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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 25.04.2024
Die Schönheit der Rosalind Bone
McCarthy, Alex

Die Schönheit der Rosalind Bone


ausgezeichnet

Catrin, die 16jährige Tochter von Mary Bone, scheint die einzige in Cwmcysgod, dem kleinen walisischen Dorf zu sein, die sich für das Schicksal der vor Jahren verschwundenen Rosalind Bone interessiert. Was ist damals passiert und warum versteckt ihre Mutter Mary die einzige Fotografie ihrer Schwester Rosalind in der Küchenschublade?

Cwmcysgod wird beschrieben wie ein lebendiger Organismus, eine verschworene Gemeinschaft, deren DNA durch Klatsch und Tratsch, sorgsam gehütete Geheimnisse, Vorurteile und Leugnung dessen was nicht sein darf, gebildet wird.

„Wenn Hinter-Vorhängen-Hervorlugen eine olympische Disziplin wäre, würde dieses Dorf Gold holen. Aber sie waren ein ganz passabler Haufen. Auf ihre distanzlose Art und Weise“

Hier lebt Susan Bone mit ihrer Familie. Ein Kind, das so schön ist, polarisiert und weckt Widerstände. Die einen lassen ihm ihr Herz zufliegen, in den anderen weckt die Schönheit Neid, Missgunst und dunkle Begehrlichkeiten. Wenn dann der Vater - der Einzige, der seine schützende Hand über es hält - bei einem Grubenunglück stirbt, ist es vogelfrei. Jahre später begibt sich Susans Nichte Catrin auf Spurensuche.

Alex McCarthy fängt ganz harm- und schnörkellos an, die illustre Dorfgemeinschaft wird uns vorgestellt, wir schauen hinter Vorhänge, Fassaden und in die kleinen und großen Abgründe dahinter, während sich der Spannungsbogen langsam aufbaut. Bis es zu einem dramatischen Wendepunkt kommt, an dem die Handlung einen verstörenden nimmt.

Die Schönheit der Rosalind Bone ist der Auslöser. Als sie geht, sagt das Dorf, es sei kein Verlust und Schönheit sei eben doch nur etwas Oberflächliches. Nicht für Rosalind. Die Schönheit hat vielleicht ihr Leben zerstört.

Eine Erzählung über die fatale Kraft der Gemeinschaft und die Stärke einer Frau, die sich aus ihr erhebt.

Mit ihrem Sinn für feine Überzeichnungen, einem Gespür für Dramaturgie und das richtige Timing hat mich Alex McCarthys sprachlich dichtes knapp 160 Seiten-starkes Debüt total überrascht und voll überzeugt.
Große Empfehlung!

Bewertung vom 21.04.2024
Vor allem Frauen
Palmen, Connie

Vor allem Frauen


sehr gut

Als ich vor Jahren nach einem Burnout verletzt und orientierungslos am Boden lag, war es u.a. Connie Palmen, die mir zurück ins Leben half. Wie für Sylvia Plath, der sie den größten Raum in ihrer Essaysammlung einräumt, galt es auch für mich, der „Vernichtung des folgsamen, passiven Mitläufers in einem selbst, des schweigenden Kollaborateurs, der sich bereitwillig den Vorschriften einer verhassten Rolle fügt“ ins Auge zu sehen.

Silvia Plath stieg im Juni 1953 auf das Dach des Barbizon Hotel in New York und warf ihre „Kleider, die sie während ihres wochenlangen Praktikums beim Frauenmagazin Mademoiselle getragen hatte,“ in alle Winde (S. 150). Sie steht in Palmens erstem Essay für die WAHRHAFTIGKEIT, zu der das Abstreifen von allem Heuchlerischen, Unaufrichtigen gehört. Connie Palmen hat keinen Sinn für halbe Sachen und für Rührseligkeiten, sie plädiert für Polarisation und dafür, die Widersprüche zwischen den Polen auszuhalten. Sie nicht zu bekämpfen, sondern anzuerkennen.

