Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 09.03.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


gut

Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten.
Die Hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob bittet einen wenig renommierten Schriftsteller ihr Leben in einem Roman zu verarbeiten. Die Geschichte beginnt, als Anouk auf Lenins Befehl hin mit einem Philosophenschiff ins Exil deportiert wird. Wenige Personen der sogenannten Intelligenzija sind mit ihr auf dem völlig überdimensionierten Schiff. Die Crew des Schiffes bleibt für die Passagiere verborgen. Sie haben nur einander, vermuten Spionage, die Stimmung ist von Misstrauen geprägt. Als das Schiff mehrere Tage auf offenem Meer hält, geht die Angst um.

Vor diesem Hintergrund spinnt Michael Köhlmeier eine Story aus historischen Fakten und frei erfundenen Lügen zusammen, die die Erinnerungen der gealterten Anouk Perlemann-Jacob darstellen sollen. Natürlich verändern sich Erinnerungen im Laufe der Zeit, Details gehen verloren, Lücken werden aufgefüllt. Doch in solch extravaganter Ausprägung wie hier sind mir Erinnerungen noch nie begegnet. Ehrlich gesagt hat mich damit der Autor auch ein Stück weit abgehängt, da ich nicht so recht ausmachen kann, was er seiner Leserschaft mit diesem Roman sagen will. Will er alternative Fakten anprangern? Will er auf sich wiederholende Geschichte aufmerksam machen? Vieles ist mir ein Rätsel geblieben. Themen werden angerissen, später nicht weiterverfolgt. Personen, die der Geschichte wenig dienen, nehmen in meiner Wahrnehmung viel Raum ein. Soll unsere Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit widergespiegelt werden oder die ausufernde Phrasendrescherei von Leuten, die eigentlich nichts zu sagen haben? Vielleicht alles davon vielleicht Nichts.

Dabei habe ich die Kapitel einzeln betrachtet, eigentlich ganz gern gelesen. Rein sprachlich hat mich der Roman schon abgeholt. Beeindruckt haben mich die Ausführungen, die Köhlmeier Lenin über Macht sprechen lässt, sowie Stalins Ausführungen über die leichtfertig aufgegebene Freiheit des Volkes, um selbst keine Verantwortung und kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das gibt mir schon zu denken.

Insgesamt ist mir „Das Philosophenschiff“ allerdings zu zerfasert und über weite Strecken auch zu weit weg von historischer Glaubwürdigkeit. Zudem hätte ich mir ein Nachwort oder irgendeine Erklärung gewünscht, die mich nochmal aus anderer Richtung abholt. So bleibe ich nach der Lektüre etwas ratlos zurück.

Bewertung vom 26.02.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


ausgezeichnet

Ich habe wahrscheinlich noch nie ein literarisches Highlight gelesen, das dermaßen unerträgliche, mir körperlich weh tuende Szenen enthält. Obwohl hier sehr bildhaft Abscheulichkeiten der Menschheit herausgearbeitet, beispielsweise Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen beschrieben werden, bin ich begeistert von Grassers Roman. Wie kann das sein?

Markus Grasser beschönigt nicht. Er setzt die Gewalttaten in den Kontext einer Gesellschaft um 1880 und analysiert das damalige Rollenbild. Schließlich bewegen wir uns in einem Umfeld, wo unliebsame Damen, die sich nicht wie gewünscht, devot und angepasst verhalten, als abnormal erklärt und ganz schnell in eine Nervenklinik eingewiesen werden. So eine Dame ist Lillian „Lil“ Cutting, eine Eisenbahnmagnatin mit unkonventionellem Führungsstiel und für ihre Zeit angeblich zu kreativem Investitionsmanagement. Da sie lieber rund um die Uhr an ihrem Unternehmen arbeitet, statt sich auf Partys zu amüsieren, verstößt sie gegen sämtliche gesellschaftlichen Konventionen und hat über die Jahre die gesamte New Yorker High Society gegen sich aufgebracht. Nach dem Tod ihres Gatten nutzt der eigene Sohn die Möglichkeiten des Systems, um Lil in einer Anstalt weg zu sperren.

