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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 51 Bewertungen
Bewertung vom 15.03.2024
Bloodbath Nation
Auster, Paul;Ostrander, Spencer

Bloodbath Nation


ausgezeichnet

Hätte ich dieses Essay gelesen, wenn es nicht von PAUL AUSTER gewesen wäre? Vermutlich nicht. Weil es mir zu weit weg ist? Weil wir – wie Paul Auster schreibt – „auf fernen Kontinenten dem entsetzt und ratlos zuschauen, nicht weniger erschüttert, als wir es sind, wenn wir von Genitalverstümmelungen an jungen Mädchen lesen, oder dass anderswo Frauen zu Tode gesteinigt werden, wenn ihre Ehemänner ihnen Untreue vorwerfen.“? Ja, vielleicht ist es das. Doch das, was die Amerikaner mit ihren Waffen haben, die tiefe Spaltung, die die Frage durch die Gesellschaft zieht, die kulturelle Verwurzelung „der Vergottung des Waffentragens“ fühlt sich näher an als ich dachte, ähnlich nah wie die Diskussion um das Tempolimit auf unseren Straßen.

Paul Auster geht das Thema persönlich und weniger wissenschaftlich an. Ausgehend von seiner Familiengeschichte, in der die Großmutter seinen Großvater erschoss und damit die Familie schwer zerrüttete, verdüsterte und traumatisierte, erzählt er seine Kindheit und Jugend im „wilden Westen“, der in den USA der 50er Jahre auch im Osten war. Schießübungen gehörten zum Ferienlager genauso selbstverständlich dazu wie das Stockbrot am Lagerfeuer. Von dort geht er zurück in die amerikanische Geschichte und kommentiert die Verwurzelung der Waffe in Privateigentum, die weit zurück in die Siedlungs- und Gründungsgeschichte der USA reicht.

Es bleibt jedoch eine persönliche Abrechnung, die durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos des US-Fotografen Spencer Ostrander von mehr als 30 Schauplätzen von Amokläufen unterstrichen wird. Allesamt Plätze der Stille unter völliger Abwesenheit von Menschen, „Grabsteine kollektiver Trauer“, beklemmend, manchmal ganz friedlich wirkend, aus einer Perspektive, die der Amokläufer vielleicht eingenommen hat, bevor er sein Werk verrichtete.

„Auf ein Wort stößt man […] immer wieder: Einsamkeit, unerträgliche, erdrückende Einsamkeit, es ist dieselbe Einsamkeit, die Millionen andere Amerikaner auf die eine oder andere Weise dazu treibt, Trost im Vergessen zu suchen – zu viele Drogen, zu viel Alkohol, obsessive Flucht in die Labyrinthe des Internets.“ S.114

Es geht um Gefühle, um die Angst, die zu Gewalt führt und die Angst, die aus ihr entsteht und die wiederum zu blinden Entscheidungen führt. Es geht um den Teufelskreis, um das Begreifen, das Verstehen.

Mich hat es sehr bewegt und auch wenn das vielleicht nicht UNSER Thema ist, so lässt sich doch auf UNSERE Themen schließen und lassen sich Parallelen denken, die Diskussionen anregen.

Bewertung vom 10.03.2024
Drei Schalen
Murgia, Michela

Drei Schalen


ausgezeichnet

Die Autorin und Aktivistin gegen die italienische Rechte Michela Murgia machte im Frühjahr letzten Jahres ihre schwere Krankheit öffentlich. Kurz nach Erscheinen ihres Erzählbandes DREI SCHALEN in Italien verstarb sie im Alter von nur 51 Jahren im August 2023.

DREI SCHALEN ist ein Abschied und zugleich eine Ermutigung, sich mit Veränderungen, scheinen sie auch noch so ungangbar zu sein, auseinanderzusetzen, Herausforderungen nicht den Kampf anzusagen, sondern sie anzunehmen und daran zu wachsen.

Die erste Geschichte UNÜBERSETZBARER AUSDRUCK erzählt genau in diesem Geist von der Diagnose, deren Name nicht aussprechbar ist. Worte, wie KREBS oder KARZINOM manifestieren Gewissheiten und geben ihnen eine Bedeutung, die dem Gefühl, das die Ich-Erzählerin im Innern trägt, nicht entspricht. Verbundenheit findet sie in einer fremden Sprache.

