzt und von der Außenwelt abgeschnitten, indem ihr Zugang zum Internet gekappt wird.

Der Roman wird primär aus Sicht von Resaint und Halyard erzählt, die trotz ihrer ungewöhnlichen Lebensläufe erstaunlich blass und mir wohl wegen ihrer karikaturesken Überzeichnung in diesem erst eher als Satire angelegten Roman recht fremd geblieben sind. Daneben mausert sich der Lumpfisch zum heimlichen Star, wenn er über weite Strecken des Buchs zur interessantesten Figur darin wird, obwohl er mit Abwesenheit glänzt.
Für sein in naher Zukunft angesiedeltes Buch entwirft Ned Beauman ein düsteres Szenario über die drohende, ökologische Katastrophe, das weniger gut in den von seinem Humor geprägten, als Satire angelegten Szenen funktioniert, dafür aber in seinen dystopischen Ansätzen überzeugt. Stark ausgefallen ist etwa die Beschreibung der Spindrifter, die besser reflektierende Wolken erzeugen sollten, um der Erderwärmung entgegenzuwirken. Aufgrund unbeabsichtigter Nebeneffekte, die aus keiner Simulation ersichtlich gewesen sind, konnten die jedoch nie in Masse in Betrieb genommen werden und so steuern nur einige als Prototyp konstruierte Spindrifter sich selbst überlassen über die Meere. Im Roman werden die Spindrifter für die eindrucksvolle Eröffnungsszene genutzt, in der sich Resaint an Deck der Varuna vor der Kulisse des durch die Spindrifter erzeugten, aufziehenden Sturms befindet und die jedem Blade Runner-Film zur Ehre gereichen würde. Ähnlich schaut das bei den autonomen Minenfahrzeugen aus, die Belagerungswaffen aus Mad Max sein könnten, aber von der Brahmasamudram Mining Company für den Abbau von Ferromangan-Knollen auf dem Grund des Baltischen Meeres eingesetzt werden.
Ned Beauman erzählt in seinem Roman im Kern eine interessante Geschichte, die durch die unterschiedlichen Stationen, die Resaint und Halyard auf ihrer Suche nach dem gemeinen Lumpfisch durchlaufen, abwechslungsreich gehalten wird. Deren Reise beginnt an Bord der Varuna, führt über das als künstliches Habitat angelegte Sanctuary North, das unter den sich selbst verordneten Sparmaßnahmen zu leiden hat, und über ein finnisches Flüchtlingslager bis nach Surface Wave. Letzteres ist eine künstliche, vor der Küste ankernde Insel, die als Refugium von wohlhabenden Freiheitsliebenden angesehen, aber auch für innovative Forschung genutzt wird, da diese eine von gesetzlicher Regulierung befreite Zone darstellt.

Die Handlung des Romans ist gut durchdacht, indem sich die eingangs noch unabhängig voneinander wirkenden Teile, die der Autor erst nur wegen seine originellen Einfälle, die sein futuristisches Setting bereichern, einzuführen scheint, im weiteren Verlauf zu einem schlüssigen, übergeordneten Ganzen zusammenfügen. Damit hat der starke Schluss einiges für mich rausgerissen und mich für die Längen, die der Roman zuvor leider hatte, entschädigt. Die meisten dieser Längen lagen für mich in den als Satire angelegten Szenen begründet, die ich als nicht sonderlich lustig empfunden habe, aber von Ned Beauman ausschweifend in ihrer Anreicherung um viele unnötige Details wiedergegeben wurden und damit langatmig ausgefallen sind. Der Spannung hätte gut getan, wenn an diesen Stellen mittels einer prägnante Erzählweise deutlich gekürzt worden wäre.
Insgesamt wäre die im Kern dieses Romans erzählte Geschichte besser zur Geltung gekommen, wenn "Der gemeine Lumpfisch" nicht als Satire, sondern als Dystopie angelegt worden wäre. Denn die dafür vorhandenen Elemente habe ich als gelungener empfunden. Dazu zählen die sich fast Leitmotiv-artig durch das Buch ziehenden Spindrifter, deren Auftritt jedes Mal ein Highlight für mich gewesen ist, das von Mücken wie aus einer biblischen Plage heimgesuchte Surface Wave sowie das düstere Finale. Das erinnert in seinem abgründigen Showdown eher an einen Thriller und wird um einen passenden Epilog ergänzt, der moralische Fragen vor dem Hintergrund der von den Protagonisten zu treffenden Entscheidungen aufwirft. So hätte sich die Charakterisierung von Resaint und Halyard, deren Motivation in ihrer Lebensgeschichte begründet liegt, mehr für ein Drama geeignet, indem die Tragik darin betont worden wäre. Halyard, über dem die ihm drohende Haftstrafe wie ein Damoklesschwert hängt, hat früh seine Schwester verloren und ist nach dem Medikament Inzidernil süchtig. Resaint, die ihre Entwicklung von moralischer Abneigung hin zu moralischem Engagement mit einem schwarzen Loch vergleicht, verfolgt diese ohne Rücksicht auf Verluste mit absoluter Konsequenz bis hin zu dem dadurch bedingten unvermeidlichen Ziel.