Die literarische Umsetzung der Entsetzlichkeiten ist genial. Verpackt in eine gehobene Sprache mit teils selten verwendetem Vokabular entsteht eine maximal kritische Auseinandersetzung mit der damaligen New Yorker Gesellschaft. Durch gezielt gesetzte bissige Spitzen wirkt diese Kritik auch in das Hier und Jetzt hinein. Aktuelle Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Misogynie sind passend mit der Handlung verwoben. Die Aufteilung in zwei zeitlich auseinander liegenden Handlungssträngen lässt die Lesenden dieses rasanten Romans inne halten, vorübergehend zur Ruhe kommen, bevor sie von neuerlichen Grausamkeiten überrollt werden.

Dem in mir wohnenden Bösen hat natürlich ganz besonders auch der bereits im Klappentext angekündigte Rachefeldzug gefallen. Das Zusammenspiel lief hier zwar für meinen Geschmack insgesamt etwas zu glatt. Trotzdem musste der Rachedurst gestillt werden.

Insgesamt ein sprachlicher Hochgenuss, der einen zum Lächeln zwingt, wenn es eigentlich nicht angebracht ist.

Bewertung vom 02.02.2024
Die Spiele
Schmidt, Stephan

Die Spiele


ausgezeichnet

Chinesische Interessen an Afrika
In Shanghai tagt ein Kongress zur Vergabe der nächsten Olympischen Sommerspiele. Die Entscheidung soll zwischen Europa und Afrika fallen. Überschattet wird Verhandlungsprozess vom Mord am mosambikanischen IOC-Funktionär Charles Murandi. Motive gibt es im Umfeld des umtriebigen Murandi genug. Da sind die überbordenden chinesischen Interessen, Korruptionsverdächtigungen seitens der deutschen Presse sowie das Schicksal der sogenannten Madgermanes, die als mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR tätig waren und bei ihrer Rückkehr um ihre Zukunft betrogen worden sind.

In gehobener Sprache gewährt uns Stephan Schmidt einen ausschnitthaften Einblick in die chinesische Lebenswirklichkeit. Selbstverständnis und Stolz der Partei treffen auf die tägliche Realität, lassen eine seltsam anmutende Stimmung in der Gesellschaft entstehen, die irgendwo zwischen bevorstehender Revolte und maximaler Obrigkeitshörigkeit verortet ist. Die Ausrichtung an den Leitlinien der Partei scheint ein schier unmögliches Unterfangen, weil zunehmend unklar ist, welche der unbekannten, ungeschriebenen Regeln jeweils gerade gültig sind.

In diesem Umfeld gerät ein Deutscher, Thomas Gärtner, ins Visier der chinesischen Behörden. Mit seiner Einreise via Touristenvisum hat der recherchierende Journalist einen Stockfehler begangen. Im gleichen Hotel ansässig wie der Tote ist die Sache für die Chinesen ziemlich schnell klar. Um die Mordermittlungen herum konstruiert der Autor ein interessantes Verwirrspiel mit leicht offenem Ende. Die Reichweite und Komplexität des chinesischen Einflusses in Afrika sind beeindruckend. Die Verknüpfung des aktuellen Kontexts mit den mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR gekonnt umgesetzt.

Durch die vielen politischen Aspekte ist der als Krimi ausgewiesene Roman natürlich nicht so spannend und Herzklopfen verursachend wie andere, die mit Verfolgungsjagden aufwarten. Hier wird eher mit spannenden Hintergrundinformationen zum immer weiter aufstrebenden China gepunktet, das mit seinen Aktivitäten unser von gewisser Arroganz geprägtes, westliches Wirtschafts- und Lebensmodel ins Wanken bringen kann. Ich hatte geradezu den Eindruck, als würde ich dem erfolgversprechenden Versuch beiwohnen, scheidende Kolonialmächte durch eine mächtigere Neue zu ersetzen.

Insgesamt hat mir der Roman sehr gefallen. Auf mich machte er einen perfekt recherchierten Eindruck. Man merkt, dass sich Stephan Schmidt schon lange mit China auseinandersetzt. Die aus der Fantasie des Autors stammenden Szenen mit den deutschen Politiker:Innen erschienen mit durchaus glaubwürdig, haben mich in dem ansonsten eher ernsten Roman hin und wieder schmunzeln.