„Und wenn man die Fiktion, die herrliche, raffinierte Verquickung von echt und unecht nicht erträgt, erträgt man das Leben nicht.“ S.152

Sylvia Plath hat sie nicht ertragen. ICH hatte die Romane von Connie Palmen, um mir ihrer bewusst zu werden. Sie hat mich AUTONOMIE gelehrt und dass das wichtigste Wort im Leben NEIN ist. Viele NEINs für ein JA zu der, die man sein will. Sie hat mich gelehrt, dass alles einen Preis hat, dass Autonomie den Gegenspieler zu Intimität bildet und sie es trotzdem wert ist.

„Ich wollte allein und zusammen sein.“ (S.13)

In diesen persönlichen Essays über Schriftstellerinnen und einen Schriftsteller offenbart sie Eigenschaften, „die in deren Werk besonders hervorstechen und die zusammen die Errungenschaften der Schriftstellerin formen, die sie am liebsten wäre.“ (Motiv)

Neben den genannten sind das u.a. die UNNAHBARKEIT der Joan Didion, die ERBARMUNGSLOSIGKEIT der Janet Malcolm und das REBELLISCHE des Philip Roth. Ihn als einzigen Mann hier auftreten zu lassen, halte ich für einen Geniestreich. Denn mit ihm trägt sie ihre Unabhängigkeit und ihre Standfestigkeit auf dem Präsentierteller in die Arena. Sie hält ihn für einen „anstandslosen, lüsternen, sexsüchtigen, zwanghaft masturbierenden, rachsüchtigen, des Frauenhasses bezichtigten, ehebrecherischen, durch und durch amerikanischen Schriftsteller“ (S. 116) und LIEBT ihn trotzdem, weil „er einer der intimsten, aufrichtigsten, unerbittlichsten und geistreichsten Schriftsteller ist, den sie kennt.“

Es lebe das Aushalten der Widersprüche!

Ich ende mit Connie Palmens „Motto“ und Philip Roth Worten:
„Ein Leben in konstanter Uneinigkeit ist die beste Vorbereitung auf den Tod, die er kennt. In seinem Unvermögen sich anzupassen, findet er seine Wahrheit.“ (S.113)

Bewertung vom 21.04.2024
Vom Krähenjungen
Kettenring, Sonja

Vom Krähenjungen


sehr gut

„Es war einmal …“ So beginnt das „poetisch-düstere Erwachsenenmärchen“ in einer unbestimmten Zeit im fiktiven bayerischen Dorf Moosbruck. Es liegt am Rande eines dunklen toten Waldes, der so dicht ist, dass der Schnee nicht bis auf den Boden dringt. In dem etwas Schreckliches passiert ist. Die Dorfbewohner schweigen, bekreuzigen und bemühen sich abergläubisch, nicht mit dem Vergangenen in Berührung zu kommen.

Viele Protagonist:innen betreten die Bühne und lassen ihren Blick über das Dorf schweifen. Es wird unübersichtlich. Weiß man doch nicht, wer eine Bedeutung für die Geschichte haben wird und wie sie zueinander in Verbindung stehen. Doch bald und immer schärfer richtet sich der Fokus auf Karolina, ihre kleine Tochter Emmi und auf IHN, den KRÄHENJUNGEN, der inzwischen ein Mann ist. Sie sind ANDERS. Vor allem Sam, der Krähenjunge mit den dunklen Augen bringt mit seiner Rückkehr auch düstere Vorahnungen ins Dorf. Ist nicht alles, was bisher an Unheil geschah seine oder die Schuld seiner Familie? Er ist der Einzige, der in dem See, der niemals zufriert, schwimmen geht. Es heißt, der See gebe niemanden, der mit ihm in Berührung kommt, wieder her. Und Karolina? Sie schwimmt auch – und ertrinkt - in seinen dunklen Augen.