Michela Murgia nähert sich dem Existenziellen von hinten, indem sie das Verborgene im Sichtbaren, im Banalen beschreibt. In der Geschichte DREI SCHALEN zeigt sich der Schmerz über das Verlassenwerden nicht im Schmerz selbst, sondern in wochenlangem Erbrechen. Heilung geschieht durch Routinen und Ordnung, die den äußeren Rahmen schaffen, die Trauer zu überwinden.

Zwölf Kurzgeschichten reihen sich wie eine Perlenkette aneinander, die in sich geschlossen sind und doch Berührungspunkte haben. Eigentlich wollte Michela Murgia ihr letztes Werk als Essay schreiben, hat sich aber überzeugen lassen, dass „sie mithilfe der Literatur weniger Eindeutiges sagen kann, ja sogar Dinge, die ihrer eigenen Meinung widersprechen“, sagt sie in einem Interview.

In klaren ungeschönten Worten, die aber immer auch etwas Versöhnliches haben, erzählt sie mit viel Humor und Elementen der Satire aus ihrem Innern und den Unruhen in der Gesellschaft. Sie dreht sich selbst die Worte im Mund herum, schafft immer neue Perspektiven auf peDie lesbische Frau, die eine künstliche Schwangerschaft anstrebt und dabei Kinder hasst, ist für mich das beste Beispiel, wie Murgia ihre Geschichten erzählt. Die Vorzeichen werden vertauscht, man weiß nicht mehr wo oben und unten, was richtig oder falsch ist. Und man fängt an zu denken. Und zu fühlen.

Das Kleid, das sie in der ersten Geschichte beim Besuch des Onkologen trägt, ist vielleicht das, das in der letzten Geschichte nach ihrer Beerdigung im Wind flattert und auf jemanden wartet, der es mitnimmt und sich darin einhüllt. Kreise schließen sich.

Große Empfehlung.

Bewertung vom 10.03.2024
Deine Margot
Valkama, Meri

Deine Margot


sehr gut

DEINE MARGOT ist das Debüt der finnischen Autorin Meri Valkama, die einen Teil ihrer Kindheit in Ostberlin verbrachte, später dort studierte und Dokumentationen über Journalist:innen in der ehemaligen DDR verfasste.

Vilja, eine junge Finnin findet nach dem Tod ihres Vaters Markus in den 2010er Jahren ein Bündel leidenschaftlicher Liebesbriefe einer Frau namens „Margot“ in seinen Sachen. Margot scheint ein Deckname zu sein, um die wahre Identität zu verschlüsseln, denn die Post stammt aus den 80er Jahren aus Ostberlin. Dort arbeitete Markus und berichtete für eine linksgerichtete finnische Zeitung aus der DDR. Der Adressat „Erich“ scheint ihr Vater und „Kastanie“ niemand anders als sie, Vilja, zu sein. Viljas Mutter hat sich hinter einer Mauer des Schweigens verschanzt, wenn es um den Vater, von dem sie lange geschieden ist und die Zeit in der DDR geht. So reist Vilja nach Berlin und macht sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit, nach Erinnerungen und der Frau, die sich als Margot ausgab und die einzige zu sein scheint, die wieder Gewissheit in Viljas Welt und ihre verlorenen Erinnerungen zurückbringen kann.

„Wer war letzten Endes der Mensch, wenn er sich nicht erinnerte? Konnte der Mensch tatsächlich sich selbst kennen, wenn er sich nicht erinnerte?“ S.194

Romane, in denen der Fund von Briefen Auslöser für eine Identitätssuche sind, sind nicht neu. Und doch ist dieser etwas Besonderes. Auf mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, zu denen auch die Briefe gehören, nähert sich der spannungsgeladene Plot der Auflösung der familiären und sozialen Verstrickungen. Dabei finde ich die Verknüpfung mit der politischen Entwicklung der 80er Jahre in Ostberlin und Europa bis zum Mauerfall sehr gelungen.

Meri Valkama geht ganzheitlich mit dem Thema um und wirft auf, was den Menschen, die blieben, durch die Wende auch VERLOREN ging und was hätte sein können, wenn die DDR unter neuen Vorzeichen weiter hätte existieren dürfen. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Familiengeschichte und Viljas Suche.

