Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ins_lebenlesen
Wohnort: 
Schleswig-Holstein

Bewertungen

Insgesamt 51 Bewertungen
Bewertung vom 28.01.2024
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Murakami, Haruki

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer


ausgezeichnet

Nein, es war kein Traum. Um eine Definition zu wagen, würde ich sagen: Es war eine Idee, die am Rande der Realität existierte.“ S. 569

Ja, lieber Herr Murakami, so habe ich Ihr neues Buch erlebt! Was red ich! Buch! Es ist Ihre WELT, zu der Sie mir gleich auf den ersten Seiten das Tor geöffnet haben. Es ist nicht mein erster Murakami und es ist, als wäre ich nie fort gewesen. Als hätte ich die Stadt mit der Mauer und ihren Torwächtern, mit dem Kirchturm ohne Zeiger, mit der Bibliothek der alten Träume, gerade erst verlassen. Als hätte ich das namenlose Paar, das sich in ihrer jungen Liebe diese Stadt träumt, schon früher gekannt.

Es ist eine zaghafte erste Liebe, der wir begegnen, stark und doch fast transparent. Das wahre ICH der Freundin des 17jährigen Erzählers lebt hinter den Mauern dieser Stadt. Er will es finden, und so macht er sich auf die Suche, lässt seinen Schatten und sein normales Augenlicht vor den Toren zurück, um sich in dieser merkwürdigen Stadt, in der die Zeit keine Rolle spielt, als Bibliothekar der Träume, als Traumleser nützlich zu machen. Er findet sie, aber hier erkennt sie ihn nicht und in dem zeitlosen Raum kommt er ihr nicht so recht nah. Sein Schatten kann ohne ihn nicht überleben. Bevor es kein Zurück mehr gibt, muss er eine Entscheidung treffen.

„In meinem Kopf tobte ein heftiger Kampf zwischen Wirklichem und Unwirklichem. Ich stand jetzt an der Schwelle zwischen den beiden Welten, an der feinen Schnittstelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, und musste mich entscheiden, zu welcher Welt ich gehören wollte.“ S. 179

Er verlässt die Stadt, die Bindung verblasst, doch die Liebe und die Sehnsucht bleiben. Es beginnt eine lebenslange Suche und eine große Reise, die ihn wieder in eine andere Stadt und in eine andere Bibliothek führt.

Der Fluss der Geschichte zieht sich langsam durchs Gelände. Metaphern säumen den Wegesrand, der Held scheint zeitweise selbst zu einer zu werden.In ihm vermischen sich Traum und Wirklichkeit, Realität und Fantasie, die Grenzen zwischen Körper, Geist und Seele lösen sich auf. Oft wiederholen sich Passagen, werden aus anderen Perspektiven erzählt. Langsam, mit viel Zeit und detailliert. Fast ist mir die Reise zu beschwerlich, doch dann erinnere ich mich, wo ich bin und dass ich nie wieder woanders sein möchte und gehe das Tempo mit. Bis zum großen Finale.

Murakami spielt mit unserem Verstand, tanzt mit Worten und Bildern, lässt uns auch ein schelmisches Lächeln sehen, nimmt sich selbst nicht zu ernst. Dieser Roman hat 40 Jahre gebraucht, um zu dieser Größe zu wachsen, wie er im Nachwort ergänzt. Das spüre ich. Er hat alle Register seines Könnens und seiner Einzigartigkeit gezogen. Er hat vielleicht die magischste und philosophischste aller seiner Welten erschaffen. Er hat sich selbst ein Monument errichtet. Ich wüsste nicht, was nun noch kommen sollte und mit einer melancholischen Stimmung schließe ich das Tor.

„Diese Vorstellung versetzte mich in eine seltsame, stille Traurigkeit, die man als metaphysisch bezeichnen könnte und die sich ein wenig von der Traurigkeit über den Verlust eines Lebenden unterschied. Diese Trauer war nicht schmerzhaft. Es war einfach nackte Traurigkeit.“ S. 408

Kann jemand, der noch nie Murakami gelesen hat, mit meinen Worten etwas anfangen? Ist es vielleicht auch kein Murakami für Einsteiger? Eins ist mir wieder bewusst geworden: Man MUSS Murakami lesen und irgendwann MUSS man dann auch DIESEN Murakami lesen.