„Geh nicht hin, sagen sie, aber hier bist du und du wirst wiederkommen, du weißt es. Der See hat seine Fäden um dich gesponnen, du bist ihm ins Netz gegangen.“ S.14

Und dann geschieht ein Verbrechen. Zwei Polizisten kommen ins Dorf. Beginnen zu ermitteln und sich zu verstricken. Wo ist die Grenze zwischen Gut und Böse? Gibt es sie überhaupt?

„Du tauchst wieder auf, denkst, dass man sie vielleicht doch abstreifen kann, die Dinge. Sich häuten. Aber das Messer, nie ist es scharf genug und alles was bleibt, sind Narben.“ S.46

Sonja Kettenring hat hier einen poetisch und reduziert erzählten Text geschaffen, der Heimatroman, Liebesgeschichte, Krimi und Schauermärchen, in einem ist.
Er erinnert mich an einen dieser dunklen, leisen „Tatort“e, in denen es mehr um das Zeigen archaischer Naturgewalten, zerrütteter Familien und konservativer ländlicher Rückständigkeit geht, als um den Fall.

Es bleibt unkonkret und entwickelt trotzdem einen Sog, dem ich mich irgendwann nicht mehr entziehen kann. Und doch bleib ich wachsam, um nichts zu verpassen. Und am Ende beschleicht mich das Gefühl, nichts geschnallt zu haben. Oder alles. Da bin ich echt unsicher.

Ich finde, es ist ein spannendes Debüt. Sonja Kettenring wird als Informatikerin, die heute als Postbotin arbeitet und „viel lieber Geschichten als Programme“ schreibt, vorgestellt. Was mich sehr neugierig gemacht hat. Es ist eine besondere Geschichte aus einem besonderen Verlag, der seit Februar 2022 am Start ist. „Mit Büchern, die mit den Mitteln des Erzählens politische Prozesse und gesellschaftliche Veränderungen begleiten. Vornehmlich von Frauen, die etwas zu sagen, besser: zu erzählen haben.“ – Verlags-Homepage

Bewertung vom 18.04.2024
In jedem Sturm ist ein Lied
Weißbach, Julie

In jedem Sturm ist ein Lied


ausgezeichnet

„Jede Herausforderung ist eine Erinnerung an das Versprechen, den Frieden in mir zu suchen und den Anker neu auszurichten.“ S.94

Kaum wage ich es, dieses kleine Kunstwerk durch Worte zu zerreden, ihm irgendetwas hinzuzufügen, das seinen Zauber zerstören könnte, den Bildern ihre Sprache zu rauben.

Ist es ein Zufall, dass IN JEDEM STURM IST EIN LIED in meinen Beiträgen bereits als Bild neben Gabriele von Arnim steht? Ja und nein. Denn nachdem Gabriele von Arnim meine Sinne für die Schönheit und die Zuversicht auf intellektueller Ebene geöffnet und auch um Erlaubnis gekämpft hat, sie in dieser schwierigen Zeit fühlen zu dürfen, malt Julie Weißbach diesen Raum nun mit Bildern, Illustrationen, Gedanken, Erinnerungen und Lyrik bunt aus.

In ihrem Gedankenbilderbuch führt sie uns an IHREM roten Faden durch ihr Erwachsen. Filtert die Essenz aus den Jahren heraus. Wie werden wir, was wir sind, welche Erinnerungen und Begegnungen bleiben?

Es scheint, als würde sie ein Tor schaffen, durch das ihre innere Welt mit der äußeren in Verbindung tritt. Sie lässt sich auf Menschen ein, hört ihnen zu, lässt sie zu Wort kommen und betrachtet sie mit einem mitfühlenden und wohlwollenden Blick. Schaut was sie bei ihr zurückgelassen haben.

Sieht das Gute. In Bildern. Blumen im langen Haar. Sanft geschlossene Augen. Träumen.

Verbindet. Pustet Ängste weg.

Feiert die Balance zwischen Leichtigkeit und Melancholie.

