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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 21.01.2023
Taupunkt
Hansen, Thore D.

Taupunkt


sehr gut

Klimawandel - mit uns nicht aufzuhalten, vielleicht zu managen
Vor vier Jahren hatte ich „Die Reinsten“ von Thore D. Hansen gelesen und war begeistert von seiner geschickten Fortschreibung unseres aktuellen Handelns in eine potentielle Zukunft gewesen. Deshalb war es mir eine Freude seinen neuen Klimaroman „Taupunkt“ zu entdecken. Schon das Cover deutet auf ein Inferno, ein Leben mit erdrückender Hitze hin.

Wir begleiten in einer nicht all zu fernen Zukunft eine zerrissene Familie durch einen nicht enden wollenden Hitzesommer mit Temperaturen zwischen vierzig und fünfzig Grad, der viele Feuer begünstigt und nun auch massiv Opfer fordert. Es geht um zwei Brüder, Robert und Tom Beyer, die sich vor Jahren auseinander entwickelt haben, und ihre Töchter im Studentinnenalter, Mareike und Janne, die dementsprechend eine ganz unterschiedliche Kindheit erfahren haben. Das Setting ist recht weitläufig, befindet sich hauptsächlich im Dreieck zwischen zwei landwirtschaftlichen Höfen in Nordfriesland und Brandenburg, die Robert gehören sowie in Berlin, wo Klimaaktivisten unbeirrt weiter demonstrieren, um endlich ein Umdenken bei Regierung und Gesellschaft zu erzeugen.

Robert, der Landwirt, kämpft schon seit Jahren mit der Hitze, seine wirtschaftliche Existenz ist bedroht, er versucht alles, um noch ein bisschen Ertrag aus seinem Land herauszuholen. Für Tom, den Wissenschaftler, der ein Programm entwickelt hat, dessen Durchsetzung die Lebensgewohnheiten der Menschen tiefgreifend verändern wird, geht Roberts Handeln in die falsche Richtung. Janne geht neben dem Studium demonstrieren und Mareike ist genervt von einem Leben mit berühmten Vater, dessen Wissenschaft immer wieder den Finger in die Wunde der Leute legt.

So konstruiert der Autor im Spannungsfeld des Klimawandels einen Mikrokosmos Familie, wo selbige Mechanismen wie auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext greifen, macht widersprüchliche Verhaltensweisen seiner Charaktere transparent, führt uns damit ganz nah an eigene Unzulänglichkeiten, die wir oft gar nicht wahrnehmen, heran. Das Schreckensszenario aus Hitze, Tod und Verbrechen ist beängstigend real erzählt, lies mich nicht nur einmal ins Grübeln kommen.

Letztlich hilft der Roman zu begreifen, dass sich etwas ändern muss, im Kleinen wie im Großen, ausgehend von uns allen. Ich empfehle die Lektüre gern. Lediglich das Ende kam mir zu schnell. Ich habe es lieber, wenn das Ende ausgeprägter oder ganz offen ist.

Bewertung vom 13.01.2023
Beinahe vegan
Kintrup, Martin

Beinahe vegan


sehr gut

Weniger Fleisch und Sahnesoße
Martin Kintrup legt mit „Beinahe vegan“ ein Kochbuch vor, das nicht strikt auf tierische Lebensmittel verzichtet, sondern diese lediglich stark reduziert. Dabei folgt der Autor dem Konzept, 90 Prozent der Kalorien durch pflanzliche Zutaten abzudecken. Das wäre wohl ein zumutbares Level für unseren Planeten.

