Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Tsubame

Bewertungen

Insgesamt 48 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


weniger gut

Manche Bücher machen mich ärgerlich ...

... und der Roman "Tasmanien" von Paolo Giordano ist ein solches.

Klappentext: "Tasmanien erzählt die Geschichte eines Mannes, der die Kontrolle über sein Leben verloren hat und nun auf der Suche nach seiner, nach unserer Zukunft ist."

Ich glaube nicht, dass der Protagonist des Buches, der zufällig genauso heißt wie der Autor selbst, überhaupt auf der Suche ist. Und schon gar nicht sucht er nach meiner/unserer Zukunft. Ich glaube eher, dass er von all den Krisen in der Welt wie Terror, Klimawandel, etc. bereits so abgestumpft ist, dass er gar nicht weiß, was ihm eigentlich fehlt.

Nachdem ihm seine ältere Lebensgefährtin dann auch noch mitteilt, dass sie nach Jahren vergeblicher Versuche schwanger zu werden, nun nicht mehr "die Absicht habe", stürzt es Paolo in eine tiefe Krise. Er lässt sich treiben und später dann regelrecht gehen. (Verstörend fand ich übrigens, dass sich der Protagonist Hinrichtungsvideos auf Youtube ansieht).

Durch seinen Freund Giulio lernt er den Wolkenforscher Novelli kennen, dem der Roman seinen Titel verdankt. Denn auf die Frage hin, wo dieser im Fall der Apokalypse Land kaufen würde, antwortet Novelli :" In Tasmanien. Es ist südlich genug, um nicht unter extremen Temperaturen zu leiden. Es hat reichlich Süßwasserreserven, wird demokratisch regiert, und es leben dort keine Fressfeinde der Menschen. Es ist nicht zu klein, ist aber jedenfalls eine Insel, also leicht zu verteidigen."

Paolo fühlt sich zu diesem Mann hingezogen.

"An ihm zog mich im weitesten Sinn die Intelligenz an, oder besser, die Strenge, mit der die Intelligenz einsetzte. Aber es war nicht nur das. Er gefiel mir aus einem Grund, der über den Gedankenaustausch hinausging, über die gemeinsamen Wurzeln in der Physik und die geteilte Sorge über die Erderwärmung. Seine Physis hatte viel damit zu tun. Meistens wird in Männerfreundschaften die körperliche Komponente unterschätzt, aber in einigen meiner Männerfreundschaften spielte sie eine zentrale Rolle. Novelli machte da keine Ausnahme: das runde Gesicht, die glänzenden dunklen Augen, der nicht eigentlich dicke, aber doch füllige Rumpf, betont auch durch die enganliegenden Hemden, die er gern trug. Er befasste sich mit Wolken, schien aber wesentlich mehr Bodenhaftung zu haben als ich, und das vermittelte mir ein Gefühl von Konkretheit, in einem Moment, da ich ganz offensichtlich das Bedürfnis danach verspürte." (S. 133)

Meine Schlussfolgerung: der Protagonist befindet sich in einer regressiven Phase und sucht nach einer Vater- und Leitfigur.

Novelli wird sich später als absoluter Chauvinist mit frauenverachtenden Thesen herausstellen, aber Paolo wird ihm trotzdem nicht die Freundschaft aufkündigen, auch wenn er sich von den Aussagen des Wolkenforschers distanziert.

Währenddessen ist Paolos Ehe auf einem Tiefpunkt angelangt. Paolo meidet das gemeinsame zuhause, reist (trotz Klimaängsten) noch mehr als zuvor in der Welt herum, wohnt in Hotels und lässt den/die Leser(in) auch an seinen dortigen Aktivitäten teilhaben:

"Nach dem Check-in tat ich immer die gleichen Dinge in der gleichen Reihenfolge: masturbieren, ausgiebig heiß duschen, an die Minibar gehen, einen Toast aufs Zimmer bestellen, Lorenza anrufen, bevor ich zu betrunken war, um das Gespräch führen zu können, noch mehr trinken, nochmal masturbieren, wenn ich die Kraft dazu hatte." (S.237)

Spätestens an dieser Stelle habe ich um die Bäume getrauert, die für das Buch ihr Leben lassen mussten. Wenn ich dann noch lese, dass dieser Roman in Italien monatelang auf der Bestenliste stand und das meistgelesene Buch des vergangenen Jahres ist, gibt mir das wirklich zu denken.