„Da war auch die Melancholie, die es mir ermöglichte, tief in die Gefühle einzutauchen wie in ein dunkles Schwimmbecken. Dort unten konnte ich meine Seele in ihrer ganzen Kraft spüren, wenn sie sich an den Begrenzungen meiner Existenz rieb.“ S.12

Doch wir bleiben oben und werden immer wieder leicht. Mit sanften Worten und zarten Bildern wandern wir durch eine Welt, in der es weniger gibt. Weniger Lärm, Kampf, Müssen. Die größer wird durch Sein, Ruhen, Fließen, Tanzen.

Mich berührt Julie Weißbachs 100%ige Authentizität. Sei es ihr Account @julieweissbach, ihre Homepage, ihre zarte und zugleich kraftvolle Stimme als Singer-Songwriterin, ihre Gedanken in ihrem philosophischen Podcast mit Synje Norland "wahrhaftig_und_vehement" . Sie ist die Frau, die sie zeigt.

„Facing myself.“ Ganz.

Ein schönes Geschenk, das man sich selbst oder jemandem, dem gerade etwas Leichtigkeit gut tun könnte, unbedingt machen sollte.

Bewertung vom 09.04.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


ausgezeichnet

Ein falsches Wort kann die sorgsam gehütete Oberfläche eines familiären Zusammenseins zum Bersten bringen und Misstrauen, Missverständnis und lang gewahrte Geheimnisse dringen durch die dünne Schicht aus Friedensabkommen und Ritualen nach oben.

Die Ich-Erzählerin Bergljot lebt in einer solchen Familie. Oder besser gesagt hat sich schon vor Jahrzehnten aus ihr zurückgezogen. Was damals passierte muss einer Detonation gleichgekommen sein und hat sie in eine schwere Krise gestürzt. Auch ihr Bruder Bård hält die Familie auf Distanz. Die zwei jüngeren Schwestern Astrid und Åsa scheinen unverletzt und den Eltern die Treue zu halten. Ein Erbstreit, den die Eltern mit der ungleichen Verteilung ihrer Ferienhäuser auslösen, durchschlägt die Oberfläche und verschiebt die Machtverhältnisse. Bård schließt ein Bündnis mit Bergljot. Die möchte eigentlich nur ihren mühsam erarbeiteten inneren Frieden wahren und drängt nach vielen Jahren der Kränkungen und des Unverstandenseins doch danach, der Familiengeschichte IHRE Deutung einzuschreiben.

Ohnmächtig schauen wir Bergljots verzweifelten inneren Kämpfen zu. Unsere Perspektive ist ihre Perspektive. Donnernd rollen ihre Wut, ihre Trauer, ihr Schmerz und ihre schweren Träume durch uns hindurch. Der Text ist von einer schweren Eindringlichkeit, Gedanken in langen Sätzen wiederholend. Vigdis Hjorth lässt wortwörtlich Bomben hochgehen, Kriegshandlungen vollziehen, Feuer niedergehen. Erst wenn sich das Unbehagen tief in unsere Eingeweide gegraben hat, lässt sie uns Luft holen. Eine Seite. Ein Satz. Pause.

In einem existenziellen Sinn schreibt sie sich schonungslos bis auf die Knochen in die psychologische Struktur einer Familie hinein. Tief werde ich in die schmerzvolle Geschichte hineingezogen. Doch auch wenn der Stoff schwer ist, bleibe ich angesichts der sprachlichen Schönheit, Klarheit und eines präzisen Timings euphorisch.

In dieser Familie scheint es wie auf den großen Schlachtfeldern der Welt zuzugehen. Verhandeln lässt sich an der Oberfläche. Frieden, Befreiung und Identität liegen jedoch darunter und sind nur durch Verstehen wollen, Empathie und Anerkennung des anderen zu erreichen. Doch lässt sich das nicht erzwingen. Oder doch?

