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Tsubame

Bewertungen

Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 03.05.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Kindliche Verzweiflung

"Der ehrliche Finder" von Lize Spit ist mit seinen 125 Seiten ein eher schmaler Band und wurde ursprünglich für die alljährliche Boekenweek (deutsch: Bücherwoche) erstellt, die in den Niederlanden auf eine lange Tradition zurückblickt.

Inspiriert von einer zehnköpfigen Familie, die im November 1998 auf der Flucht vor dem Krieg im Kosovo in Viersel landete, hat Lize Spit diese Geschichte geschrieben, bei der es um die Freundschaft zweier Jungen geht. Der eine ist Jimmy, den wir als Leser(innen) zu Beginn gleich bei einem seiner Streifzüge durch den Ort auf der Suche nach vergessenen Münzen in Automaten und Einkaufswagen kennenlernen. Jimmy ist leidenschaftlicher Sammler von "Flippos", die sich in Chipstüten finden und er verfolgt sein Hobby mit großem Ernst.

Als der wenig ältere Flüchtlingsjunge Tristan neu in seine Klasse kommt und man diesen neben ihn setzt, beschließt Jimmy, Tristan nicht nur durch das Schuljahr zu begleiten, sondern ihn auch zu einem Flippo-Sammler auszubilden.

Doch es kommt anders. Die Familie Tristans soll abgeschoben werden und so ersinnen Tristan und seine Schwester Jetmira einen Plan, bei denen ihnen Jimmy helfen soll ...

Dies war mein erstes Buch von Lize Spit und ich fand es ausgesprochen schön geschrieben. Bereits nach ein paar Seiten hatte ich Jimmy mit seiner Leidenschaft und Gewissenhaftigkeit ins Herz geschlossen, war ich früher doch selbst leidenschaftliche Sachensucherin und habe sogar einen Verein gegründet, der aus zwei Mitgliedern bestand: meiner besten Freundin und mir.

Dass Tristan Jimmys Leidenschaft nicht so recht teilen mag, liegt zum einen daran, dass er zwei Jahre älter ist als dieser. Außerdem hat er andere Sorgen und ist nach der Flucht aus dem Kosovo stark traumatisiert.

Die Geschichte berührt und ist spannend erzählt; eine weitere Perle aus Flandern und den Niederlanden, die den diesjährigen Länderschwerpunkt der Leipziger Buchmesse bilden.

Bewertung vom 26.02.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Geschickte Verwebung von Fakten und Fiktion

Ich habe den Roman als Hörbuch gehört und war sehr angetan von der lebendigen Erzählweise des Autors, den ich bisher nur vom Namen her kannte.
Die Stimme passt gut zu der 100jährigen Architektin Anouk Jacob-Perleman, deren Geschichte hier erzählt wird und natürlich Michael Köhlmeier himself, der hier als Ich-Erzähler auftritt.
Man erfährt viel über die russische Geschichte unter Lenin und die zahlreichen Intellektuellen, die auf den so genannten Philosophenschiffen deportiert wurden. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Rhetorik die russischen Diktatoren, ihre Taten einst und heute zu rechtfertigen wussten.

Was an der Geschichte wahr und was frei erfunden ist, lässt sich natürlich im Internet leicht überprüfen. Wichtiger ist jedoch, dass der Roman die Angst und die Gefühle der Deportierten transportiert. Eindrucksvoll fand ich z.B. die Darstellung von Anouks Eltern, die in ihrer Kajüte mit einer Decke über dem Kopf, tagtäglich auf ihr Ende warten.

Es gibt strenge Regeln auf dem Schiff, um neugierige Fragen zu vermeiden. Nur Anouk widersetzt sich diesen und erforscht das Schiff auf eigene Faust. Dabei macht sie eine unglaubliche Entdeckung ...

Bewertung vom 25.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Alles außer geordnet

ch wollte immer schon mal etwas von Lana Lux lesen, da kam der Roman mit dem schönen Pflanzen-Cover gerade recht.