Da Paolo unbedingt ein Buch schreiben will (warum eigentlich?) wählt er als Thema die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Das passt natürlich gut zu der depressiven Stimmung des Protagonisten, der rein gar nichts unternimmt, um seine und die Lage der Welt positiv zu beeinflussen. Immer sind es die Anderen, die auf ihn zugehen müssen.

Und was findet Paolo schließlich am Ende seiner Odyssee heraus, als er von einer Japanerin gefragt wird, warum er über die Bombe auf Nagasaki schreiben will? Achtung spoiler!!! "Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat".

Warum, frage ich mich da, führen manche Leute nicht einfach ein Tagebuch, anstatt aus ihren persönlichen Krisen gleich ein Buch zu machen?

Nein, mich hat das Buch nicht zum Nachdenken gebracht. Mich hat es verärgert und ich hoffe nicht, dass der Autor Paolo Giordano seinem Protagonisten Paolo in irgendeiner Weise gleicht. Vielleicht sollte dieser ein wenig Camus lesen und sich mit der Absurdität des Lebens beschäftigen. Dann könnte er lernen, das Absurde zu akzeptieren und dagegen zu rebellieren.

Von mir leider keine Leseempfehlung für diesen Roman, der mich in keiner Weise bereichert hat.

Bewertung vom 06.09.2023
Der Vorweiner
Bjerg, Bov

Der Vorweiner


weniger gut

Wird mit der Zeit extrem langweilig

Klappentext: "Es gab eine Zeit, da weinten die Menschen um ihre Angehörigen. Heute trauert nur, wer sich nichts besseres leisten kann".

Und so besorgt sich diese vermögende Oberschicht quasi als 'letzten Schrei' einen 'Vorweiner'. Das sind Menschen aus Ländern außerhalb der Festung Resteuropa, wobei es bei den Qualitäten eines Vorweiners starke Unterschiede geben soll. Besonders gefragt sind Männer aus Westafrika, wohingegen es starke Vorbehalte gegenüber den Vorweinfähigkeiten der Männer aus Südostasien gibt.

A wie Anna, um die es in diesem Buch geht, hat sich für einen Vorweiner aus den Niederlanden entschieden. Dieser lebt schon vor ihrem Ableben bei ihr zu Hause, um eine Bindung aufzubauen, die es ihm erlaubt, angemessen und beeindruckend zu weinen, wenn es erst einmal soweit ist.

Dann gibt es da noch B wie Berta, Annas Tochter, die als Klickbeuterin arbeitet, d.h. sie schreibt Nachrichten, die nach Menge bezahlt werden. Zum Schluss einer jeden Nachricht ertönen immer die Schreie der Leute, um die es in der jeweiligen Nachricht geht.

Das fand ich anfangs originell, flachte aber mit jeder weiteren Wiederholung ab (wie bei einem Witz, über den man - weil neu - einmal lacht, der einem von einem 'Witzbold' aber immer und immer wieder erzählt wird).

Mit der Zeit hat sich bei mir folglich eine gähnende Langeweile eingestellt, denn die Geschichte ist nicht nur kompliziert konstruiert, sie ist auch einfach viel zu lang für das, was sie eigentlich zu erzählen hat. 238 Seiten waren einfach zu viel, um mich dauerhaft bei der Stange zu halten. Ich habe bis S. 135 tapfer durchgehalten und dann beschlossen, dass der Roman von Bov Bjerg und ich einfach keine best friends werden können.