Ich habe einige Rezepte aus den Kategorien Frühstück, Suppen, Salate und Süßes bereits nachgekocht und kann mich geschmacklich nicht beschweren. Zudem sieht das Ergebnis fast immer ansprechend aus, so dass auch das mitessende Auge sehr zufrieden ist. Die Gestaltung des Kochbuchs ist übersichtlich. Es gibt jeweils eine Spalte, in der die Zutaten mit ihren Mengenangaben enthalten sind. Die Zubereitung selbst ist als textliche Schritt-für-Schritt-Anleitung umgesetzt. Diese war für mich durchgehend leicht verständlich. Dennoch empfehle ich vor der Zubereitung einmal das ganze Rezept zu lesen. Manchmal bietet es sich an, einzelne Schritte vorzuziehen. Angegeben ist zudem eine Zubereitungsdauer. Alle im Buch enthaltenen Rezepte sind auf 4 Personen ausgelegt. Zur Motivation ist von fast jedem Rezept ein Foto eingefügt. Für mein Empfinden hätte man dies ruhig für sämtliche Rezepte tun können, weil ansonsten die unbebilderten Rezepte einen Nachteil in der Zubereitungshäufigkeit haben.

Darüberhinaus habe ich nur wenig Kritikpunkte. Ich hätte mir zu jedem Rezept noch die Angabe des Brennwerts gewünscht, idealerweise aufgeteilt nach pflanzlich und tierisch. Das hätte die Glaubwürdigkeit des 90%-Versprechens erhöht. So hatte ich teilweise den Eindruck, dass doch recht viel Tier verarbeitet wird. Die Tipps für vegane Rezeptvariationen hätten für mich kreativer sein können. Weglassen oder Hackfleischersatz nutzen sind mir zu lapidar. Hinsichtlich der Zutaten wird relativ oft Zucker, wenn auch in überschaubarem Maß, verwendet, obwohl die Gerichte auch ohne diesen Zusatz schmecken. Wer hier achtsam ist, muss halt leichte Anpassungen vornehmen. Dem gegenüber stehen allerdings die Gewürze, die wunderbar kombiniert zum Einsatz kommen. Fast alle hatte ich schon im Haushalt, was ich sehr begrüße. Ich mag es nicht so gern, wenn spezielle Zutaten Platz verschwenden, nachdem eine geringe Menge für ein Einzelrezept benötigt wurde.

Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit diesem Kochbuch. Es motiviert mich wirklich, anders zu kochen und Neues auszuprobieren. Gern empfehle ich es weiter.

Bewertung vom 04.01.2023
Der Kreis
Kizilhan, Jan Ilhan

Der Kreis


ausgezeichnet

Der wahre Glaube
Glaube ist individuell. Wenn nun Glaubensgemeinschaften jeweils von nur einem Gott, nämlich dem eigenen, ausgehen, ist Konfliktpotenzial zwangsläufig. „Der Kreis“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen verschiedenen Religionen zeitgleich mit Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches. Dadurch sind nicht nur religiöse Kräfte, sondern auch koloniale Mächte involviert.

In dieses Umfeld wird Aziza als Jesidin hineingeboren. Ihrer Familie entstammte eine Reihe von Heilern und Heilerinnnen, die den Menschen der umliegenden Dörfer bei Verletzungen, Krankheiten und Geburten mit ihren pflanzlichen Arzneien halfen. Auch Aziza besitzt diese Kraft. Sich selbst vor Verfolgung, Unterdrückung und Gefangenschaft kann sie damit allerdings nicht schützen. Die Zwangsislamisierung ist auf dem Vormarsch, die Jesiden haben eigentlich keine Chance, wenn sie leben wollen. Nachdem Aziza von den Schergen des Sheikh entführt worden ist, muss sie schlimmstes Übel miterleben und sich als Werkzeug des Sheikh benutzen lassen.

Azizas Standhaftigkeit in ihrem jesidischen Glauben macht sie für mich zu einer faszinierenden Persönlichkeit. Eigene Befindlichkeiten stellt sie zurück, damit der ihr Glaube noch ein wenig überdauert. Nachdem ihre gesamte Familie zum Islam übergetreten ist, bleibt ihr lediglich noch Priester Pir Hesman als letzter echter Vertrauter.