Sehr empfehlen kann ich auch das Hörbuch, das der preisgekrönte Synchron- und Hörbuchsprecher DAVID NATHAN eingelesen hat. Und nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass wir dank der großartigen Übersetzungen von URSULA GRÄFE den wohl besten deutschen Murakami haben, den man sich vorstellen kann. Großer Dank!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.01.2024
Salzige Milch
Job, Anna; Pourian, Corinna

Salzige Milch


ausgezeichnet

Wollt Ihr mal ziehen? Na los, ich halte die eine Seite, Ihr zieht an der anderen und dann „Peng!“, das Knallbonbon birst mit einem Zischen auseinander, sprenkelt Perlen, bunte Konfetti und gute Laune in die Luft und … einen Hauch von Melancholie, weil die Freude so schnell vorbei ist.

Das Knallbonbon SALZIGE MILCH von Anna Job (Text) und Corinna Pourian (Illustration) ist erklärtermaßen eine Erzählung. In Schnipseln. (Für einen Blick durchs Buch swipe mal nach links!)

Herrlich bunte, kindlich fröhliche, plakativ naiv gezeichnete Schnipsel. Vorsichtige – ein bisschen ängstliche – in lyrischer Form zusammengehaltene Worte. Die Verbindung von Text und Bild schafft die Dritte im Bunde, die Grafikdesignerin Theresa Schwietzer. Ohne Pause blättere ich mich von Seite zu Seite und tauche ein in das Meer an Gefühlen, das dabei entsteht.

Apropos Meer. Die Liebe zum Meer ist es, die die Geschichte zusammenhält. Das Element, das gleichzeitig Geborgenheit schenkt und Angst macht. Das mal ein „grünes“, mal ein „weißes Monster“ oder „stilles Wasser“ ist, das ehrfürchtig macht, in dem man ertrinken und auf dessen Wellen man den Zauber des Lebens reiten kann. Früher.

Nun reitet die junge Ich-Erzählerin auf den Wellen der Schwangerschaft und des Mutterseins. Begegnet schwerer See und dunklen Tiefen. Aber auch einer unermesslichen Weite und Liebe. Und Ängsten, die sich immer wieder vor ihr auftürmen:

„Zwei Ängste gibt’s. Ich hab die zweite.
Die erste, weil man nicht will.
Die zweite, weil man doch will.“

Und so gibt sie den Zauber des Lebens an „Dich“ weiter, kleiner „Tragling“. Schenkt Dir Fruchtwasser und Muttermilch.

Es ist ein modernes, ein junges und weibliches Buch. Was anmutet wie ein Kinderbuch, ist es nur auf den ersten Blick. Mit wenigen poetischen Worten schafft Anna Job es, die Brüche im Leben und im Muttersein fühlbar und gleichzeitig Mut zu machen. Fröhlichkeit, Leichtigkeit und Lebensfreude dominieren. Melancholie und Doppeldeutigkeit des Textes erwischen einen erst auf den zweiten Blick.

Auch wenn ich thematisch weit entfernt von der Protagonistin stehe, hat mich dieses bunte Buch sehr begeistert und haben die Bilder sich mir eingeprägt. Ich werde es sicher noch oft – und nicht nur an junge (werdende) Mütter - verschenken, denn das ist es: ein Geschenk.

Bewertung vom 07.01.2024
Solange wir schwimmen
Otsuka, Julie

Solange wir schwimmen


sehr gut

Es gibt diese Orte, da sind wir alle gleich: im Schwimmbad und in gewisser Weise auch im Seniorenheim. Es ist egal, wer Du draußen bist, hier bist Du SchwimmerInnen oder dement und ziehst Deine Bahnen über der Tiefe des Beckens oder den Flur des Altersheims, jeweils nach den dort geltenden strengen Regeln, Rhythmen und Abläufen.

Julie Otsuka nimmt uns in diesem außergewöhnlichen Roman mit an beide Orte. Zunächst lernen wir Alice mit beginnender Demenz noch als Teil einer kleinen verschworenen Gemeinschaft im „Schwimmbad unter der Erde“ kennen. Hier ist sie in ihrem Element, leicht und frei, mittendrin und doch für sich allein.
„Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert oder daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. Ihre Armzüge sind lang und fließend, ihr Beinschlag ist kräftig, ihr Geist klar.“ S. 9
Hier ist sie ein Teil des großen – auch erzählenden – WIR. Hier haben WIR „ein Gefühl von Geborgenheit und Ordnung, das uns in unserem Leben oben fehlt.“ Dieses kollektive WIR, mit dem der erste Teil des Romans erzählt wird, schließt mich ein, schwingt mich in einen Rhythmus, der an das ruhige Ziehen gleichmäßiger Bahnen in einem Schwimmbad erinnert und mich in Geborgenheit wiegt.

Bis der Riss im Boden des Beckens auftaucht.