Dieses Buch sorgte bereits 2016 für Vigdis Hjorths internationalen Durchbruch und in Norwegen für einen Skandal, da die autobiografischen Züge ihre Familie auf den Plan rief und ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ veranlasste. Diese Authentizität macht die Geschichte für mich noch etwas eindringlicher. Aber auch nachdenklicher und dankbarer, dass es nicht meine ist.

Große Empfehlung!

Bewertung vom 07.04.2024
Komm tanzen!
Seldeneck, Lucia Jay von

Komm tanzen!


sehr gut

„Das Beste bei einer Party ohne Ende ist, dass man Zeit hat. Endlos Zeit. Man kann sich auf einen Steg legen und sich in den Sternen verlieren, wieder zurückfinden und sich einen Drink holen. Und noch einen Drink.“ S.74

Ich bin in Berlin (wo ich schonmal sehr gern bin) am Wannsee (auch schön), es ist ein lauer Frühlingsabend, vor mir liegt eine Wiese, der Duft von Flieder hängt in der Luft, auf der Wiese lädt eine lange Tafel in der sinkenden Abendsonne zu Essen und Trinken ein, Musik läuft, zu deren Takt sich meine Freund:innen in entspannte Stimmung wiegen, während sie plaudern, lachen, trinken, mitsingen. Hey, ich fühl mich wohl. Gleich auf den ersten Seiten bin ich zu Hause, tauche ein in diese Atmosphäre.

Sich überlassen, sich verbinden, den Alltag vergessen, den Verheißungen einer durchfeierten Nacht ausliefern. Die Zeit anhalten, die immer so schnell rast, die wir verprassen, mit der wir so großzügig umgehen, als hätten wir Ewigkeiten davon.

Aber können wir das heute noch? Müssen wir uns nicht gerade in solchen Nächten gewahr werden, wie absurd das ist? Wie wir die Zeit versuchen zu vertreiben, anstatt sie zu nutzen, anstatt hinzuschauen wie die Welt, wie wir, den Boden unter den Füßen verlieren?

Diese eine Nacht in der Gemeinschaft guter Freunde schreitet von Kapitel zu Kapitel, von Stunde zu Stunde voran. Lucia Jay von Seldeneck lässt uns teilhaben an diesem „Dazwischen“ zwischen Alltag, Vergessen, Verdrängen und Weitermachen. Sie nimmt uns mit in die tiefe Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels. Denn es gibt da noch den See, das Unergründliche, die Nixe und die Tiefe und von einem auf den anderen Moment ist jede Gewissheit verschwunden. Panik und Zuversicht diskutieren um den längeren Hebel.

Wie die Autorin in einem Interview selbst sagt, hat sie vor allem „ihre eigene Ratlosigkeit“ dazu getrieben, diesen kleinen Roman zu schreiben. Einen Roman, in dem sie auf eine Nacht verdichtet, was uns als Gesellschaft ratlos macht. „Wir haben Angst, dass sich etwas ändert, und wissen dennoch, dass sich etwas ändern muss. Und wird.“ Sagt sie selbst.

Ich hab mich sehr gern auf ihren jungen Stil, auf die Musik ihrer Sprache, auf diesen Tanz durch alle Facetten der Nacht, auch die mystischen, eingelassen, war auch manchmal ein bisschen ratlos, was grad passiert und wo es mich hinführen wird. Ich kann nur sagen: Komm Tanzen!

Bewertung vom 04.04.2024
Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann
Hörner, Unda

Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann


sehr gut

Was fasziniert uns nur so an der Familie Mann, dass wir immer wieder nach neuen Perspektiven auf diese komplexe Familiengeschichte suchen?

Erika Mann war das älteste und dasjenige der sechs Kinder von Katia und Thomas Mann, dem Thomas Mann sich am innigsten zugeneigt zeigte. Ihre Geschichte lässt sich nicht ohne den „Zauberer“, aber vor allem nicht ohne die symbiotische und undurchdringliche Beziehung zu ihrem Bruder Klaus Mann erzählen.