Bewertung vom 24.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Da ich durch die Lektüre von „Die Unschärfe der Welt“ Iris Wolff noch in guter Erinnerung hatte, wollte ich selbstverständlich auch ihren neuen Roman lesen. „Lichtungen“ begleitet die seit Kindertagen bestehende Freundschaft zwischen Lev und Kato. An den beiden skizziert die Autorin die Herausforderungen des Lebens in Rumänien zu Zeiten Ceaușescus wie auch nach der Öffnung der sozialistischen Staaten. Die harte Lebenswirklichkeit der Diktatur wird abgelöst durch etwas Neues, das allerdings nicht weniger herausfordernd ist. Abwanderung Richtung Westen ist die Folge. So lichten sich nicht nur die Wälder, in denen Lev als Waldarbeiter tätig ist, sondern auch die umliegenden Dörfer, weil es kaum noch etwas gibt, das die Menschen in Rumänien hält.

Die Aufbereitung der Story hat mich fasziniert. Die Sprache der rückwärts erzählten Geschichte habe ich als eher reduziert empfunden. Doch gerade das Reduzierte und die recht großen Sprünge auf der Zeitachse ließen für mich einen besonderen Reiz entstehen. Sie schaffen Raum für eigene Gedanken und Interpretationen. In diesem Zusammenhang ist es bestimmt hilfreich, wenn man grob in der osteuropäischen Geschichte zu Hause ist, damit man die gesetzten Hinweise nicht verpasst. Obwohl Isis Wolffs Stil vom Standard abweicht, fiel es mir nicht schwer, ihr zu Folgen. Viele Erlebnisse von Lev und Kato konnte ich nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der emotionalen Ebene sehr gut nachvollziehen.

Iris Wolff hat mich mitgenommen in ihre Welt wie auf eine Reise. Am Ende kam es mir vor, als wäre ich selbst Teil der Geschichte gewesen.

Bewertung vom 06.12.2023
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


gut

Anstrengendes Lesevergnügen
Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne hat sie sich hier noch übertroffen. Damit möchte ich den Roman nicht in ein schlechtes Licht rücken, sondern lediglich auf die erforderliche Zeit und Konzetration aufmerksam machen.

Ohne die Stadt Lübeck auch nur ein einziges Mal zu benennen, stellt sie als kleinster Staat des Deutschen Kaiserreichs das Hauptsetting der von 1890 bis 1906 dargestellten Geschichte der Familie Lindhorst dar. Die Familiengeschichte selbst wird sehr detailreich erzählt, die Familienmitglieder treten insbesondere auch aufgrund politischer Verflechtungen mit jeder Menge weiterer Personen in Kontakt. Wir haben es also mit einer hohen Anzahl an Charakteren zu tun, die fast ausschließlich durch ihr Handeln zum Leben erweckt werden. Ihre präzise Optik sowie ihre Gefühlswelt bleiben der Leserschaft weitestgehend verborgen. In diesem Kontext ist es schwierig, sich ein umfassendes Bild von den handelnden Personen zu machen, geschweige denn Nähe zu ihnen aufzubauen. Insgesamt waren es für meinen Geschmack auch zu viele Charaktere.

Obwohl sich der Roman überwiegend entlang des Zeitstrahls bewegt, sind die verschiedenen Zeitschienen nicht gut erkennbar. Es werden ungekennzeichnete Rückblicke eingestreut, die meinen Lesefluss gehemmt haben. Dadurch entstehen Längen, die eigentlich nicht notwendig wären. Denn was mir an „Unsereins“ gefällt, ist die vermittelte Atmosphäre, der Umgang der Leute miteinander, Eltern mit ihren Kindern, Politiker untereinander und mit ihren Angestellten. Interessant auch das Verhalten gegenüber Minderheiten. Es entsteht darüberhinaus ein Eindruck zum Leben seinerzeit an sich, wie beschwerlich es für manche Gesellschaftsschicht war. Amüsant habe ich die Verhaltensregeln in Liebesdingen empfunden. Insgesamt habe ich die Erzählweise ähnlich wahrgenommen wie Gespräche zwischen meinen Großeltern und deren Freunden, denen ich als kleines Kind beiwohnen durfte. Dieses Wecken von Erinnerungen gefällt mir.