Durch seinen sachlich dokumentarischen Tonfall habe ich den Roman sehr gern gelesen, obwohl manche grausame Tat nichts als Ablehnung in mir auslöst. Zudem konnte ich die historischen Ereignisse rund um die Gründung der Türkei und die beteiligten Figuren für mich bewusst ordnen. Ich mochte es sehr, dass der Autor so dicht an der Historie geblieben ist und sich weniger den Leidenschaften seiner Charaktere hingegeben hat. Gleichzeitig schenkt er seinen Figuren genug Persönlichkeit, dass ich sie gern lesend begleitet habe. Selbst die kritischen Figuren wie der Sheikh und Jibrail haben mir von der Darstellung ihres Lebensweges her gut gefallen, weil mir deren Entwicklung realistisch erscheint und der Roman dadurch eine hohe Glaubwürdigkeit generiert.

Ein Roman mit wunderbarem Symbol als Titel, der noch etwas lehrt ohne zu belehren, der die Auswüchse des Konflikts wahrhaftig darstellt ohne Partei zu ergreifen, den zu lesen ich nur empfehlen kann.

Bewertung vom 25.11.2022
Die Sehnsucht nach Licht
Naumann, Kati

Die Sehnsucht nach Licht


ausgezeichnet

Reise in die Vergangenheit
Nach „Was uns erinnern lässt“ und „Wo wir Kinder waren“ habe ich mich sehr gefreut, als ich den neuen Roman von Kati Naumann entdeckt habe. Ich mag ihre Geschichten, die aus dem aktuellen Geschehen heraus den Blick in die Vergangenheit wagen und den Fokus auf ganz bestimmte Gegenden richten. Die Autorin arbeitet mit hoher Sensibilität die kritischen Ereignisse im gewählten Setting heraus und verbindet diese geschickt mit ihren sympathischen Charakteren.

Im neuen Roman bewegen wir uns in der Bergbauregion im Dreieck zwischen Schneeberg, Schlema und Aue, südöstlich von Zwickau. Als jüngstes Mitglied der Bergmannsfamilie Steiner beschließt Luisa für ihre Großtante Irma Nachforschen zu deren einst verschollenen Bruder Rudolf anzustellen. Einmal angefangen, gräbt sie tief in die Familiengeschichte hinein und fördert so manches Geheimnis zu Tage. Ganz nebenbei wird der mehrfache Auf- und Abstieg der Region im Wandel behandelt, zeitweise Kurort, mal sowjetische Besatzungszone, durchgehend mehr oder weniger intensiv ausgebeutete Bergbauregion. Interessant war für mich darüber hinaus die Entwicklung des Gesundheitsschutzes im Bergbau. Mit dem Wissen um heutige Möglichkeiten ist vieles erschreckend. Dennoch gab es einfache Mittel und Regeln sowie den Zusammenhalt der Kumpel, wodurch tatsächlich Leben im noch sehr gefährlichen Bergbau gerettet werden konnten.

Begleitet wird die Familienforschung von Traditionen und Weisheiten der Bergmannswelt. „Ein Bergmann ist ehrlich” und “Wir lassen keinen zurück” seien hier nur beispielhaft genannt. Besonders schön finde ich das allabendliche Anzünden der Leuchter, damit die Bergleute nach Hause finden. Ich stelle es mir schön vor, beim Nachhausekommen die Leuchter im Fenster zu sehen und zu wissen, dass hinter dem Fenster meine liebe Familie auf mich wartet. Darüberhinaus trägt auch das gemeinsame Klöppeln von Spitze und das Geschichtenerzählen zu dieser heimeligen Atmosphäre bei. Insgesamt entsteht ein positives Gefühl von Heimat, dem ich mich bedingungslos hingeben kann.