Unda Hörner wählt deshalb als Ausgangspunkt und Ende ihrer Biografie den 21. Mai 1949, den Tag an dem Klaus Mann in Cannes den Freitod wählte. Erika weilt – von bösen Ahnungen beschlichen – zu dem Zeitpunkt mit ihren Eltern in Stockholm. Die erste Reise der Manns nach dem Krieg und dem Exil durch Europa, auf der Thomas Mann verschiedene Reden halten und wichtige Auszeichnungen entgegennehmen wird. Verstörend wirkt es auf Erika und auch auf mich, dass die Eltern ihr Programm weiterverfolgen, anstatt zu der Beerdigung nach Cannes aufzubrechen. Von tiefer Trauer und großen Schuldgefühlen durchdrungen, beginnt Erika den Nachlass ihres Bruders zu ordnen. Dabei blickt sie zurück auf die Jahre ihrer Jugend, auf die Zeit zwischen den wilden 20ern und diesem schicksalhaften Tag im Mai 1949.

Unda Hörner erzählt das Leben der Schauspielerin, Kabarettistin und Publizistin Erika Mann vor allem als gemeinsame Geschichte der exzentrischen Geschwister Klaus und Erika Mann. Sie widersetzen sich, bäumen sich auf gegen patriarchale, festgefahrene, bürgerliche Werte, probieren sich aus, erkunden die Welt und erlauben sich jede Freiheit: politisch, sexuell und künstlerisch. Und widmen ihre Leben vor allem dem Antifaschismus und dem Widerstand gegen die Nazis.

Erika Mann erwacht in ihrer ganzen Vielfalt und Lebendigkeit zu einer quirligen, getriebenen, auch streitbaren Frau, die sich kompromisslos für ihre Ideale und auch ihre Familie einsetzt. Diese Lebendigkeit erzeugt Unda Hörner mit einer einfühlsamen, fließenden, klaren Sprache, die ganz dem Wesen von Erika Mann entspricht, die „von herbem Charme,“ und „dem kräftigen Tonus der Entschlossenheit“ getragen, aber auch zart und mitfühlend sein kann.

Ich habe diese Biografie sehr gern gelesen und empfehle sie, wenn man sich fundiert, aber ohne Fußnoten und unendliche Querverweise dem Leben von Erika Mann und ihrer Familie annähern möchte.

Bewertung vom 25.03.2024
Fest
Zindel, Mireille

Fest


sehr gut

Mireille Zindel nimmt uns mit in den Kopf und die Seele von Noëlle. Noëlle ist Schriftstellerin und flieht vor den Lasten ihres Lebens und um zu schreiben in ein Haus auf dem Land im schweizerischen Jura. Sozialen Kontakten geht sie aus dem Weg. Allein bei der „Hexe“ Muira schaut sie regelmäßig vorbei und besucht ihre Therapieeinheiten bei ihrem Psychiater. Ängstlich und abergläubisch wirkt sie bei allem, was sie tut und denkt. Ihre Spaziergänge in die nahe Umgebung, über die nassen Felder und Weiden, am Wald entlang halten sie immer in einem engen Radius um das Haus. Ihre Gedanken kreisen ebenso eng und unaufhörlich um David, ihre leidenschaftliche, aber wie es scheint, unerhörte Liebe. David ist wie sie verheiratet und was von jeder ihrer Fasern vor 5 Jahren obsessiv Besitz ergriffen hat, wird von ihm vage gehalten und wurde vielleicht sogar inzwischen beendet. Seine Likes ihrer Beiträge versteht sie als Austausch von Liebesnachrichten, doch reale Kontaktaufnahmen bleiben ohne Antwort.

Soweit Noëlles Blick auf die Geschichte. Doch bald merken wir, dass die Realität eine ganz andere ist und dass sich in Noëlle eine dunkle, emotionale Abhängigkeit entwickelt hat, die nicht zu beherrschen scheint und sie in eine völlig andere Wirklichkeit führt.