Trotzdem kann ich den Roman nicht uneingeschränkt weiterempfehlen. Man muss sich schon sehr darauf einlassen und mehr Lesekapazität als gewohnt investieren.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.11.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


sehr gut

Der rote Papst unter dem Naziregime

Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. Obwohl mir die vielschichtige Betrachtung des Filmemachers Papst grundsätzlich gut gefallen hat, so habe ich doch noch etwas mehr von Kehlmann erwartet.

Überzeugen konnte mich der Autor hinsichtlich der persönlichen Entwicklung von G. W. Papst. Zu Beginn des Romans ist er der erfolgreiche, zwar mit einem Dämpfer in den USA versehene, aber immer noch selbstbewusste Regisseur. Schließlich hatte er dermaßen avantgardistische Filme inszeniert, dass diese zumindest szenenweise zensiert werden mussten. Als er dann aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Ereignissen das Reich nicht mehr verlassen kann und zu Propagandafilmen gedrängt wird, merkt man sukzessive, wie der sozialkritische Rebell in ihm langsam, aber sicher stirbt. Als gegensätzliche Strömung lässt sich ein Verfall des Skrupels beobachten. Am Ende ist jedes Mittel und Opfer recht, das einem ausperfektionierten Film dient.

Gewöhnungsbedürftig habe ich die recht hohe Anzahl an Erzählperspektiven gepaart mit den teilweise ordentlichen Zeitsprüngen empfunden. Beim Übergang in eine neue Perspektive bleibt die Identität des jeweils aktuellen Erzählers recht lange verborgen. So erschließt sich den Lesenden oft erst rückwirkend ein ganzheitliches Bild. Die überwiegende Betrachtung des Protagonisten durch Dritte lässt G. W. Papst zeitweise in den Hintergrund seiner eigenen Geschichte geraten. Er wirkt dadurch unnahbar und wie ein Nerd seiner Zeit. Das entspricht wahrscheinlich sogar der Realität, lässt die Figur allerdings auch überdurchschnittlich unattraktiv und mürrisch erscheinen. Darüberhinaus sind es für mich insgesamt zu viele Charaktere, die im Roman ihren Auftritt bekommen. Die Allermeisten begleiten uns nur kurz, sind nur für die jeweilige Szenerie relevant. Das macht das Lesen dieses sprachlich leichtfüßigen Werkes phasenweise doch irgendwie anstrengend und lässt Längen entstehen.

Sensationell sind im Gegenzug die medial angepriesenen ironischen Spitzen, die Kehlmann in Form von Situationskomik gekonnt ausspielt. Der Lesezirkel, dem Trude Papst beitritt, der nur die Werke des Alfred Karrasch bewundert, sei nur ein Beispiel. Sämtliche derart gestaltete Kapitel habe ich mit viel Freude gelesen, weil sie viel mehr zu weiterführenden Gedanken, auch zum hier und jetzt, anregen, als die Geschichte an sich. Sie gleichen die ein oder andere Schwäche dieses künstlerisch, literarischen Puzzlespiels aus, so das die Lektüre insgesamt als attraktiv bezeichnet werden kann.

Bewertung vom 28.10.2023
Nightbitch
Yoder, Rachel

Nightbitch


ausgezeichnet

Karrierefrau - Mutter - Nightbitch
Ich bin schon länger davon überzeugt, dass Frauen zwar zu Müttern werden können, dass eine Mutter allerdings nie wieder nur Frau sein kann. In diesem Kosmos bewegt sich der unvergleichliche Roman von Rachel Yoder, der sich mit dem Schicksal einer Galeristin auseinandersetzt, die ihren aufregenden Beruf gegen den wenig wertgeschätzten Job der Vollzeitmutter eingetauscht hat. Die Autorin skizziert die Frustration der Mutter hinsichtlich der eigenen Unzulänglichkeiten sowie die kleinen fiesen Störfaktoren zwischen Mutter und Vater, die sich im Laufe der Zeit zu einem riesigen Wutberg auftürmen. Wer, von unendlicher Müdigkeit gequält, schon mal ganz kurz daran gedacht hat, seinem schnarchenden Ehemann ein Kissen ins Gesicht zu drücken, weiß, welches Maß an Wut hier gemeint ist.