Summa summarum bin ich mal wieder begeistert von Kati Naumann. Die Geschichte bringt gelesene Wärme in diese kalte Jahreszeit. Wenn man unsere aktuelle Krisenlage mit den beschriebenen Krisen des Schlematals vergleicht, erscheint das eigene Schicksal doch gleich in einem anderen Licht. Als kleines Highlight zwischendurch fügt die Autorin ein verbindendes Element zum Vorgänger-Roman ein, indem sie der kleinen Irma einen Nachziehhund der Firma Langbein an die Hand gibt. Ich liebe so etwas.

Ganz klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.11.2022
Das Gesetz der Natur
Winter, Solomonica de

Das Gesetz der Natur


ausgezeichnet

Außenseiterin oder Retterin in einer dunklen Zeit
Mit dieser faszinierenden Geschichte begeben wir uns in eine nicht allzu ferne Zukunft, bewegen uns im Amerika nach einer enormen Katastrophe. Bildung, speziell das Lesen, ist für die Allermeisten verloren gegangen. Der tägliche Kampf ums Überleben ist in den Vordergrund gerückt.

Mittendrin befindet sich Gaia. Sie lebt fernab der Städte mit zwei Männern und ein paar Tieren versteckt im Wald. Ihr Erscheinungsbild entspricht nicht annähernd der Norm. Es kommt, wie es kommen musste. Sie wird entdeckt und abgeführt. Nur ihre Fähigkeit zu lesen bewahrt Gaia vor dem sicheren Tod. So beginnt für Gaia eine lange Reise, eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod bzw. zwischen Gut und Böse auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt.

Die Atmosphäre ist düster. Das Leben ist wenig attraktiv. Einige wenige Männer beherrschen die Massen. Wer nicht in die Norm passt, gehört zu den Geächteten. Bis auf die Obrigkeit ist die Bevölkerung in Anonymität versunken. Selbst einige Hauptfiguren des Romans sind namenlos. Gaias Reise erinnert an die Heimkehr des Odysseus aus dem Trojanischen Krieg, manche Gegenden, die sie durchquert, haben etwas von Mordor.

Trotz der durchgehend negativen Schwingungen, der Gewalt sowie der vielen Toten, die den Weg der Reisenden pflastern, ist der Roman attraktiv. Vielleicht ist es Gaias Streben nach Gerechtigkeit oder es sind ihre Unterstützer, die sich über Gepflogenheiten der Ächtung hinwegsetzen und Gaia einfach helfen. Auch Gaias Entwicklung ist für mich attraktiv zu verfolgen, nicht weil es eine durchweg positive ist, sondern weil sie glaubwürdig erscheint.

Insgesamt habe ich das Gesetz der Natur gern gelesen. Der Schreibstil beflügelt das Lesen, die Hässlichkeit der Gesellschaft ist in schöne Worte gefasst, die hundertfünfundsiebzig Kapitel jagen nur so dahin. Abschließend schenkt uns die Autorin einen genialen Cliffhanger, sorgt somit dafür, dass ich mit Sicherheit auch den zweiten Teil lesen werde.

Bewertung vom 04.11.2022
Weber's Wintergrillbibel
Weyer, Manuel

Weber's Wintergrillbibel


ausgezeichnet

Die Wintergrillbibel ist ein großformatiges, sehr schön bebildertes „Kochbuch“ für alle Grillfans, die auch im Winter nicht auf ihr Hobby verzichten wollen. Nachdem einige Basics betrachtet sind, werden Würzmischungen, Soßen, Chutneys und Dips thematisiert. Danach kommen die eigentlichen Rezepte, die in passende Kapitel einsortiert sind.

Die Vielfalt, die hier vom Grill geboten wird, ist einfach erstaunlich. Natürlich gibt es zu jeder Fleischsorte Gerichte, auch Fisch und Meeresfrüchte sind mit von der Partie. Besonders sind für mich die Kapitel zu Salaten, Suppen und Backwaren vom Grill. Toll, was alles möglich ist.