Das hat mich umgehauen. Denn Noelle wirkt zunächst durchaus identifikativ. Ihre Obsession für David ist mir von Anfang an etwas fremd, aber ansonsten wirkt sie sehr nahbar und angebunden. Das Setting in der inneren und äußeren Isolation erinnert mich an Marlen Haushofers „Die Wand“. Doch nach und nach offenbart sich uns etwas, das Zweifel sät, nach und nach kommt das Gefühl auf, dass etwas anderes nicht stimmt. Und auch wenn die Handlung sehr langsam und entschleunigt dahinfließt, baut sich aus diesem Gefühl eine intensive Spannung auf. Was ist Wahn und was Realität und worin liegt die größere Freiheit?

„Die größte Freiheit ist, sich freiwillig zu zerstören. Die Freiheit der Selbstmörder, ihr Körper gehört ihnen. Deshalb behält der Mensch tödliche Angewohnheiten wie rauchen, trinken, Drogen nehmen, den falschen Menschen lieben. Für das erhabene Gefühl der Freiheit.“ S.79

Die gut 400 Seiten mit einer überschaubaren Handlung sind ein Kammerspiel. Ein Monolog. Ein Mäandern durch Noëlles innere Wirklichkeit, ihre Gedanken, Empfindungen, literarischen Erfahrungen, ihre Ängste und ihren Wahn. Wir streifen mit ihr durch die Landschaften des Jura. Der Text ist locker, zeitweise wie Lyrik mit nur wenigen Worten in einer Zeile gesetzt, den einzelnen Gedanken Raum gebend, das wirre Abschweifen deutlich machend.

Ich freue mich jedes Mal auf den Sanftmut und die Entschleunigung, die mich beim Lesen erfassen. Das hat ein bisschen gedauert, denn ich bin ja bekanntlich eine ungeduldige Leserin und kann Langsamkeit schwer aushalten. Hier hat sie mich gepackt und geerdet.

Mireille Zindel ist der fünfte Roman der Schweizer Autorin und bestimmt nicht mein letzter.

„Es heißt, man fürchte sich vor den Dingen, die man sich am meisten wünscht. Ließe sie sich los, kehrte sie vielleicht nie wieder. Sie würde weiter und immer weitergehen, ohne zu wissen wohin.“ S.65

Bewertung vom 15.03.2024
Die Unordentlichen
Rubert, Xita

Die Unordentlichen


sehr gut

Die 17jährige Virginia ist mit ihrem Vater in einer Stadt im spanischen Norden, um der Preisverleihung für einen Studienfreund ihres Vaters beizuwohnen. Mit dem reichen, exzentrischen Mr. Kopp sind seine geheimnisvolle Frau Sonya und Bertrand, vielleicht deren Sohn, ein Performancekünstler, ein Verrückter oder alles zugleich, angereist. Auch das spanische Königspaar wird erwartet, alle sind in heller Aufregung. Virginia erlebt zwischen den eigensinnigen Erwachsenen ihr Erwachen, fühlt sich von dem seltsamen Bertrand zunächst abgestoßen und dann angezogen, spürt der geheimnisvollen Sonya nach, schaut zu dem eloquenten Mr. Kopp auf und wird in diesen wenigen Stunden ordentlich durchgeschleudert.

Parallelen zu der jungen Virginia Woolf sind nicht zufällig. Auch wenn das Setting irgendwo in der heutigen Zeit angesiedelt ist, erinnern auch die Sprache, der förmliche blasierte Umgangston und die Requisiten an eine Dramödie im viktorianischen Zeitalter.

Angriffslustig kommt dieser Text auf mich zu. Will mich verwirren, mich mit klugen Sätzen und Gedanken locken, um mich in der nächsten Minute aus der Träumerei zu wecken und mich in eine Welt zu schubsen, die ich nicht mehr verstehe. Mein Ehrgeiz ist geweckt, ich pirsche mich nochmal an, verstehe, dass nichts ist, was es ist und alles voller Symbolik steckt und im nächsten Moment schon wieder ganz anders sein könnte.