Als Betroffene mit etwas Abstand zur letzten Elternzeit kann ich mich köstlich über dieses teilweise groteske Meisterwerk amüsieren, denn die Gedanken der Mutter sind echt, gegenüber anderen Müttern, ob sie nun parallel zur Kinderbetreuung arbeiten oder Vollzeitmütter sind, sowie gegenüber dem Vater des eigenen Kindes. Es ist erstaunlich, welche Nuancen von Hass und Neid Liebe vorübergehend annehmen kann. Unterstützt wird die Komik des Romans durch messerscharfe Formulierungen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, regelrecht unerhört sind.

Die Verwandlung der Mutter in einen Hund, in Nightbitch, steht in meiner Interpretation für das Wilde und Ursprüngliche der Mutterschaft. Die von Nightbitch gerissenen und zu Tode gespielten kleinen Tiere symbolisieren den Schmerz, den Verzicht und all die Sorgen, die das Muttersein mit sich bringt. Obwohl die Nightbitch-Sessions von Gewalt dominiert sind, empfinde ich einen unerklärlich hohen Reiz am Verbotenen.

Erstaunlich ist zudem, dass der Roman bezogen auf die Hauptfiguren auf richtige Namen verzichtet. Mutter, Vater und Sohn sind Bezeichnung genug. Trotzdem ist mir die Mutter bzw. Nightbitch schnell ans Herz gewachsen. Ihr Blick auf das Leben und ihr Kampfgeist haben mich sofort angesprochen. Zwischen den Zeilen findet man die Hemmnisse der Emanzipation, deren Begründung in den unterschiedlichen Erziehungsansätzen für Jungen und Mädchen liegen mag. Es ist ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Für mich war Nightbitch ein bitterböses Lesefest, das mich maximal angemacht hat.

Bewertung vom 20.10.2023
Jenny   Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald   Reclams Klassikerinnen
Lewald, Fanny

Jenny Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald Reclams Klassikerinnen


ausgezeichnet

Aus Versehen war ganz viel Liebe dabei, verdammt schön
Erwartet hatte ich einen Roman über jüdische Identität in einer christlichen Welt sowie über feministische Bestrebungen in einer patriarchischen Welt. Da es sich um eine Klassikerin handelt, hatte ich einen gehörigen Respekt vor Fanny Lewald stilistischer Umsetzung. Über meine Erwartungshaltung hinaus wurde ich positiv überrascht von der mich geradezu überschwemmenden Liebe, die dieser klassische Roman ebenfalls mitbringt. Dabei mag ich eigentlich gar keine Liebesromane.

Doch Sätze aus männlichen Gedanken wie, „Heute, nachdem er sie zwei Tage nicht gesehen, in denen er unaufhörlich an sie gedacht und die heiße Sehnsucht empfunden hatte, heute schien sie ihm schöner und begehrenswerter als je! […] Mit diesem Gedanken hingen seine Augen an ihr, als ihr Blick ihn traf, und das selige Entzücken in ihren Zügen, die glühende Röte, die ihr Gesicht urplötzlich überflogen, gaben ihm eine Antwort, die ihm das Herz aufwallen machte.“, katapultieren auch mich in die erste unaussprechliche Liebe zurück, mit Herzklopfen bis zum Hals, schmachtenden Blicken und geröteten Wangen.

Obwohl ich von der Liebesgeschichte zwischen Jenny und Gustav regelrecht mitgerissen wurde, so lag mein Fokus dennoch eher auf dem Alltagsleben der Juden im 19. Jahrhundert und darüberhinaus natürlich, und wahrscheinlich auch noch stärker, auf den ersten Zügen der Emanzipation der Frau. Speziell durch meinen angestrebten Blickwinkel auf die Geschichte war die Protagonistin Jenny besonders interessant. Aufgrund der Bildung, die ihr der Vater zugestanden hatte, hat Jenny eine Sprachgewandtheit, die ihr eine ebenbürtige Kommunikation bzw. Diskussion mit ihrem Bruder Eduard und dessen Freunden gestattet. Mit ihrem Wissen und ihrer Schlagfertigkeit verdutzt Jenny mehr als einmal ihre Gesprächspartner. Leider geht deren Wertschätzung mit einer reduzierten Wahrnehmung ihrer Weiblichkeit einher. Trotzdem begeistert mich ihr klarer Verstand, ihr Abwägen in Glaubensfragen, ihre mit der Familie abgestimmte Entscheidung, selbst wenn sie diese später zumindest teilweise bereut. Es ist ein Versuch, den eigenen Lebenszielen näher zu kommen und der Diskriminierung zu entgehen.