„Vielleicht ist der Riss immer schon dagewesen und hat nur darauf gewartet, sich uns zu zeigen.“ S.39
Der Riss ist natürlich eine Metapher für eine Veränderung und markiert eine Wende in der Geschichte, in der Gemeinschaft, auch im Erzählton und in der Perspektive.

Alice ist nun im Heim und nicht nur sie erlebt einen langsamen Abschied von allem, was einmal wichtig war, allen Erinnerungen, allen Verbindungen, auch denen zur engsten Familie. Was ist es, das bleibt?
„Und mit jeder Erinnerung, die sie abstreifen, werden Sie sich leichter und leichter fühlen. Bald werden Sie vollkommen leer sein, ein Nichts und zum ersten Mal in Ihrem Leben werden Sie frei sein.“
So schonungslos und gleichzeitig zärtlich ist über das Thema Demenz vielleicht nie geschrieben worden. Sehr besondere Perspektiven, dramaturgische und sprachliche Wendungen zwischen Komik und Tragik machen das Lesen zu einem sinnlichen Erlebnis.

Manchmal brauche ich ein bisschen, um mich auf die unterschiedlichen Erzählformen und die damit verbundenen Brüche einzustellen. Auch wenn sich viele Emotionen in mir bewegen, bleiben mir die Menschen, bleibt mir vor allem Alice ein fremdes Wesen. Vielleicht ist das eine beabsichtigte Wirkung, denn Alice wirkt isoliert in der Welt, von der sie gleichzeitig ein Teil bleibt.
Es bleibt für mich ein schöner, einfühlsamer leiser Text mit einem sehr fließenden, sanften Rhythmus und einer neuen Perspektive auf ein Thema, das Mut braucht, sich damit auseinanderzusetzen.

Bewertung vom 03.01.2024
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

„Du hast gern Witze über den Tod gerissen, solange er Dir unwahrscheinlich vorkam, wie er uns allen vorkommt, bis wir eines Besseren belehrt werden.“ S.164

Seit langem hat kein Buch so ambivalente Gefühle in mir ausgelöst wie DIE SIEBE MONDE DES MAADI ALMEIDA des Sri-Lankers Shehan Karunatilaka. Ich schwebe mit den Geistern dieser Geschichte über dem Boden der Realität, durch die wie Skulpturen geformten Sätze und erarbeite mir gleichzeitig die Hintergründe des Bürgerkriegs in Sri Lanka, der von 1983 bis 2009 sämtliche Ethnien, Religionen, Weltmächte und sonstige Interessengruppen auf den Plan rief, um sich blutig mit einer Bilanz von wahrscheinlich 100.000 Toten zu bekämpfen.

Wir sind im Jahr 1990 und mittendrin in diesem Krieg. An Möglichkeiten zu sterben, mangelt es für jemanden wie Maali Almeida „[Kriegs]Fotograf, [Glücks]Spieler, [schwule]Schlampe“ nicht. Er ist verwirrt, als er in einer bürokratisch organisierten Zwischenwelt erwacht mit tausenden Halbtoten, die mit Verletzungen, verbrannten Kleidern und leeren Blicken den Ausgang ins ewige Licht suchen. Sieben Monde, sieben Nächte hat Maali Zeit, sich aus dieser Welt zu befreien, um ins Jenseits einzutreten. Doch er ist noch nicht bereit. Er muss die Frage klären, wie es so weit kommen konnte, dass er hier zerfetzt und blutverschmiert durch eine Vorhölle stolpert. Wer hat ihn getötet und warum?

Durch die Perspektive des Toten, der sich auf Winden der Erinnerung mit derbem Humor durch das Reich der Geister und der Lebenden bewegt und sich selbst als „Du“ seine Geschichte erzählt, bekommt dieser Roman eine ganz besondere Dichte. Karunatilaka schenkt nicht nur Maali mehrere Stimmen, sondern auch all den Toten, die dieser Krieg bereits gefordert hat. So ist es gleichermaßen ein Politthriller, eine Geistergeschichte, eine Gesellschaftssatire, aber auch eine tiefgründige philosophische Suche nach dem Sinn des Lebens und Sterbens.