Kleine Abstriche muss ich bei der Übersetzung machen. Über manche Wortwahl und hölzernen Sätze geriet ich ins Stolpern. Auch der ein oder andere Logikfehler im Plot ließ mich ungläubig zurück. Mir kann sowas wirklich den Spaß verderben, aber hier hat es den Gesamteindruck nicht getrübt: es bleibt ein guter empfehlenswerter Schmöker.

Bewertung vom 03.03.2024
Flirren
Brunner, Helwig

Flirren


ausgezeichnet

"Ist es besser gut zu sein oder stark? Diese Frage stellt sich nicht mehr in Zeiten der alles überrollenden Schwäche, der kollektiven Überforderung. Wir haben keine Wahl, wir sind, das ist die Wahrheit, weder gut noch stark.“ S.163

Wir sind im 25. Jahrhundert.

Bei Temperaturen über 50 Grad und heftigen Sandstürmen sieht es in den österreichischen Alpen aus wie in der australischen Wüste. An Energie mangelt es nicht: Sonne und Wind sind im Überfluss vorhanden, werden aber in unbeschreiblichen Mengen für die Kühlung der sogenannten Humanareale und zur Wassererzeugung gebraucht. Die Wasserversorgung kann aus Grund- und Regenwasser schon lange nicht mehr gedeckt werden.

In einem solchen Humanareal lebt Leonard als Vergangenheitsforscher, für dortige Verhältnisse auf 20 m² mit Außenfenster sogar recht komfortabel. Doch sein Leben ist zum Stillstand gekommen. Leas Tod, die er als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnet, hat ihn in ein tiefes Loch gerissen. Während die Beschreibung der verheerenden Ereignisse der letzten Jahrhunderte, die zu den katastrophalen Lebensumständen geführt haben, einen düsteren Sog entwickelt, wird der Ton weich und lebendig, sobald von Lea die Rede ist. Es scheint, als wäre die Erinnerung an sie und die Liebe das einzig fruchtbare in dieser trockenen Zeit.

„Lea wurde zum Kern meiner Lebensfreude, ihr Tod meine Kernschmelze.“ S.82

Es gibt wenig, das aus der alten Welt überlebt hat und auf das Leonard in seiner Forschung zurückschauen kann. Die „Behörde“ wird durch künstliche Intelligenz gesteuert, Bücher und Schriften gibt es kaum noch, denn das nötige Wissen wird den Menschen über digitale Uploads vermittelt. Doch der Mensch ist ein Mensch. Oder nicht? Was ist es, das in dieser Welt das Menschsein ausmacht? Welche Werte, welche Kulturgüter haben überlebt?Helwig Brunner bettet in kurzen Kapiteln die Story von Leonard und der verlorenen Liebe in einen philosophischen und auch poetischen, fast lyrischen Abgesang auf das Zeitalter der Menschheit. Ausgefeilte, wie Diamanten geschliffene Sätze prägen ebenso den Ton, wie wehmütige, melancholische und zarte Worte das Leben und den Blick zurück beschreiben.

Antworten, Hoffnung? Nein oder nur wenig. Ansporn, die Welt, die wir haben, zu schützen und das, was uns als Menschen auszeichnet zu bewahren? Ja!

Helwig Brunnner hat Musik und Biologie studiert, ist nicht nur Autor, sondern auch Herausgeber einer Lyrikbuchreihe UND Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros mit Schwerpunkt Energiewende. Es war diese Mischung, die mich interessiert hat und die dieses Buch tatsächlich prägt.

Eine klare Empfehlung für alle, die Freude an Gedankenspielen und keine Angst vor „ungeschönten und kompromisslosen“ Dystopien vom Ende des „Hoffnungszeitalters“ haben.

Bewertung vom 03.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


ausgezeichnet

Maya ist Vulkanforscherin und hofft in einem Institut für Vulkanologie etwas zu finden, das sie weiterbringt. Ihre Forschung und auch ihr Leben sind irgendwie ins Stocken geraten. Als hielte die Welt auf einem Scheidepunkt die Luft an. In dem Hotel, in dem sie abgestiegen ist, begegnen ihr seltsam ferne Menschen, die einen Kongress über die Regulation der Tierpopulation abhalten. In der Bibliothek, in der sie Antworten zu ihrer Forschung sucht, findet sie stattdessen Rätsel, die auch mit ihrer Freundin Helga-Maria zu tun haben. Und dann ist da noch die Parallelerzählung von Sebastian, dem sanftmütigen Naturbeobachter und Tierfreund, der dem undurchsichtigen und unheimlichen, eiskalten Jäger Mészáros begegnet. Wo führt das alles hin und wo liegt der Zusammenhang?