Aus der Riege der männlichen Figuren mochte ich ich Eduard am meisten. Die mentale Stärke, mit der er sein in Liebesdingen entbehrungsreiches Leben erträgt, ist schon erstaunlich. Er macht sein Schicksal mit sich selbst aus, ohne je so etwas wie Wut oder Enttäuschung an anderen auszulassen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, widmet er sich der Gleichstellung seines Volkes und seiner Berufung zum Arzt.

Um das Geschwisterpaar entwirft Fanny Lewald eine vielschichtige Story mit einer zunächst schwer zu überblickenden Anzahl an Charakteren. Gemeinsame Theaterbesuche sowie Tee- und Abendgesellschaften spiegeln für mich den Zeitgeist wider. Der Roman erscheint mir als Abbild der Gesellschaft. Ihre gesellschaftskritische Auseinandersetzung kombiniert die Autorin geschickt mit einer leidenschaftlichen Liebes-und Familiengeschichte, so dass ihr Werk für unterschiedliche Interessengruppen gleichermaßen attraktiv ist. Fanny Lewald bedient sich einer himmlischen Sprache, die mich oft meine Augen schließen ließ, um ihrer wunderbaren Wortwahl nachzuspüren. Jetzt habe ich doch tatsächlich aus Versehen einen Liebesroman gelesen und bereue nichts, sondern bin einfach begeistert.

Abgerundet wird das Werk mit einem Nachwort von Mirna Funk, die im hier und heute die Damenwelt aufruft, die inzwischen vollständig gewährten Rechte auch unabhängig von Safe Spaces zu nutzen.

Bewertung vom 17.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Ungewöhnlicher Blickwinkel auf ein jüdisches Erbe
Menachem Kaiser ist gleichzeitig Autor und Ich-Erzähler des vorliegenden Sachbuches. Bei Besuchen am Grab des schon lange vor der eigenen Geburt verstorbenen Großvaters, die Menachem Kaiser alljährlich mit seinem Vater begeht, stellt er irgendwann fest, dass er abgesehen von den spärlichen Aussagen des Vaters eigentlich nichts über seinen Großvater weiß. Dementsprechend ist auch seine Gefühlslage dem Großvater gegenüber eher kühl. Als irgendwann Menachems Vater in zwei Nebensätzen preisgibt, dass der verstorbene Großvater erfolglos mehrere Jahrzehnte versucht hatte, seinen Besitz in Polen wiederzuerlangen, war für Menachem eine Challenge losgebrochen. Dabei ist nicht wirklich klar, was genau die Motivation dahinter ist. Wirklich das Haus, der Grund und Boden? Ein Annäherungsversuch an den so fremden Großvater? Oder ein Akt zur Schaffung von Gerechtigkeit für ein Opfer der Schoa?

Was folgt ist eine Odyssee durch das in steter Überarbeitung befindliche Rechtssystem Polens mit einer, Killerin genannten, Rechtsanwältin. Trotz Sprachbarriere und der immensen Distanz zwischen Toronto und Schlesien reist Menachem mehrfach nach Polen, um die Rückforderung des familiären Besitzes auf den Weg zu bringen. Erfolg und Misserfolg seiner Mission sind abhängig von den Spitzfindigkeiten der Rechtsgrundlage. Er besucht die Heimatstadt seines Großvaters Sosnowiec, findet das Haus, spricht mit den Hausbewohnern. Die Gespräche münden in weiteren Kontakten, die dem Suchenden detaillierte Einblicke in das Lagerleben, das überdimensionierte Projekt Riese im Eulengebirge teils auf wissenschaftlich recherchierende Weise teils auf skurrile Weise gewähren.