Die Rezepte selbst folgen jeweils einer einheitlichen Struktur. Der Rezepttitel wird jeweils von ein paar einleitenden Sätzen, die schon gleich Appetit machen, begleitet. Auch das zugehörige Ergebnisbild sieht lecker aus. Bevor man dann einsteigt in die verständliche Schritt-für-Schritt-Anleitung, kann man sich hinsichtlich Zutaten, Vorbereitungs-, Grill- und Ruhezeit sowie Grillmethoden orientieren. Ergänzt werden die zahlreichen Rezepte mit Geschmacks-Upgrades und weiteren Rezepten für übrig gebliebene Mengen. So gibt es zum Beispiel im Anschluss an die gut zum Weihnachtsfest passende Lammkeule, ein Lamm-Tortilla oder sogenannte Winter Rolls, die das restliche Lammfleisch aufbrauchen. Diesen leckeren Ansatz zur Vermeidung von Verschwendung begrüße ich sehr.

Ich bin schwer begeistert. Mit ein bisschen Muße und Disziplin kann mit diesem Buch wirklich jeder wie ein Profi grillen. Die Rezepte sind nicht nur lecker, sondern sehen auch richtig gut aus. Zudem hat man eine dermaßen große Auswahl an Rezepten, so dass man auch in allen Preiskategorien ansprechende Gerichte findet. Dabei können alte Bekannte unter den Zutaten verwendet werden oder aber neue Sachen wie das Trendgemüse Knollenziest. Einziger Wermutstropfen ist die baldige Erweiterung des eigenen Grillequipments für das perfekte Ergebnis.

Bewertung vom 01.11.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


sehr gut

Die Wogen eines Menschenlebens
Roland Baines ist der Sohn eines Militäroffiziers in Libyen, der mit elf Jahren nach England ins Internat geschickt wird. Getrennt von den Eltern erhält er dort neben der schulischen Ausbildung Klavierunterricht, stellt sich als überdurchschnittliches Talent heraus. Doch einschneidende Ereignisse in der Folge entfremden Roland von seinem Talent und lassen ihn eine Weile ruhelos durch sein Leben irren. Glücklos endet leider auch seine erste Ehe, die sogar mit einem Kind, seinem Sohn Lawrence, gesegnet war.

Wir begleiten Roland sein gesamtes Leben bis ins hohe Alter. Er bewältigt die Hürden des Lebens, jeweils ein bisschen neben der Spur oder ein ein wenig zu spät. Auf mich wirkt Roland zu unentschlossen und wenig motiviert, eigene Wünsche zu formulieren, sich durchzusetzen. Dabei besitzt er mehrere Talente, die Roland aus meiner Sicht hätte weiterverfolgen können. Leider lässt er sich von den Enttäuschungen seines anfänglich jungen Lebens so weit herunterziehen, dass er sein gesamtes Leben unterhalb der sich bietenden Möglichkeiten verbringt.

Trotz seiner allgemeinen Erfolglosigkeit mochte ich Roland irgendwie. Er ist alles andere als ein Strahlemann, aber fürsorglich und ein Familienmensch. Dafür, dass er so jung von der Familie fortgeschickt worden ist, hat Roland sich als Vater und noch mehr als Großvater gut gemacht. Ich mochte zudem seine Gedanken zu seinen eigenen Lebenslagen und zu den jeweiligen Gesellschaftsumständen im Laufe der Zeit.

Ian McEwan bettet die Geschichte um seinen Antihelden Roland Baines in die Weltgeschichte ein, verbindet einzelne Charaktere aus Rolands Umfeld mit berühmten Protagonisten der Historie. So erinnern sich geneigte Lesende an die Weiße Rose, den Blauen Reiter, an die Kuba Krise, die DDR mit dem späteren Mauerfall, an Margaret Thatcher und auch Boris Johnson. Ian McEwan verwebt die wichtigsten historischen Ereignisse vom Zweiten Weltkrieg bis hin zur Corona-Krise geschickt mit dem Leben der kleinen Leute, mit Rolands Leben.