Diese Frage habe ich mir lange gestellt, während ich durch Volha Hapeyevas fantastische und rätselhafte Welt schritt. Sie erzählt melancholisch, lakonisch und poetisch mit liebevoll und sanftmütig gezeichneten Protagonist:innen. Besonders Maya fühle ich mich sehr nah. Auf unterschiedlichen, metaphorisch aufgeladenen, teils traumhaften Ebenen springen wir über Elemente des magischen Realismus von Szene zu Szene. Ich verliere den Faden. Die Sprünge sind abrupt. Ich suche nach dem Kern, dem Kontext. Will fast schon aufgeben und erlebe dann doch eine unverhoffte Wendung, greife einen Satz und lasse mich in seine Poesie wie in ein weiches Kissen fallen.

Der Untertitel des Buches lautet: „Die Einsamkeit wohnt im Zimmer gegenüber.“ Die Menschen hier sind einsam, auf sich gestellt, allein in den unterschiedlichen Begegnungen mit dem Bösen. Selbst auf der Suche nach dem Kontext, nach der Verbindung. Liegt diese Verbindung in der Empathie, dem Mitgefühl mit allem: der Natur, ALLEN Tieren, Menschen? Wie lebt es sich in einer Welt, die so ohne Empathie zu sein scheint? Sind wahre Demokratie, Diversität, Gleichberechtigung ohne Empathie möglich?

„Es gibt keine schrecklichere Bestie auf der dieser Welt als den Menschen, der seine ‚Humanität‘ auslebt.“ S.163

Volha Hapeyeva ist eine erfolgreiche belarusische Lyrikerin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Auf Deutsch erschienen von ihr u.a. zwei Gedichtbände. Ich mochte die Lyrik ihrer Sprache, das Versonnene ihrer Gedanken, das auch in krasse Brutalität umschlagen kann, wenn es um die Beschreibung des entwürdigenden Bösen geht. Für mich, die große Freude an Sprache und Texten, die nachdenklich machen, hat, war diese Lektüre eine sehr bereichernde Entdeckung, die mich neugierig auf mehr von der Autorin gemacht hat.

Bewertung vom 25.02.2024
An Rändern
Tijssens , Angelo

An Rändern


ausgezeichnet

„Ich hätte die Dinge und die Zeit auf sich beruhen lassen und mich nicht auf die Suche nach den Resten begeben sollen, denn was weg ist, lässt sich nicht so einfach zurückholen.“

Wenn es doch nur eine Kiste angestoßener Muscheln wäre, zu der Du an den Ort Deiner Kindheit zurückkehrst! Nein, es sind vor allem Erinnerungen an Vernachlässigung, Zurückweisung, körperliche und seelische Gewalt, die Dich einholen. An Sie. Nicht an die MUTTER, sondern SIE. Sie riecht nach Wein und Zigaretten, Einsamkeit, Schmerz, Blut, Angst, Auflösenwollen. Du bist NICHTS.

Nun – Jahre später – kehrst Du zurück an den Ort, wo Ihr gelebt habt an der Küste Flanderns. Um IHN wiederzusehen. Nach all den Jahren, in denen Du ihn nicht vergessen konntest. Den Freund, mit dem Du Kind sein und zum Mann reifen konntest.

„Weil ich bei ihm richtig gut schlafen konnte. Weil ich mich ganz nah bei ihm, den Kopf halb auf seinem Kissen, traute einzuschlafen. Weil ich keine Angst hatte, was passieren könnte, wenn mir die Augen zufielen, sondern was passieren würde, wen ich sie wieder aufmachte.“

Bei Dir entstand eine zärtliche ängstliche Liebe und ein devotes Begehren, bei ihm überwogen Scham und Unsicherheit. Und so endete es mit Schmerz und Verlust. Und jetzt? Was willst DU jetzt?