Bei der Begegnung mit den sogenannten Schatzsuchern gärte in mir die Fragestellung, ob die stolze Präsentation der in den Tunneln von Riese gefundenen Nazigegenstände eine gewisse kulthafte Verehrung derselben darstellt. Das passte für mich so überhaupt nicht zur offenen Kommunikation der Schatzsucher mit Menachem, dem jüdischen Nachfahren. In Kombination mit den verschwundenen Lagern, die seinerzeit zu Groß-Rosen gehörten, entsteht ein seltsamer Eindruck in Richtung Erinnerungsverweigerung gegenüber den Opfern. Fragwürdig war für mich insbesondere die unbefangene Spaßaktion des Schätzesuchens an von Qual und Tod besudelten Orten. Doch was scheinbar fakt ist, muss nicht unbedingt gleichzeitig auch wahr sein. Mit dieser Argumentation hatte ich zunächst maximale Schwierigkeiten. Der Autor setzt sich jedoch dermaßen intensiv mit dieser ethisch moralischen Fragestellung auseinander, das ich inzwischen auch einem anderen Blickwinkel folgen kann. Positiv zu bewerten ist darüberhinaus die schon fast solidarische Hilfestellung der Schatzsucher, die auch Menachems Recherchen beflügeln, ihm Erkenntnisse bringen, die zu Beginn seiner Mission nicht erwartet werden konnten.

Kajzer ist ein schweres Buch, nicht weil es schwer verständlich oder nachvollziehbar ist, sondern weil es die Lesenden zur Auseinandersetzung mit der Schoa zwingt, und zwar über das Leiden und der Ansage: Das darf nie wieder passieren!, hinaus. Der Autor diskutiert mit uns unser heutiges Verhalten in diesem Kontext, das Schweigen und das fehlende Fragen, welches das Schweigen brechen könnte und vieles mehr. Man muss es beim Lesen nur wahrnehmen wollen. Das Buch kratzt am eigenen Gewissen, unabhängig davon, für wie aufgeklärt man sich bisher gehalten hat. Das ist nicht angenehm.

Trotzdem bin ich mehr als nur zufrieden mit der Lektüre. Ich schätze jeden Anstoß zu Reflexion. Leicht kritisch ist lediglich das ein oder andere ausufernde Abschweifen zu betrachten. Obwohl auch diese Exkursionen interessante philosophische Passagen für mich darstellten, so behinderten sie letztlich doch meinen Lesefluss. Hier hätte ich mir weniger Ausführlichkeit gewünscht.

Bewertung vom 23.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Fehlendes Eigentum als Lebenslast
Mit „EIGENTUM von WOLF HAAS“ beschriftet halten wir ein mit Packpapier umwickeltes Päckchen in den Händen. Eine interessante Aufmachung für ein Cover. Nimmt man den Schutzumschlag ab, ist ein altbekanntes Handy mit unendlicher Akkureichweite abgebildet und man fragt sich, was das Ganze zu bedeuten hat. Die Auflösung des Rätsels, sowie die Ausführungen zum Telefonieren an sich sind ein wahres Vergnügen.

Schon von Kindheitsbeinen an musste sich der Ich-Erzähler aus Wolf Haas‘ Eigentum anhören, worauf es im Leben ankommt, auf Arbeiten und Sparen. Grund hierfür ist der Erwerb von Eigentum als Lebensziel, am Besten in Form eines Häuschens im Grünen. Die Mutter des Erzählers ist diesem Traum ihr Leben lang hinterher gelaufen, ohne es je zu erreichen. Jetzt liegt sie im Sterben, ihr Sohn ist bei ihr und blickt auf das Leben der Mutter zurück. Er stellt noch ein paar letzte Fragen.

Die Stimmung im Zimmer der sterbenden Mutter ist dabei gar nicht so betrübt, wie man aufgrund des nahenden Verlusts meinen mag. Die Fünfundneunzigjährige ist bereit, sie freut sich auf ein Wiedersehen mit den längst Verschiedenen. Der Erzähler fokussiert die finanziellen Herausforderungen im Leben der Mutter und hängt der ewigen, früher nervenden Litanei vom Sparen nach.

Aus den kreisenden Gedanken des Erzählers lese ich Selbstironie und ganz viel Liebe für die Mutter heraus. Manche Position löste ein Schmunzeln beim Lesen aus, obwohl oder gerade weil ich ähnliche Gedanken auch gegenüber meinen Eltern hege. Gerade die im Alter schrullig wirkenden Züge machen sie einzigartig und besonders liebenswürdig. Dieser Tenor zieht sich durch den gesamten Roman.

Insgesamt ein kurzweiliges Lesevergnügen.