Manchmal erschien mir das Leben des Antihelden etwas langatmig, die Kapiteleinteilung war mir insgesamt zu lang, manchmal mühselig. Aber so ist das Leben, manchmal anstrengend, wenig erfolgreich und eben mühselig. Diese realistische Darstellung hatte was erfrischendes, auch wenn das natürlich weniger Action mit sich bringt und den Lesefluss etwas ausbremst.

Bewertung vom 28.09.2022
Wie wir Menschen die Welt eroberten / Unstoppable Us Bd.1
Harari, Yuval Noah

Wie wir Menschen die Welt eroberten / Unstoppable Us Bd.1


ausgezeichnet

Auf angenehme Art etwas lernen
Der Bestsellerautor Yuval Noah Harari wendet sich mit seinem neuen Werk an ein junges Publikum und setzt sich mit seinen Leser:innen gemeinsam mit der Frage auseinander, wie der Mensch es schaffen konnte, Herrscher auf unserer Erde zu werden.

Er verwendet dafür eine gut verständliche Sprache, ergänzt um ein paar Fachbegriffe, die er bei Einführung gut erklärt. Sogar einzelne lateinische Begriffe finden Verwendung. Das hat mir sehr gut gefallen, weil dadurch die Geschichte der Menschheit auch für die Kinder einen wissenschaftlichen Anstrich bekommt, der gleichzeitig keine Überforderung darstellt. Lediglich die Darstellung des Begriffs „Unternehmen“ war mir für das kindliche Fassungsvermögen etwas zu abstrakt. Besonders gut fand ich die Herleitung der Sapiens-Superkraft.

Neben der Ausrichtung der Sprache auf das Textverständnis mochte ich die direkte Ansprache der Leserschaft. „Kennst Du das auch …?“ oder „Erinnerst Du Dich noch an …?“ sind nur zwei Beispiele. Im späteren Verlauf des Buches wird auch auf Fakten vom Anfang zurückgegriffen, wodurch die Zusammenhänge noch besser herausgearbeitet werden und der Gesamtkontext dauerhaft in Erinnerung bleibt.

Unterstützt wird Hararis Text von ganz wunderbaren Illustrationen. Eine der schönsten hat es aufs Cover geschafft. Hier springen Bär und Löwe flüchtend vor dem Feuer des Menschen regelrecht aus dem Buch. Das hochglänzende Bild auf mattem Schwarzen Grund macht richtig Lust, sofort mit dem Lesen zu starten. Insgesamt schätze ich den Lesestoff für die empfohlene Altersgruppe von 10 Jahren als angemessen ein.

Gern empfehle ich dieses tolle Kinderbuch weiter.

Bewertung vom 22.09.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


gut

Beschwerliches Leseerlebnis
Der neue Roman von Theresia Enzensberger beschäftigt sich mit zwei Frauen, Yada und Helena. Yada wohnt auf einer künstlichen Insel auf See. Diese sogenannte Seestatt wurde einst von ihrem Vater als Abgrenzung zur Welt im Chaos gegründet, die anfängliche Euphorie dafür ist längst verflogen. Die vollständige Selbstversorgung funktioniert nicht, einseitiges Essen ist die Folge. Als Gründertochter mit Zugang zu optimaler Ausbildung wird Yada kritisch beäugt.

Helena hat einst als Experiment versucht, eine Sekte zu gründen, was ihr durch zutreffende Vorhersagen überraschend gut gelungen ist. Das Interesse an ihr ist groß, finanzielle Probleme scheinen ihr fremd zu sein. Trotzdem wirkt sie gelangweilt und irgendwie abgestumpft. In diesem Kontext schlingert die Geschichte zwischen den beiden Hauptcharakteren hin und her. Hin und wieder ist ein Archiv-Kapitel eingefügt, das zu den Geschehnissen einigermaßen passend Wiki-mäßige Abhandlungen zur tiefergehenden Auseinandersetzung beinhaltet.