„Wir sind ein Lichtflackern zwischen einem langen Schlaf und dem nächsten. Vergiss die Märchen von Göttern, Höllen und vergangen Geburten. Glaub an Chancen, Fairness und falsches Spiel mit Falschspielern, spiel deine Hand, so gut du kannst, solange du kannst. Man ließ dich glauben, der Tod bedeute süße Vergessenheit, und beides war falsch.“

Es ist aber auch eine Geschichte über Sri Lanka, über diesen erbitterten jahrzehntelangen Krieg, über Religion, aber auch über Freundschaft und Liebe und das Menschsein.
Neben aller Euphorie möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass es mich zeitweise angestrengt hat dranzubleiben. 500 Seiten voller Geschichte, von der ich keine Ahnung, voller Namen, die ich nie gehört hatte, voller Sätze, die mehrfach gelesen werden wollten. Es gab Momente, da wollte ich es in die Ecke schmeißen. Doch immer hat der Wunsch überwogen, zu erfahren wie es weitergeht. Immer bin ich doch wieder an einem Satz hängen geblieben, den ich ausschneiden und aufhängen mochte, bin ich doch wieder über eine Erkenntnis gestolpert, über einen guten Gedanken, den ich auf keinen Fall verpasst haben mochte. Und dann habe ich mir das Glossar, die Personenliste oder Google wieder vorgenommen, nachgeschlagen und weitergelesen. Und bin dankbar dafür. Mit dem Wissen von jetzt würde ich es am liebsten nochmal lesen und sicher noch sehr viel mehr entdecken.

Lange habe Shehan Karunatilaka keinen Verlag gefunden, der das Buch in Europa für machbar hielt. Es sei für den europäischen Markt intensiv überarbeitet worden. Der Erfolg gibt den Menschen, die daran glaubten, recht. 2022 erhielt es als erstes Buch aus Sri Lanka den @thebookerprizes.

Hannes Meyer, der auch DIE GESCHICHTE EINER KURZEN EHE von Anuk Arudpragasam übersetzt und hiermit für den Internationalen Literaturpreis nominiert war, hat mit der deutschen Übersetzung sicher ein kleines Wunder vollbracht.

Bewertung vom 10.12.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Gustav Gründgens, Heinz Rühmann, Wilhelm Furtwängler - Geschichten der Stars der NS-Zeit wurden schon viele erzählt. Auf den ersten Blick scheint es, dass DANIEL KEHLMANN ihnen mit der des österreichischen Regisseurs G.W.Pabst eine weitere hinzufügt.

Doch was Daniel Kehlmann daraus macht, ist im wahrsten Sinne großes Kino. Bis zur Comicreife überzeichnete Charaktere, scharf- und doppelzüngige Schlagabtausche, Komik, bei der das Lachen schon unterhalb des Halses stecken bleibt, rasante Schnitte, schwindelerregende Perspektivwechsel. Ich hatte das Gefühl, mich in einem Kinosessel festschnallen zu müssen, aber nicht, um einem betulichen Unterhaltungs- oder Durchhaltefilm der nazideutschen Propagandamaschinerie zu folgen, sondern in einem Action-Abenteuer der 2000er Jahre.

Nun kann man sich fragen, ob das der Sache dient. Doch was ist eigentlich die Sache? Zunächst mal die vielleicht einzigartige und auch verstörende Geschichte des österreichischen Regisseurs G.W.Pabst zu erzählen. Pabst machte sich in Zeiten der Weimarer Republik unter dem Spitznamen „Der Rote Pabst“ mit pazifistischen linksorientierten Filmen einen Namen, war nach der Machtübernahme 1933 bereits in Amerika und Frankreich erfolgreich und ist durch eine Verkettung verschiedener Umstände 1939 nach Österreich zurückkehrt und geblieben. Und arbeitete. Drehte auf Wunsch und Geheiß von Joseph Goebbels persönlich Filme mit „subtilen Propagandatendenzen“ (Wikipedia).

Daniel Kehlmann lässt ihn sagen: „Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“ S. 366

Warum? Warum, fragt man sich die ganze Zeit und auch Daniel Kehlmann sagt in einem Interview, dass, hätte er EINE Frage, die er G.W.Pabst noch stellen dürfe, es die nach dem Warum seiner Rückkehr wäre. Warum tut er sich und seiner Familie das an? Lässt seinen Sohn unter der Nazipropaganda groß, seine Frau fast verrückt vor Angst und Unwohlsein mit dem täglichen Arrangement werden?

Ein lupenreiner Opportunist? Wie weit ist Opportunismus – gerade in der Kunst - ENTschuldbar? Wie weit darf man gehen – für die Kunst? Wann beginnt Schuld? Wenn die Antwort auf diese Fragen so einfach wäre!