So muss sich auch Virginia die ganze Zeit fühlen. Alles ist volatil, widersprüchlich, nicht zu durchschauen. Menschliches Verhalten, Gefühle, Worte haben nichts Verlässliches. Mal ist Bertrand B., mal Bert, mal Du … wie einfach war es nur mit dem Vater, der einem immer sagte, wo es lang geht.
Ich mag ja solche Texte, die mit mir und Formen spielen und die mich herausfordern. Aber hier platzt mir fast der Kopf. Und doch will ich es spüren, die Sätze nehmen, durch einen Wald mit ihnen laufen und sie einwirken lassen. Doch am Ende bin ich nicht sicher, ob ich es verstanden habe oder nicht und ob es mir gefallen hat oder nicht.
Entscheidet selbst, ob Ihr es wollt. Ich steh auf dem Kopf und der raucht.

Bewertung vom 15.03.2024
Bloodbath Nation
Auster, Paul;Ostrander, Spencer

Bloodbath Nation


ausgezeichnet

Hätte ich dieses Essay gelesen, wenn es nicht von PAUL AUSTER gewesen wäre? Vermutlich nicht. Weil es mir zu weit weg ist? Weil wir – wie Paul Auster schreibt – „auf fernen Kontinenten dem entsetzt und ratlos zuschauen, nicht weniger erschüttert, als wir es sind, wenn wir von Genitalverstümmelungen an jungen Mädchen lesen, oder dass anderswo Frauen zu Tode gesteinigt werden, wenn ihre Ehemänner ihnen Untreue vorwerfen.“? Ja, vielleicht ist es das. Doch das, was die Amerikaner mit ihren Waffen haben, die tiefe Spaltung, die die Frage durch die Gesellschaft zieht, die kulturelle Verwurzelung „der Vergottung des Waffentragens“ fühlt sich näher an als ich dachte, ähnlich nah wie die Diskussion um das Tempolimit auf unseren Straßen.

Paul Auster geht das Thema persönlich und weniger wissenschaftlich an. Ausgehend von seiner Familiengeschichte, in der die Großmutter seinen Großvater erschoss und damit die Familie schwer zerrüttete, verdüsterte und traumatisierte, erzählt er seine Kindheit und Jugend im „wilden Westen“, der in den USA der 50er Jahre auch im Osten war. Schießübungen gehörten zum Ferienlager genauso selbstverständlich dazu wie das Stockbrot am Lagerfeuer. Von dort geht er zurück in die amerikanische Geschichte und kommentiert die Verwurzelung der Waffe in Privateigentum, die weit zurück in die Siedlungs- und Gründungsgeschichte der USA reicht.

Es bleibt jedoch eine persönliche Abrechnung, die durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos des US-Fotografen Spencer Ostrander von mehr als 30 Schauplätzen von Amokläufen unterstrichen wird. Allesamt Plätze der Stille unter völliger Abwesenheit von Menschen, „Grabsteine kollektiver Trauer“, beklemmend, manchmal ganz friedlich wirkend, aus einer Perspektive, die der Amokläufer vielleicht eingenommen hat, bevor er sein Werk verrichtete.

„Auf ein Wort stößt man […] immer wieder: Einsamkeit, unerträgliche, erdrückende Einsamkeit, es ist dieselbe Einsamkeit, die Millionen andere Amerikaner auf die eine oder andere Weise dazu treibt, Trost im Vergessen zu suchen – zu viele Drogen, zu viel Alkohol, obsessive Flucht in die Labyrinthe des Internets.“ S.114

Es geht um Gefühle, um die Angst, die zu Gewalt führt und die Angst, die aus ihr entsteht und die wiederum zu blinden Entscheidungen führt. Es geht um den Teufelskreis, um das Begreifen, das Verstehen.

Mich hat es sehr bewegt und auch wenn das vielleicht nicht UNSER Thema ist, so lässt sich doch auf UNSERE Themen schließen und lassen sich Parallelen denken, die Diskussionen anregen.