Bewertung vom 11.04.2023
The Atlas Paradox / Atlas Serie Bd.2 (eBook, ePUB)
Blake, Olivie

The Atlas Paradox / Atlas Serie Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Nicht ganz so gelungene Fortsetzung der Atlas-Reihe mit starkem Schluss

Nachdem im Finale von "The Atlas Six" die Leiche der Physiomagierin Libby Rhodes von Illusionist Tristan Caine als Animatur entlarvt wurde, haben die verbliebenen Atlas Six nach der verschwundenen Libby gesucht. Doch fehlt auch einen Monat später noch jede Spur von ihr. So geht das Leben in der Alexandrinischen Bibliothek weiter und für die verbliebenen fünf Auserwählten steht nun ihre Initiierung bevor. Darüber werden sie von Kurator Atlas Blakely und Forscher Dalton Ellery im Unklaren gelassen, wenn sie lediglich erfahren, dass es sich dabei um eine Art von Spiel ohne Regeln handelt.

Zum Einstieg von "The Atlas Paradox" stellt Olivie Blake umfangreiches Material zur Verfügung. Weil ich den ersten Band der Atlas-Reihe noch ganz gut in Erinnerung hatte, ist mir diese Überleitung auch vor dem Hintergrund, dass die sich in den ersten, aus Sicht der Atlas Six geschilderten Kapitel fortgesetzt hat, ein wenig zu lang geraten. So hat sich Olivie Blake für meinen Geschmack zu viel Zeit damit gelassen, bis die Handlung dann doch noch in die Gänge kommt.
Die aus „The Atlas Six“ bekannte Erzählweise in reihum wechselnden Perspektiven wird im zweiten Band der Reihe nahezu unverändert beibehalten, entwickelt sich dabei immer mehr zum Korsett, das nicht recht passen will und stellenweise der an sich interessanten Geschichte die Luft abschnürt. Denn die sich verschiebenden Allianzen unter den verbliebenen Atlas Six, die nach der erfolgten Initiierung um ihre Forschungsgebiete ringen, ist weit weniger spannend als im Vorgänger ausgefallen, weil dabei die moralische Fallhöhe fehlt, die auf einen Mord an einem von ihnen hinausläuft.
In den nach wie vor als Kammerspiel inszenierten Scharmützel in der Bibliothek tritt die Handlung über weite Strecken auf der Stelle. Daran ändert auch wenig, dass die Protagonisten plötzlich ganz andere Wesenszüge zeigen. Indem die präzise ausgearbeitete Charakterisierung der Hauptfiguren eine der großen Stärken des Vorgängers gewesen ist, wirkte das eher irritierend auf mich.

Um den Roman interessanter zu gestalten, hätte sich angeboten, den zweiten Band der Reihe stärker vom Vorgänger abzugrenzen. Denn als besonders gelungen habe ich "The Atlas Paradox" genau dann empfunden, wenn Olivie Blake die beschränkte Welt der Alexandrinischen Bibliothek hinter sich gelassen hat. Das ist in den Kapiteln von Libby, dem Zeitreisenden Ezra und dem Träumer Gideon der Fall. Dabei entwickelte sich insbesondere Gideon für mich zum Sympathieträger, dessen erstes Kapitel zwar noch stark an Inception erinnert hat. Im weiteren Verlauf schaffte es aber die Autorin ihren Szenen aus der Traumwelt eine ganz eigene Note zu verleihen. Das wird besonders deutlich in Gideons Konfrontation mit Telepathin Parisa.
Spannender wäre "The Atlas Paradox" ausgefallen, wenn Olivie Blake Gideon, Libby und Ezra als Sprungbrett genutzt hätte, um die von ihr in "The Atlas Six" angedeutete, phantastische Welt jenseits der engen Grenzen der Alexandrinischen Bibliothek zu erforschen. Dafür hätten sich die von Gideon erkundeten Traumreiche ebenso wie der Handlungsstrang, der auf einer zweiten Zeitebene in der Vergangenheit angesiedelt ist, angeboten. Leider beweist die Autorin zudem eine Schwäche beim Timing, das sich gerade in der Entscheidung zeigt, von welchen Stunden oder Tagen sie erzählt und welche Ereignisse sie überspringt, um sie dann nur im Rückblick kurz anzuschneiden. Denn dabei werden häufig gerade die spannendsten Stellen ausgelassen wie beispielsweise beim Aufeinandertreffen von Ezra und Libby nach deren Entführung. Da währenddessen in der Bibliothek nicht sonderlich viel passiert, haben sich so Längen eingeschlichen, die hätten vermieden werden können.

Am besten haben mir der letzte Teil "IX Olymp" und das offene Ende gefallen, weil Olivie Blake darin mit einigen überraschenden Wendungen aufzuwarten hatte. Auch die gelungene Umsetzung die Lebensgeschichte einer Nebenfigur aus deren Sicht im Zeitraffer abzuspulen, hat mich überzeugt. Dieser Ansatz ist aus dem ersten in den zweiten Band der Reihe übernommen worden, hebt sich aber vom Vorgänger dadurch deutlich genug ab, dass eine ganz andere Figur in deren Mittelpunkt gestellt wurde.
Im Finale von "The Atlas Paradox" hat die Autorin sogar einen actiongeladenen Showdown untergebracht, der seine eigenwillige Dynamik den magischen Fähigkeiten, die Hexer und Medäer im Kampf einsetzen, verdankt, und der Bibliothek wird das Opfer dargebracht, auf das sie schon lange gewartet hat. Mit Libby, Gideon und Dalton durchlaufen die Figuren, die für mich in diesem Roman am interessantesten gewesen sind, eine glaubwürdig geschilderte Entwicklung, für die die Autorin einen passenden Abschluss gefunden hat. Weil ich die sich in den letzten Kapiteln andeutenden neuen Allianzen teils als unerwartet, teils als vielversprechend empfunden habe, bin ich nun schon auf die Fortsetzung der Atlas-Reihe gespannt.

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