Bewertung vom 25.08.2023
Prophet
Blaché, Sin;Macdonald, Helen

Prophet


ausgezeichnet

Wenn Nostalgie zur tödlichen Falle wird

Eigentlich bin ich überhaupt kein Scifi-Fan und habe mich auf das Buch nur deshalb beworben, weil mir der Name Helen MacDonald und ihr Roman "H wie Habicht" (der leider schon viel zu lange auf meinem SUB ruht) ein Begriff sind und weil es mich dieses Jahr unbewusst zu Büchern hinzieht, die sich mit Zukunftsszenarien beschäftigen.

Schnell war ich in der Geschichte drin, habe gestaunt, war fasziniert und habe den Wälzer für meine Verhältnisse in sehr kurzer Zeit zu Ende gelesen. Nachdem ich dann auch noch auf einen Artikel der beiden Autorinnen Helen Macdonald und Sin Blaché gestoßen bin, die das Buch während des Lockdowns gemeinsam geschrieben haben, bin ich nun schwer beeindruckt. Vielleicht ist es ja ein glücklicher Zufall, dass die Veröffentlichung genau in den Sommer 2023 fällt, der in der Kinowelt als "Barbenheimer" in Erinnerung bleiben wird, denn die Beschreibung "Barbie meets Oppenheimer" trifft es auf den Punkt.

In der Geschichte geht es um rätselhafte Vorkommnisse wie das plötzliche Auftauchen eines amerikanischen Diner auf einem Feld im ländlichen England in der Nähe einer Militärbasis. Damit verbunden ist ein Todesfall, auf dessen Untersuchung zwei sehr unterschiedliche Charaktere angesetzt werden:

Der eine, Adam Rubenstein, ist ein undurchschaubarer Geheimagent, der nur für seinen Job lebt. Der andere, Sunil Rao, ehemaliger MI6-Agent, hat die Gabe Lüge und Wahrheit zu erkennen. Mich hat letzterer von seiner extravaganten und überdrehten Art her an "Prince" denken lassen. Die beiden haben schon früher zusammen gearbeitet, wobei Adam hauptsächlich die Aufgabe zukam, auf Rao aufzupassen, der neben einem schweren Drogenproblem die Begabung hat, sich regelmäßig mit allen erdenklichen Leuten anzulegen.

Die Dialoge der beiden sind nicht immer ganz einfach zu verstehen, weil vieles unterschwellig kommuniziert wird, aber irgendwie passt das auch zu einem Paar, das sich seine Gefühle für einander nicht so recht eingestehen mag (sich dieser zunächst auch gar nicht bewusst ist).

Ich persönlich fand die Story fesselnd und den Showdown nervenaufreibend spannend. Wenn man dann noch liest, dass die beiden Autorinnen eine Fabel darüber schreiben wollten, wie gefährlich es ist, die Vergangenheit auf Kosten der Vorstellung von einer Zukunft zu verklären, dann ist ihnen das absolut gut gelungen, finde ich.

In dem Roman "Prophet" wird Nostalgie zur lähmenden und tödlichen Waffe für all diejenigen, die dafür empfänglich sind. Daneben beinhaltet das Buch eine queere Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich durch ihre Kindheit oder eben durch ihre besondere Gabe zu zwei Persönlichkeiten entwickelt haben, die entweder anecken oder sich aber bis zur Selbstaufgabe angepasst haben, die in ihrem tiefsten Inneren aber beide furchtbar einsam sind.

Und doch sind es eben diese beiden Außenseiter, denen die schwere Aufgabe zukommt, die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren...

Ich persönlich könnte nicht sagen, für wen dieser Roman etwas sein könnte und für wen wohl eher nicht. Es ist ein bisschen wie beim Kochen. Die einen probieren gerne mal etwas Neues aus und sind überrascht, wie gut ihnen das Resultat schmeckt, die anderen haben feste Erwartungen und sind enttäuscht, weil es eben nicht so ist, wie sie es gerne haben wollten.