Diese Fragen ins Heute zu holen ist meiner Meinung nach die zweite wichtige Sache an diesem Roman. Wie versetzt man der historischen Kulisse einen Anstrich, mit dem uns das Spiel zwischen Macht und Manipulation vs. Anpassung und Duldung direkt vor die Füße fällt? Durch Fiktion, Überzeichnung, Witz, Slapstik, Magie, Illusion und Desillusion, Licht- und Schattenspiele! Das ist nichts zum Wohlfühlen, keine Geschichte, die einem das Herz öffnet. Das ist eine Geisterbahnfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele unter gruppendynamischen Zwängen – nicht nur in totalitären Systemen. Mitreißend erzählt. Fast 500 Seiten ohne einen Moment der Langeweile, selbst wenn das Personal am Set zuweilen etwas unübersichtlich wird und mir nicht jede Szene ihren Sinn erschließt. Wer Freude am Googlen und Faktencheck beim Lesen hat, wird hier auf seine Kosten kommen. Es geht aber auch ohne und wird zum Genuss, wenn man sich dem Sog dieses Spielfilms … äh … Romans überlässt.

Bewertung vom 30.11.2023
Die Zeit der Verluste
Schreiber, Daniel

Die Zeit der Verluste


ausgezeichnet

„Es gibt wenig menschlichere Regungen als die Traurigkeit der Trauer, doch sie zuzulassen, sie zu akzeptieren und sie zum Ausdruck zu bringen, erforderte an jenem Tag mehr Mut, als ich aufbringen konnte.“ S. 83

Im Gespräch, dem ich am Sonntag in Hamburg mit Daniel Schreiber lauschen durfte, sucht er auf die Frage, ob man Trauer trainieren könne wie einen Muskel nach einem anderen Bild. Er fühle da keinen Muskel, sondern er sähe unseren Körper als ein dehnbares Gefäß, das sich im Laufe des Lebens mit immer mehr Verlusten füllen und wachsen würde. Wie gern versuchen wir Trauer auszublenden, uns abzulenken, auszuweichen, so schnell wie möglich wieder zum Alltag überzugehen.

Doch Trauer ist nichts, das man irgendwann, nach Wochen, Monaten oder einem Jahr abschließen kann. Trauer wird uns immer wieder ergreifen. Jeder neue Verlust, sei es der eines geliebten Menschen – wie in seinem Fall der des Vaters -, eines Lebenstraums oder eines kollektiven Gutes, bringt uns wieder in Verbindung mit der Summe unserer Verluste. Bestenfalls lernen wir das zu akzeptieren.

„Trauer ist immer eine Erfahrung von Endgültigkeit. Vielleicht liegt darin neben dem Schmerz auch eine merkwürde Form von Trost: mit Tod und Vergänglichkeit lässt sich nicht verhandeln.“ S. 32

Daniel Schreiber wählt für seine Betrachtung die Form des Persönlichen Essays. Er verbindet autobiografische Erfahrungen und einen Tag im nebelverhangenen Venedig fließend mit wissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen Erkenntnissen und Gedanken über Kunst und Malerei und schafft einen Resonanzkörper, der unweigerlich eigene Erinnerungen zum Schwingen bringt, eigenes Reflektieren in Gang setzt und einen Bogen schlägt zum kollektiven Umgang mit Verlusten von Sicherheiten und Gewissheiten.
Wir begleiten ihn auf einem Streifzug durch Venedig, durch die schon seit Jahrhunderten totgesagte Stadt, die es doch schafft, sich immer wieder zu erneuern, deren morsche Pfähle immer wieder ausgetauscht werden, die immer neue Wege findet, dem Untergang zu trotzen. Wir mäandern mit ihm über Brücken, Kanäle, durch Museen, über den alten evangelischen Friedhof, durch die Werke von Freud, Derrida, Didion, Barthes und vieler anderer, genießen die kulinarischen und kulturellen Köstlichkeiten der Stadt und bekommen der Trauer auch immer wieder Freude und Hoffnung entgegengesetzt.

„Ich kann nicht glauben, wie schön, wie unglaubliche schön diese Welt, in der wir leben, sein kann, und wünsche mir, wenigstens die Fähigkeit, das zu sehen, nie zu verlieren.“ S. 42
Ich könnte Daniel Schreiber ewig zuhören, sowohl seinem geschriebenen als auch seinem gesprochenen Wort. Wie er da mit einer wahnsinnig feinfühligen Präsenz auf der Bühne sitzt, mit seiner sanften Stimme, überlegte kluge und immer stimmige Worte aus sich herauswringt, ist es undenkbar, Autor und Werk zu trennen. Er verkörpert, was er schreibt, und schreibt, was er verkörpert, und bleibt gleichzeitig auf einer analytischen Metaebene. Seine Worte berühren und schwingen nach. Die Seiten meines Buches kleben voller Zettel, viele Zeilen tragen Unterstreichungen.