In einer intensiven dicht gepackten Sprache mit starken, manchmal beklemmenden Bildern erzählt sich der junge Mann diese Wiederbegegnung selbst. Seine Welt ist eine einsame, verzweifelte, in der er, der Liebe nicht kennt, unruhig nach Liebe sucht. Die Wirkung ist gewaltig, auch brutal und auf der nächsten Seite zart und wärmend. Kurze Kapitel, den Text AN DIE RÄNDER und die Seiten ohne Nummerierung gesetzt. So falle ich nach manchen von ihnen buchstäblich in ein emotionales Loch, aus dem ich mich wieder herauskämpfen muss.

Ich habe lange nicht mehr mit einer Hauptfigur so mitgefühlt, mitgeweint, mitgeliebt. Wie schaffen Angelo Tijssens und die Übersetzerin Stefanie Ochel diese Nähe, diese Intensität auf so engem Raum? Denn es ist ein schmales Buch. Wenig Worte erzeugen eine ungeheure Wucht, lassen mich tieftraurig abstürzen und im nächsten Moment voller Leichtigkeit wieder aufgleiten.

Es ist eine queere Geschichte, aber auch einfach eine Geschichte von Liebe, Schmerz, Suchen und Finden, Festhalten und Loslassen. Eine Geschichte voller ganz großer Gefühle und ein völlig überraschendes Highlight für mich.

Angelo Tijssens ist ein belgischer, international gefeierter Drehbuchautor, dessen Film CLOSE 2023 für den Oscar nominiert war. AN RÄNDERN ist sein Romandebüt. Ich hoffe, er schreibt weiter.

Bewertung vom 19.02.2024
FRAUEN LITERATUR
Seifert, Nicole

FRAUEN LITERATUR


ausgezeichnet

Schon lange habe ich dieses Buch auf meiner Wunschliste und freue mich, dass es nun im Taschenbuchformat seinen Weg zu mir gefunden hat. Viele Accounts hier haben dieses Buch als eins der wichtigsten, das sie je gelesen haben, als eine Quelle der Inspiration für ihr Lesen und ein Schlüsselwerk im Ringen um Gleichberechtigung in der Literaturwelt gewürdigt. Und sie hatten recht!

So aufgeregt hab ich schon lange kein Buch mehr gelesen. Aufgeregte Zustimmung, aufgeregtes Wiedererkennen, auch Widerstände und Fragen, die sich regten, haben meinen Puls immer wieder beschleunigt.

Nicole Seifert schreibt klug, fundiert, in alle Richtungen recherchiert und dabei doch nahbar, verständlich, persönlich und ohne mit ihrem Wissen zu belehren. Sie setzt damit ein Feuerwerk an Gedanken in mir frei.

Das fing damit an, dass ich erstmal meine Quote gecheckt habe. Mein Bücherregal unterstreicht ihr Fazit: Es tut sich was. Sie sagt, der Bücherfrühling 2021 in dem sie ihr Schlusskapitel schreibe, sei so weiblich, wie vielleicht noch keiner zuvor. Auch die Diversität der Verlagsprogramme scheine zuzunehmen, Literaturpreise gingen überwiegend an Frauen. Das deckt sich mit meinem subjektiven Eindruck und mit meinem Lesen, das zu der Zeit eine scharfe Wendung erfahren hat. Unbewusst und einfach nur, weil das Angebot und die Aufmerksamkeit sich geändert haben.

Was beweist, dass es eben nicht damit getan ist, anzunehmen, „die Zukunft werde es schon richten, … Denn von nichts kommt nichts.“ Es braucht tatsächlich Fokus: im Marketing der Verlage, in der Literaturkritik, im Feuilleton, in den Sozialen Medien, aber eben auch bei der Leser*in.

Was für ein weiter Weg es bis hierher war, welchen Ungeheuerlichkeiten sich Frauen im Literaturbetrieb über Jahrhunderte ausgesetzt sahen, das dröselt Nicole Seifert sehr anschaulich in ihrem Essay auf.

Ich erkannte die Logik und Kontinuität in dem Prozess des Unterlassens und Ignorierens, war zuweilen höchst erschrocken. Denis Scheck, dem ich einige der besten Frauen in meinem Bücherregal wie Annie Erneaux, Sheila Heti, Milena Michiko Flasar und Sigrid Nunez zu verdanken habe, scheint mit seinem Kanon (den ich nie angeschaut hab, weil ich auf Kanons nichts gebe) auch seinen Beitrag zum Problem geleistet zu haben. S. 47
Und ich als Leserin, die sich dieses Ungleichgewicht viele Jahre gar nicht bewusst gemacht hat, sicherlich auch.