Bewertung vom 18.07.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


sehr gut

Wenn sich im Leben alles um einen Popstar dreht

Akari ist seit ihrer Kindheit Fan von Masaki, einem J-Pop-Star, den sie einst in der Rolle des Peter Pan gesehen hat. Genau wie dieser, weigert sie sich, erwachsen zu werden. Zwar jobbt sie neben der Schule in einem Lokal, um sich das Geld für Masakis Konzerte und zahlreiche Fan-Artikel zu verdienen, hat ansonsten aber wenig Antrieb, etwas aus ihrem Leben zu machen.

Während sie sich auf ihrem Blog intensiv mit ihrem Idol auseinandersetzt und seine Konzertmitschnitte rauf und runter schaut, wird sie in ihrer Besessenheit immer dünner und energieloser. Akaris Leistungen in der Schule lassen nach, sie schleppt sich durch die Tage, in denen allein der Gedanke an Masaki ihr Halt zu geben scheint.

Als die Band sich schließlich auflösen will, bringt der Schock Akari an die Grenze des Erträglichen.

"Bitte nicht. Nehmt mir nicht meinen Mittelpunkt, meine Wirbelsäule. Ohne Masaki kann ich nicht weiterleben, wirklich nicht." (S.111)

"Idol in Flammen" ist ein schockierendes Buch. Es erzählt von der Wahrnehmung eines weiblichen Fans, ihrer Besessenheit bis hin zur Selbstaufgabe. Keiner in ihrem Umfeld scheint zu bemerken, wie schlecht es ihr eigentlich geht. Es ist ein Leben in einer virtuellen Blase, die mit einem Male zum Platzen gebracht wird.

Interessantes Thema, gut geschrieben, lesenswert!

Bewertung vom 29.04.2023
Fünf Winter
Kestrel, James

Fünf Winter


ausgezeichnet

Schauplatz 2. Weltkrieg, aber in Asien

Ich habe bisher noch nie einen Thriller oder Krimi gelesen, der während des 2. Weltkriegs in Honolulu, Hongkong oder Tokyo spielen würde. Das war schon mal der erste angenehme Überraschungseffekt, mit dem mich "Fünf Winter" von James Kestrel begeistern konnte. Die Schauplätze sind gut recherchiert und das bombardierte Japan hatte ich bildlich vor Augen. Überhaupt hat das Buch etwas sehr Cineastisches an sich und es würde mich nicht wundern, wenn es schon bald verfilmt würde.

Aber auch die Story ist atemberaubend. Während man es zunächst mit einem bestialischen Doppelmord eines amerikanisch-japanischen Pärchens zu tun hat, entwickelt sich der Fall im Verlauf der Geschichte zu etwas viel Größerem als man dies anfangs vermutet hätte.

Joe McGrady, Detective beim Honolulu PD, der auch schon Erfahrungen bei der Army sammeln konnte, bekommt den Auftrag, den Fall aufzuklären. Man stellt ihm als Kollegen Fred Ball zur Seite, der für seine zweifelhaften Verhörmethoden bekannt ist. McGradys Vorgesetzter, der Kette rauchende Captain Beamer, hält ihn an der kurzen Leine, doch als eine Spur nach Hongkong führt, ist es schließlich McGrady, den man allein ins Flugzeug setzt ...

Ab hier möchte ich eigentlich nichts weiter verraten, denn das würde schon ein paar überraschende Wendungen vorweg nehmen. "Fünf Winter" wird es dauern, bis McGrady von seiner Mission zurückkehrt. Man begleitet ihn gerne, diesen hartgesottenen, aber auch empfindsamen Ermittler, und gerät beim Lesen in einen Sog, der einen bis zum Ende in Atem hält.

Den Edgar Award hat dieses Buch wirklich zu Recht gewonnen. "Fünf Winter" ist ein durch und durch gelungener Thriller!