Ich könnte nicht anders enden als mit den Worten von Fatma Aydemir: „Wer ein Buch von Daniel Schreiber liest, blickt danach anders aufs eigene Leben.“

In wenigen Tagen wird übrigens auch das von ihm eingesprochene Hörbuch erscheinen, ich empfehle von Herzen ihm zuzuhören.

Bewertung vom 26.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


gut

Wenn ich könnte, würde ich 3,5 Sterne vergeben, zwischen gut und sehr gut:

Dieses Buch hat es mir nicht so einfach gemacht, wie ich dachte: Ochsenwerder, ein ländlicher Stadtteil in den Vier- und Marschlanden vor den Toren Hamburgs im ausgehenden Mittelalter ist Schauplatz der Geschichte von Abelke, einer Bäuerin, die den Hof der Eltern erfolgreich weiterführt, als Frau allein, unverheiratet, ohne den Schutz und die Unterstützung eines Mannes, einer Familie. Sie kämpft, hat ein feines Gespür für die Natur, die Menschen und Stimmungen, die sie umgeben, trifft die richtigen Entscheidungen, hat ihren eigenen Kopf, den sie durchsetzt und doch verliert sie nach der vernichtenden Allerheiligenflut von 1570 unter dem gebrochenen Elbdeich fast alles. Und wieder kämpft sie – vor allem mit den von Neid und Gier besessenen Männern, die in jener Zeit an der Macht sind. Am Ende stirbt sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen.

Jarka Kubsova erzählt diese auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte der Abelke Bleken sehr lebendig und bildgewaltig. Nach wenigen Seiten bin ich drin in der im Nebel liegenden weidenbestandenen Landschaft hinterm Deich, erlebe die Mühen der Landwirtschaft des Mittelalters, spüre die verschlossenen, durchs Leben gehärteten Figuren um mich. Die sehr gründlich recherchierten historischen Fakten finde ich geschickt in die fiktive Handlung integriert, die Geschichte interessiert und packt mich.

Doch Jarka Kubsova will keinen historischen Roman erzählen, sondern eine Brücke in die heutige Gesellschaft schlagen. Hierfür erschafft sie Britta, die sich knapp 500 Jahre später mit Anfang 40 plötzlich in einem Leben wiederfindet, das sie nie gewollt hat: in einem Vorort von Hamburg, mit einem Ehemann, der sie mit Haushalt und Kinderbetreuung allein lässt, dessen Traum vom Eigenheim auf dem Lande sich als ihr Albtraum entpuppt.

Mit einem Teilzeitjob, in dem sie nur einen Bruchteil ihres intellektuellen Potenzials entfalten kann, mit einer schrecklichen Schwiegermutter und einem jährlichen alkoholschwangeren Wellness-Wochenende mit der besten Freundin. Kubsova verwebt beide Geschichten miteinander, erzählt sie aus immer abwechselnden Perspektiven.
Und das ist mein Problem. Britta passte für mich so gar nicht zu der Geschichte von Abelke, ging mir nach kurzer Zeit auf die Nerven und hat meinen Lesefluss gestört. Vielleicht hat sie ein oder zwei Klischees zu viel aufgeladen bekommen, vielleicht hat sie ein oder zwei Mal zu viel über ihr furchtbares Schicksal gejammert, während Abelke parallel nicht nur um ihre Existenz, sondern auch um ihr Leben kämpfen musste. Um den Bogen zu unserer heutigen Gesellschaft zu schlagen und zu erkennen, wie viel sich verändert hat und doch auch wie wenig, hätte ICH Britta nicht gebraucht, denn das erzählt Abelkes Geschichte implizit auf sehr gewaltige Weise.
Eine gelungene und für mich versöhnliche Abrundung findet sich im Nachwort, das die Tatsachen und historischen Hintergründe des Lebens der Abelke Bleken und ihrer MitstreiterInnen vertieft. Sehr interessant dazu ist auch der Instagram-Auftritt von Jarka_Kubsova . Unter dem Stichwort Recherche Review erfährt man weitere interessante Details hierzu.

Für mich war die Begegnung mit Abelke unvergesslich. Und ich bin dankbar für den inneren und äußeren Austausch, den dieses Buch angeregt hat.