Dafür hat mir Nicole Seifert aber auch einen Haufen Hausaufgaben mitgegeben: Literatur, natürlich von Frauen, die meine Wunschliste auf Kanongröße anschwellen ließ.

Doch auch Widerstände hallen der Lektüre nach. Manche Kommentierungen zu diesem Buch vermitteln mir den Eindruck, als müssten Autoren nun ganz aus den Bücherregalen verschwinden. Ich lese Paul Auster genauso gern wie Siri Hustvedt und wünschte mir, dass wir eines Tages WIRKLICH nicht mehr über das Geschlecht der Autor:innen reden müssten, dass Bücher von Büchermenschen geschrieben werden.

Doch bis dahin gilt:
„Denn nur wenn eine Auswahl aus der unüberschaubaren Menge literarischer Texte relativ bekannt ist, kann eine Diskussion auch über andere Texte, Formen und Inhalte stattfinden, nur dann kann auf GEMEINSAMES Bezug genommen werden. In diese Gemeinsame einzubeziehen, was bisher als marginal betrachtet wurde, mischt überkommene Kategorien und Interpretationsmuster auf.“ S. 102
Das ist für mich ein Schlüsselsatz und eine Aufgabe.

Danke an die Autorin für diese kämpferische, aufrüttelnde und sehr bereichernde Lektüre!

Bewertung vom 19.02.2024
Die lichten Sommer
Kucher, Simone

Die lichten Sommer


sehr gut

„So zart und sinnlich und zugleich so aufgeklärt hat hierzulande noch niemand von Vertreibung erzählt.“ Sagt Daniela Dröscher über DIE LICHTEN SOMMER von Simone Kucher @kucher.simone

„Zart und sinnlich“ und „Vertreibung“ in einem Satz? Wie kann das gehen? Das wollte ich unbedingt ergründen und so bin ich eingetaucht in die Geschichten von drei Frauen, deren Leben ebenso so eng miteinander verbunden wie auch getrennt verlaufen sind.

Es ist ein warmer Sommer im Kriegsjahr 1944, in dem Nevenka die letzten unbeschwerten Tage ihrer Kindheit in einem südmährischen Dorf inmitten dichter Wälder, lichter Wiesen und am Rande eines reißenden Flusses verbringt. In dem sie Zena begegnet, dem Mädchen aus Prag, das mit ihrer Mutter ins Dorf kam, um ihrem in einem Nazi-Gefängnis inhaftierten Vater näher zu sein. Zena stellt Nevenkas Leben mit ihrer unkonventionellen mutigen, fast amazonenhaften Erscheinung auf den Kopf.

„DEINE Zena, hatte die Mutter gesagt. Da sprudelte ein Wasserstrahl durch Nevenkas Brust, geräuschvoll und warm.“

Einfühlsam, liebevoll und tatsächlich mit einer zarten und sinnlichen Sprache erleben wir den Beginn einer Mädchenfreundschaft, die auch den Beginn eines Erwachsenwerdens markiert. Der Krieg ist für die Mädchen weit weg. Tod, Hass, Verfolgung, Vergeltung und das Grauen dringen nur in Zwischentönen und Andeutungen in ihre Zweisamkeit. Es ist der letzte Sommer vor der Vertreibung.

Ein anderer warmer Sommer ca. 20 Jahre später in Süddeutschland. Hier lebt Nevenka nun mit ihrer Familie und auch mit ihrer Tochter Liz, die früh erwachsen werden und Verantwortung für das Überleben der Flüchtlingsfamilie übernehmen muss. Liz wagt es, aus der Enge der familiären Zwänge, des stummen Gehorsams und der Welt der Andeutungen, in der man über Gefühle nicht spricht, in der man anständig ist, auszubrechen. Wird sie einen Weg finden, sich von den tiefsitzenden Lasten zu befreien und ihr Glück finden?

Simone Kucher erzählt die Geschichten auf diesen zwei Zeitebenen, auf der ersten aus der Perspektive der heranwachsenden Mädchen. Es sind Geschichten von einem DAVOR und einem DANACH.