Bewertung vom 29.04.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


sehr gut

Oh Captain, mein Captain!

Bei diesen Worten aus dem gleichnamigen Gedicht Walt Whitmans musste ich augenblicklich an den Film "Der Club der toten Dichter" denken. Und auch diese Geschichte, die sich jener Worte bedient, umweht eine leise Melancholie und sie handelt vor allem von Freundschaft, Liebe und Verlust.

Alles beginnt mit einem Sonnenblumenbild, einer Kopie nach Art van Goghs, das Carol Judd in einer Tombola gewinnt und das sie entschlossen gegen ihren brutalen Ehemann verteidigt, der lieber eine Flasche Scotch gehabt hätte.

Schon ein paar Seiten weiter geht es dann um Ellis, Carols Sohn, der in einer Lackiererei arbeitet, wo es seine Aufgabe ist, Dellen zu entfernen. Ellis ist ein Einzelgänger, so scheint es, und er trägt einen großen Kummer mit sich herum. Man ahnt, dass es dabei um seine Frau Annie gehen muss, denn er redet mit ihr, obwohl sie nicht da zu sein scheint. Allmählich entfaltet sich die Geschichte um Ellis und eine weitere Person kommt ins Spiel: Michael, Ellis bester Freund aus Kindertagen. Beide unzertrennlich, bis Annie in Ellis' Leben tritt.

Nun könnte man vermuten, dass es sich um eine Dreiecks- oder aber Eifersuchtsgeschichte handelt, aber dem ist nicht so. Vielmehr geht es um Freundschaft und Verlust, Jugend, Liebe, Scham, Eltern, Vergebung ... eben all das, was ein Leben prägt .

Die Geschichte ist sehr melancholisch und wehmütig erzählt. Man erfährt einiges, womit man nicht gerechnet hätte und zum Schluss gibt es zwar kein Happy End (das wäre auch reichlich platt gewesen), aber doch wenigstens einen Hoffnungsschimmer ...

Ein schöner Roman der leisen Töne. Mir hat er gefallen!

Bewertung vom 12.10.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

Spannend wie ein Krimi

Die amerikanische Autorin Katie Kitamura hat einen Roman geschrieben, in dem es eine junge New Yorkerin nach Den Haag verschlägt, wo sie eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof angenommen hat.

Als wir sie als Leser(innen) kennenlernen, ist sie seit kurzer Zeit in einer Beziehung mit dem gut aussehenden Adriaan, der aber noch verheiratet ist und dessen Frau mit den Kindern nach Lissabon gezogen ist.

Er bittet die junge Frau, in seine Wohnung zu ziehen und auf ihn zu warten, während er die Dinge in Lissabon regeln will. Doch aus der angekündigten Woche werden mehrere Monate, ohne dass irgendeine Nachricht von Adriaan käme.

Indessen wird die Dolmetscherin in einem Fall eingesetzt, bei dem einem afrikanischen Kriegsverbrecher der Prozess gemacht werden soll. Das löst in ihr zahlreiche Emotionen und Gedanken aus, wird ihr doch schließlich abverlangt, beim Übersetzen die Position des Angeklagten zu vertreten. Dieser schreckt auch nicht davor zurück, seine Verteidiger, das Publikum und die Dolmetscherin zu manipulieren und für seine Zwecke zu benutzen. Doch während dies für die Anwälte und andere Kollegen "Business as usual" ist, beginnt sich die junge New Yorkerin mit ihrer Situation intensiv auseinanderzusetzen.

Als Leser(in) ist man sozusagen in ihrem Kopf immer mit dabei, beobachtet, analysiert und zieht seine Schlüsse, die nicht unbedingt richtig sein müssen und die sich je nach Situation immer wieder verändern.

Ich persönlich fand das ausgesprochen spannend und bin in einen regelrechten Lesesog geraten. Neben Adriaan und dem Kriegsverbrecher lernt man noch andere Personen kennen, zu denen sich gewollt oder ungewollt Intimitäten aufbauen. Lesenswert!