Bewertung vom 24.11.2023
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


ausgezeichnet

Baxter möchte Zahnarzt werden. Nichts mehr als das. Um das Geld für das Studium zusammenzusparen, arbeitet er bei einer kanadischen Eisenbahngesellschaft. Es ist 1929 und er ist Schwarz und Homosexuell. Und Schlafwagendiener. Die unterste Stufe der gesellschaftlichen Hierarchieleiter. Und so existiert er zwischen verwöhnten Reichen und Möchtegernberühmtheiten und ihren Koffern, Taschen, Kleidern und Schuhen, zwischen ihren Gerüchen, ungepflegten schiefen Zähnen, zwischen ihren verbalen Belanglosigkeiten oder Beleidigungen fast unbemerkt, mit dem Selbstverständnis eines Gebrauchsgegenstandes.

Er putzt Schuhe, Kojen und Toiletten, hält Leitern und Stufen, hievt Koffer rauf und runter, hat ein Ohr für diesen und eine Geschichte für jenen und nachts rennt er zwischen betrunkenen Fahrgästen, die ihr Bett, Schlaftrunkenen, die die Toilette suchen und den Abteilen schlafender Kollegen hin und her, während er selbst nur „mohnsamengroße“ Portionen Schlaf sammelt, mit bleiernen Augenlidern und immer mehr halluzinierend zwischen Wachen und Träumen dem nächsten Tag entgegenfährt. „In seinem Hirn surrt und qualmt das Räderwerk des Schlafs.“

Ich bin von dieser tragisch-komischen schlaksigen rastlosen Figur hingerissen. Erzählt wird dieses Gesellschaftspanorama aus Baxters Perspektive. Ohne selbst Grundbedürfnisse wie Essen und Schlaf befriedigen zu können, balanciert er auf dem Drahtseil heilloser Überforderung und perfekt organisierter Betriebsamkeit mit seinen übernächtigten wirren Gedanken durch die Geschichte. Über seinen Galgenhumor, mit dem er seine Umgebung kommentiert, mit dem er den Passagieren Namen wie Pappe und Papier, Mango, Spinne, je nach ihrem Äußeren gibt, Zähne analysiert, die bei den widerlichsten Menschen am ungepflegtesten sind, muss ich oft schmunzeln. Ich renne mich mit ihm müde und verzweifle ob der vermeintlichen Sinnlosigkeit seines Tuns, bange mit ihm um Strafpunkte, für die kleinsten Vergehen, an denen er keine Schuld trägt.
Und so rolle ich in diesem „Luxusgefängnis“ durch ein Panorama der menschlichen Gesellschaft, in der es die gibt, die oben sind und die Regeln bestimmen und die, die unten, um Unsichtbarkeit bemüht versuchen, ihren Tritten auszuweichen. Alles hat so seine Ordnung, solange der Zug rollt und niemand diese Ordnung in Frage stellt.

Unterhaltsam, humorvoll, tiefgründig, antirassistisch, antidiskriminierend, treibend, sprachlich originell, liebevoll, so vieles ist diese Reise durch Kanada mit Baxter. Suzette Mayr ist zu Recht für dieses Buch mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem Giller Prize ausgezeichnet worden. Auch Anne Emmert hätte für die Übersetzung dieses sprachlichen Feuerwerks einen Preis verdient. Ein Buch, das mir in Erinnerung bleiben wird.

Bewertung vom 21.11.2023
Entzwei
Gelsing, Sabine

Entzwei


ausgezeichnet

„Helene würde gerne das erzählen, was man immer wieder über getrennte Zwillinge hört, würde gerne von einem unsichtbaren Band berichten, das zwar zart, aber allgegenwärtig war, sodass sie sich ihr ganzes Leben lang unvollständig gefühlt hat. Sie würde es so gerne fühlen. Aber sie kann das nicht behaupten. Entzwei fühlt sie sich erst seit einigen Tagen.“ (S. 146)

1949 ein Dorf irgendwo in Deutschland. Gefallene Väter, vom Mund abgespartes kleines Glück, tradierte Werte, wenig Gesagtes, viel Verdrängtes. Franz führt den Hof seit dem Tod seines Vaters unter dem wachsamen Auge der Mutter. Sie wartet auf die richtige Frau für ihn, die vor allem aber auch IHREN Vorstellungen entsprechen soll. Das ist ganz bestimmt nicht Elisabeth, die in der Dorfkneipe bedient, ihren eigenen Kopf hat und von einer Zukunft als Künstlerin in der Stadt träumt. Franz liebt Elisabeth, doch auch für ihn bedeutet Liebe Heirat und ein gemeinsames Leben auf dem Hof. Als Elisabeth schwanger wird, treffen alle Drei Entscheidungen, die dem Leben der in Elisabeth heranwachsenden Zwillinge eine dramatische Wendung verleihen. Sie werden bei der Geburt getrennt, Helene bleibt in der Obhut der Familie, Alma wird in einem katholischen Kinderheim aufwachsen.