Der Akt der Vertreibung oder der Flucht, die komplexen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge bleiben angedeutet. Die erwachsene Welt, die der Schuldigen bleibt außen vor. Betrachtet wird die Wirkung von Flucht, Vertreibung und Kriegstraumata auf die Opfer: die Kinder, die nachfolgenden Generationen.
Simone Kucher hört immer da auf, wo die Gewalt anfängt. Sie entfaltet sich erst im Leben von Liz, im Leben der Nachkommen und auch hier in sehr subtiler Weise.
Hier, in der Figur der Liz, wurde FÜR MICH zu viel ausgelassen, war das Schweigen zu tief, so dass ich ihre Motive nicht verstehen und die Verbindung zu ihr nicht aufbauen konnte. Da mich DAS aber interessiert hat, bin ich durch eigene Recherchen in die Geschichte der Vertreibung eingetaucht, um mir daraus Antworten zu bauen.

Und so hat Simone Kucher für mich Vertreibung und Flucht ganz neu, faszinierend, kontrastreich und - ich hätte es nicht für möglich gehalten - „zart und sinnlich“ erzählt. Ihre Position ist dabei sehr zurückhaltend, ihren Figuren und auch unserer Fantasie viel Raum lassend.
Sehr lesenswert.

Bewertung vom 03.02.2024
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


ausgezeichnet

„Als das schönste Gefühl der Welt“, so beschrieb ein Filmemacher die Erfahrung, eine Bindung mit einem wilden Geschöpf zu entwickeln.“ … „Der Kampf, der ihr oft herausforderndes Leben ist, scheint ihm sein eigenes Leben widerzuspiegeln, …“ S. 81

Und doch hat mich der Plot des Romans von Sigrid Nunez fast abgeschreckt. Ein Papagei ist allein in einer New Yorker Wohnung, weil die Familie während der Corona-Pandemie von einer Reise an die Westküste nicht in die Stadt zurückkehren darf. Die namenlose Erzählerin, eine Schriftstellerin mit Schreibblockade im Rentenalter und Freundin der Familie, nimmt sich des Tiers und der Wohnung an und sieht sich plötzlich in einer Zwangs-Wohngemeinschaft mit einem jungen Mann, der aus den Erwartungen seines Elternhauses geflohen ist und von dem sie sich so gestört fühlt, dass Sie ihn Giersch nennt. Ein Wildtier in Gefangenschaft, ein Spät-Pubertierender und Corona? Wirklich? JA unbedingt, weil es Sigrid Nunez ist und sie mich noch nie enttäuscht hat.

Denn die Handlung bildet zwar den Rahmen der Geschichte, doch ihr wahrer Wert liegt in den Gedanken, durch die die Erzählerin mäandert, die Lebenslinien, die sie verfolgt. Wie sie ihr Schreiben und ihre Schreibblockade aufdröselt, die verlorene Verbindung zu sich selbst, zu den Worten, zur Natur durchleuchtet. Die Verletzlichkeit, mit der wir als Lebewesen geschlagen, aber auch gesegnet sind, darstellt. Sie hüpft leicht und fragmentarisch durch Themen wie Männlichkeit, das Älterwerden, Feminismus, baut Entwurf auf Gegenentwurf, beginnt Erzählungen und verwirft sie wieder, erinnert und enttarnt Erinnerungen. Auch hier: eine Suche. Was ist wichtig? Was ist das, was bleibt? Und was bedeutet es zu schreiben?

Die Pandemie erscheint als eine Metapher für die Verletzlichkeit des natürlichen Gleichgewichts. Eingesperrt in unseren Wohnungen im Logdown fühlen wir uns abgeschnitten und entfremdet und suchen Halt und Trost in der Verbindung mit anderen Lebewesen und der Natur.

Und so wird die Aufgabe, sich um den verlassenen Papageien zu kümmern „eins der wenigen Dinge, das zu erledigen (sie) sich zutraute, ohne sich fragen zu müssen: Warum tue ich das?“ Wird sie so ihr Gleichgewicht und ihre Worte wiederfinden?

Voller Witz und Selbstironie, aber auch Melancholie und Verlassenheit stromert sie durch die großen Fragen des Lebens. Lakonisch und unaufgeregt, ein ruhiges Wandern durch Ansichten, Einsichten, die Literatur von Virginia Woolf, Joan Didion und anderen.
Sie schneidet viele Themen an, fast wirkt es wie ein persönliches Essay. Ein Buch zum langsam lesen. Zum Markieren und Notieren. Zum Nachdenken und Nachhallen lassen.