Bewertung vom 12.10.2022
Gespräche auf dem Meeresgrund
Leeb, Root

Gespräche auf dem Meeresgrund


sehr gut

Drei Ertrunkene - der Eine, der Andere und die Dritte - stoßen im Mittelmeer auf einander. Der Eine ist einer der unzähligen Flüchtlinge, die bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren ums Leben kamen, der Andere gehört zu jenen, für die das Mittelmeer eine Art Vergnügungsort darstellt und der von einem Kreuzfahrtschiff betrunken über die Reling gefallen ist. Die Dritte wiederum hatte andere Gründe, warum sie den den Tod im Mittelmeer fand..

Hier unten gibt es keine Geheimnisse mehr. Selbst die eigenen Gedanken sind für alle anderen hörbar und so entspinnen sich zwischen den 3 Ertrunkenen Gespräche, die sie zu Lebzeiten wohl nicht geführt hätten.

Ab und zu ziehen Poseidon und ein paar andere mythologische Wesen vorbei und haben ihre ganz eigenen Betrachtungen zur Gattung Mensch.

Die Geschichte von Root Leeb ist ungewöhnlich und hat mir aus verschiedenen Gründen gut gefallen: zum einen fand ich die Idee interessant, drei Tote unterschiedlicher Herkunft auf einander treffen zu lassen und dafür das Mittelmeer zu wählen, zum anderen hatte ich die Szenen so deutlich vor Augen, als säße ich im Theater und würde einer Inszenierung zusehen. Auch die Bilder von Root Leeb, mit denen die Geschichte illustriert ist, fand ich sehr passend und ansprechend.

Fazit: "gespräche auf dem meeresgrund" ist eine kleine aber feine Geschichte, die nachdenklich stimmt und mir ein paar schöne Lesestunden beschert hat.

Bewertung vom 23.08.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


gut

Hmm...

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich von dem Roman "Auf See" nun eigentlich halten soll.

Die Geschichte beginnt mit der 17jährigen Yada, die auf einer künstlichen Insel vor Deutschland lebt, an deren Entwicklung ihr Vater maßgeblich beteiligt war. Yada weiß aus Erzählungen ihres Vaters, dass das Festland längst im Chaos versunken ist, sie hat keinen Zugang zu Internet oder anderen Medien und wird ausschließlich in Naturwissenschaften unterrichtet, da sie alles Musische zu stark überreizen könnte. Ihre Mutter soll an einer rätselhaften Krankheit gelitten haben, weshalb Yada vorbeugend Medikamente nehmen muss und regelmäßige Therapiesitzungen hat.

In einem zweiten Erzählstrang lernt man Helena kennen, die offensichtlich auf dem Festland lebt und als eine Art Kunstprojekt eine Sekte gegründet hat, nachdem sie in der Vergangenheit ein paar Vorhersagen gemacht hat, die zufällig auch eingetroffen sind. Doch es ist ihr eher lästig, die Anführerin zu sein und so sägt bereits ein anderer an ihrem Stuhl

Dann gibt es da noch gelegentliche Kapitel-Einschübe mit dem Titel "Archiv", in denen man von gescheiterten Utopien und unglaublichen Betrügereien erfährt, die historisch belegt sind. Letztere lesen sich sehr nüchtern und wissenschaftlich und haben mich nach einer Weile eher genervt als bereichert.

Fazit: Die Geschichte beginnt vielversprechend und ist auch gut erzählt, wird aber durch die "Archiv"-Einschübe immer wieder ausgebremst und hat eigentlich auch kein richtiges Ende. Ich wüsste im Nachhinein nicht zu sagen, was mir die Autorin mit ihrem Roman jetzt eigentlich sagen wollte. Schade!

Das Cover finde ich übrigens wieder sehr gelungen.