Fassungslos erleben wir ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, die sogenannte „Fürsorge-Erziehung" in häufig von katholischen Nonnen geführten Kinderheimen. Vor allem „uneheliche“ Kinder „gefallener Mädchen“ werden hier mit Zucht und Ordnung und harter Arbeit für ihr Kindsein bestraft, jeglicher Würde und ihrer Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit beraubt. Wir erleben wie sie in dieser Kälte, Gewalt und Lieblosigkeit selbst verrohen und zu Täterinnen werden, obwohl sie sich eigentlich nur nach Liebe und Zuwendung sehnen.
Auf mehreren Zeitebenen über drei Generationen und aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven begibt sich Sabine Gelsing in ihrem Debüt auf Spurensuche und gräbt nach den Motiven der ProtagonistInnen. Auf nur 200 Seiten, in einer dichten Sprache und mit pointierten Dialogen bringt sie uns nah heran. Wie konnte es zu den Entscheidungen kommen? Und wie lebt es sich damit? Kann es irgendwann Versöhnung geben? Die Perspektivwechsel und eine sprachliche Leichtigkeit geben der spannenden feinfühlig erzählten Geschichte etwas Versöhnliches und lassen sie mich trotz des schweren Themas mit Spannung und Freude lesen.

Ich wäre gern noch weiter gegangen. Hätte gern verstanden, wie ein Teil der Gesellschaft so mit Kindern umgehen konnte, welche Wut, welche Ängste, welches Menschenbild dahintersteckten. In Deutschland begann sich erst in den 60er Jahren mit der Entwicklung der Reformpädagogik eine Diskussion um Kinderrechte und Kinderschutz zu entwickeln, die bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist.

Bewertung vom 15.11.2023
Mahtab
Djafari, Nassir

Mahtab


ausgezeichnet

Frankfurt, 1967. Nassir Djafari erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Iran, die in den 50er Jahren nach Deutschland kommt und in deren Mittelpunkt Mahtab, die Frau von Amin und Mutter dreier Kinder steht. Das jüngste 10jährige Kind ist bereits in Deutschland geboren. Die älteste ist im Iran aufgewachsen und mittlerweile volljährig.

10 Jahre lang schien alles gut zu gehen, Mathab geht arbeiten und lernt Auto fahren, ihr Mann gewährt ihr Freiheiten, die sich in Deutschland die Frauenbewegung erst beginnt zu erkämpfen. Doch mit den politischen Unruhen der späten 60er Jahre, beginnen auch Mahtab die Dinge zu entgleiten und ihre trotz allem von traditionellen Werten geprägte Welt zu bröckeln. Die Tochter trägt plötzlich Mini, nimmt die Pille und scheint an Studentendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Die Jungs entziehen sich ihrer Erziehung. Amin, der selbstständig und souverän sein kleines Geschäft führt, scheint eine Affäre mit einer blonden jüngeren Kollegin zu haben, während Mahtab sich in langen Röcken, gesenktem Blick und Tschador am sichersten fühlt und den Avancen eines Kollegen aus dem Wege geht. Plötzlich scheint sie die Einzige zu sein, die sich den Traditionen ihrer Kultur verpflichtet fühlt, während der Rest der Familie dem westlichen Lebensstil verfällt und seinen neuen Idealen nacheifert.

Sie muss sich entscheiden, muss ihren Weg zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Iran und dem aufbrechenden Deutschland der 68er und vor allem Heimat in sich selbst finden.

Lange habe ich die die Essenz des Romans nicht gesehen, sondern bin einfach der gut erzählten wendungsreichen Geschichte gefolgt. Die Botschaft liegt eher in den Zwischentönen, den Widersprüchen, die sich in mir auch gegenüber Mahtab auftun. In der Zeit- und Raumlosigkeit, die ich immer mehr wahrnehme.

Es ist für mich ein typischer Roman der vom Verlag vertretenen „Luftwurzelliteratur“, die den „bereichernden Aspekt des Exils in den Vordergrund stellt. Nicht der wehmütige Blick in die Heimat und Klagen stehen im Fokus, sondern die persönliche Erfahrungsschilderung des Lebens in unterschiedlichen Kulturen. Luftwurzeln halten sich nicht an Grenzen, sondern wachsen über sie hinaus.“ (Verlags-Homepage)

Diese Philosophie des Sujet Verlags hat mich gefangen genommen und ich habe das Bedürfnis dem nachzugehen. Der Roman von Nassir Djafari ist ein exzellentes Beispiel dafür und eine große Empfehlung für alle, die sich mit dieser Literatur auseinandersetzen mögen.