Diese mäandernde Herangehensweise hat mir das Lesen erschwert. Ich habe überdurchschnittlich lange gebraucht, um diesen Roman eher übersichtlichen Umfangs zu Ende zu lesen. Der stetige Wechsel hat meinen Lesefluss gestört. Die beiden Charaktere waren mir auch nicht wirklich sympathisch, so dass in dieser Hinsicht kein Ausgleich erfolgen konnte. Zudem habe ich nicht verstanden, was die Autorin uns tatsächlich sagen will. Natürlich habe ich wahrgenommen, dass, wenn man es geschickt anstellt, Menschen leicht beeinflussbar sind und einem ggf. überall hin folgen. Darüberhinaus wird auch in diesem Roman die zwangsläufige Erhebung von Eliten über den Rest der eigenen Welt in allen Gesellschaftsformen deutlich. Die gesetzten Regeln und Vorgaben gelten für sie nicht oder nur eingeschränkt. Grundsätzlich hätte ich mir zur Botschaft der Autorin mehr Leserführung gewünscht.

Im Übrigen wird im Roman zeitweise gegendert und obwohl ich mich diesbezüglich anders eingeschätzt hatte, hat es mich gar nicht gestört. Kommt also immer mal wieder auf einen Versuch an.

In Summe konnte ich leider kein richtiges Lesevergnügen empfinden. Die Lektüre war mir einfach zu anstrengend und auch ein stückweit langatmig.

Bewertung vom 13.09.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


sehr gut

Interessanter Blickwinkel, Potenzial nicht ganz ausgeschöpft
Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. Dafür war er schon in jungen Jahren bereit, einen Teil seiner Identität zu verschleiern beziehungsweise zu verbergen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten beginnt die grauenhafte Ära, die den schon viele Jahre vorhandenen Antisemitismus auslebt, die Neid und Missgunst eskalieren lässt.

In diesem Setting erzählt Shelly Kupferberg von ihrem Urgroßonkel Dr. Isidor Geller.
Sie beschreibt seinen Aufstieg, das Verlassen der Heimat. Die Autorin begründet sehr anschaulich die Notwendigkeit, den ursprünglichen Vornamen Israel einzudeutschen und daraus Variationen wie Innozenz, Ignaz oder eben Isidor abzuleiten. Gleichzeitig schildert sie die widersprüchliche Einstellung der hohen jüdischen Gemeinschaft, die vulgären Nationalsozialisten könnten ihnen nichts anhaben. Diesen Glauben an die eigene Überlegenheit finde ich sehr interessant und spannend, weil sie sich sehr gut auf unsere westliche Denke China und Russland gegenüber übertragen lässt.

Den Aufstieg Isidors hätte ich mir etwas liebevoller vom Schreibstil her gewünscht. Ich konnte keine Nähe zu Isidor entwickeln, alles erschien kühl dokumentarisch, irgendwie sachlich. Der Abstand zur Hauptfigur hat mir nicht so gut gefallen. Berührt wurde ich erst, als der Schrecken über Isidor, seine Familie und Freunde hereinbrach. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehr Mitgefühl für alle anderen als für Isidor. Das stimmt mich nachdenklich, weil es diesen Unterschied nicht geben sollte. Schließlich ist allen gleichermaßen immenses Unrecht widerfahren.

Als Highlight habe ich die Verbindung der Geschichte zu dem extravaganten Cover empfunden. Das Reh im Salon war der Grund, warum ich den Roman lesen wollte. Ebendiesem Reh wieder zu begegnen war sehr schön, ein Lichtblick innerhalb des Grauens.

Insgesamt ist der Roman thematisch keine leichte Kost. Ich spreche gern eine Leseempfehlung an alle historisch Interessierten aus, liefert er doch einen interessanten Blickwinkel auf das Geschehen.