„Autobiografie mit einer dünnen Schicht Fiktion oder Fiktion mit einer Schicht Autobiografie?“ S. 215

Lasst Euch überraschen, was Ihr findet, denn ich glaube, das kann für jede*n etwas anderes sein.

„Das Leben ist nicht das, was man erlebt hat, sondern woran man sich erinnert und wie man sich erinnert, um es zu erzählen.“ GABRIEL GARCIA MARQUEZ (Motto)

Bewertung vom 30.01.2024
Prima facie
Miller, Suzie

Prima facie


ausgezeichnet

Die junge ehrgeizige Strafverteidigerin Tessa Ensler ist mir ein bisschen unheimlich, als sie die Bühne des Londoner Gerichtssaals betritt. Eiskalt mit allen Wassern gewaschen, treibt sie ZeugInnen im Kreuzverhör vor sich her und erwirkt Freispruch auf Freispruch. Auch und vor allem für Angeklagte sexueller Übergriffe.

Sie fragt sich nicht, ob die Mandanten ES getan haben oder nicht, für sie zählt nur das Gesetz und die juristische Wahrheit. Sie versteht sich als Sprachrohr des Gesetzes, die Entscheidung über Schuld und Unschuld trifft das Gericht. Das Gericht funktioniert dabei wie ein Theater, in dem jede*r seine Rolle spielt, seine Perücke aufsetzt, seine Robe überstreift, seine Position einnimmt und seinen Text draufhat. Ihre Rolle spielt sie perfekt. Und genießt sie:

„Dieses Sonnen im Augenblick, der langsame Sieg. Es ist ein Gefühl von Macht, das Gefühl die Situation komplett in der der Hand zu haben – und das Gegenüber weiß das.“ S. 152

Dabei hatte Tessa es schwer: in der Welt der Elite-Uni Cambridge und des Londoner Gerichts zählt Herkunft mehr als Können. Sie kommt aus prekären Verhältnissen am Rande Londons. Im Umgang mit ihrer Mutter und ihrem zu Gewalt neigenden Bruder wird die toughe Tessa weich, unsicher und verletzlich, doch springt sie auch hier in eine Rolle: die der Tochter und Schwester, die mit starkem wütendem Trotz den familiären Zusammenhalt verteidigt.

Beide Rollen stecken voller Gewissenskonflikte, in die ich voll mit hineingezogen werde. Funktioniert Gerechtigkeit wirklich so systematisch und für jeden? Zweifel regen sich leise und ohne moralischen Zeigefinger.Tessa nutzt ihre weiblichen Attribute sehr gezielt, insbesondere als weibliche Verteidigerin von männlichen Sexualstraftätern. Wie ist dann sexistisches Verhalten ihr gegenüber zu bewerten? Wo sind die Grenzen und sitzen Reste patriarchaler Glaubenssätze auch in meinen Genen?

Liebe Bookies, lest das! Es macht etwas mit Euch. Verlasst Euch auf die Wahrheit des Blurbs von Mareike Fallwickl:
„Prima facie“ ist so viel mehr als ein Roman: eine scharfe Anklage, ein Schritt-für-Schritt-Prozess, in dem wir uns für Zeugen halten, bis wir erkennen, dass wir alle schuldig sind. So muss Literatur sein, die etwas bewirken will. Dieses Buch ist für alle, die nicht länger nach den Gesetzen des Patriarchats leben wollen!“

ABER, liebe Plot-Begeisterten, es ist ein AUCH ein fesselnder ROMAN mit Dialogen und Perspektivwechseln, die den Spannungsbogen aufs Äußerste ziehen, mit einem krassen Wendepunkt, an dem die Rollen durchgetauscht werden und das Leben der Anwältin in dramatischer Weise auf den Kopf gestellt wird.
Atemlos folge ich der schnörkellos, klar und pointiert erzählten Handlung. Ich habe das Buch kaum aus der Hand legen können.

Der Roman basiert auf Suzie Millers sehr erfolgreichem Theaterstück, das am Broadway und Londoner Westend gefeiert wird, und an vielen deutschen Theatern im Programm ist. Es ist Suzie Millers erster Roman in einer großartigen Übersetzung von Katharina Martl.