Philipp, einer der Protagonisten des Romans, liebt Pflanzen. Er mag sie mehr als Menschen, denn von denen wurde er immer wieder enttäuscht. Seine Mutter ist Alkoholikerin, seine Tante, bei der er leben muss, wenn seine Mutter mal wieder einen Absturt erlitten hat, lieblos. Durch seine feuerroten Haare fällt er auf und entwickelt sich zum Außenseiter in der Schule. Philipp nässt ein, Philipp hat Wutanfälle.

"Der häufigste Satz, an den ich mich aus meiner frühen Kindheit erinnern kann, ist: "Geh und entschuldige dich bei den Mädchen" (S.10)

Sein größter Wunsch ist ein richtiger Freund, der eines Tages in Gestalt von Faina, einem Mädchen aus der Ukraine, neu in die Klasse kommt. Genau wie Philipp ist sie ein Rotschopf. Faina wird zu Philipps "Projekt". Er bringt ihr korrektes Deutsch bei, macht ihr Geschenke, ist immer für sie da. Denn auch Faina hat es nicht leicht mit ihren Eltern. Die Mutter mäkelt ständig an ihr herum, der Vater hat als Familienoberhaupt stets das letzte Wort. So lernt Faina schon früh, zu lügen, um Streit und Eskalationen aus dem Weg zu gehen.

Nach einer verletzenden Bemerkung Philipps trennen sich die Wege Fainas und Philipps nach Ende der Schulzeit zunächst, bis Faina plötzlich schwanger und verschuldet wieder vor Philipps Tür steht. Der lebt jetzt in einem Loft und hat eine Freundin. Doch da Sex sowieso nicht Philipps Sache ist, gibt er dieser während eines gemeinsamen Urlaubs den Laufpass und Faina darf statt dessen bei ihm einziehen.

Zwei ziemlich beste Freunde in einer 2er WG: die perfekte Konstellation, könnte man meinen ...

Der Roman hat es in sich. Auf leisen Sohlen naht das Verhängnis. Klar streitet man sich schon mal und natürlich ist ein Zusammenleben von zwei so verschiedenen Charakteren herausfordernd, aber geht uns das nicht allen so? Was aber, wenn einer die Regeln macht und der andere lügen muss, um Konflikten aus dem Weg zu gehen? Was, wenn Grenzen überschritten werden und die Beziehung/Freundschafft zur Obssession ausartet?

Lara Lux zeigt es uns. Das kann sie ganz wunderbar, ohne auschweifende Erklärungen, und man merkt dem Buch an, dass sie sich in diversen "Verhältnissen" auskennt. Sowohl Philipps familiärer Hintergrund als auch Fainas Familie sind höchst authentisch dargestellt. Die ganze Berliner Szene ... herrlich! Selbst über Philipps Beobachtungen und Bemerkungen musste ich teilweise echt lachen.

Bis dann ....

Aber das sollte jede(r) selber lesen. Ich fand das Buch zwar teilweise extrem, aber auch glaubwürdig. Eigentlich hätte man es wissen müssen, wird man später bei so einem Paar vielleicht sagen. Nur kann man den Leuten eben nicht in die Köpfe schauen. In diesem Roman aber kann man es und das ist wirklich ganz große Kunst, finde ich.

Bewertung vom 09.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Erschütternd

Eigentlich war es ja längst überfällig, dass sich die Literatur auch einmal mit dem Menschentyp auseinandersetzt, der nach Afrika reist, um dort für eine teuer erworbene Lizenz zu jagen und sich seine Trophäe anschließend nach Hause schicken zu lassen, wo sie dann Wände, Wohnzimmerboden oder andere Räumlichkeiten ziert.

Was sind das für Menschen? Was treibt sie an und worin liegt der ultimative Kick?

Die flämische Autorin Gaea Schoeters geht dieser Frage in ihrem Roman "Trophäe" nach und versetzt ihre Leser(innen) ins tiefste Afrika, wo ihr Protagonist, der den bezeichnenden Namen Hunter White trägt, auf Nashornjagd ist. Dieses fehlt ihm nämlich noch, um die so genannten "Big Five" voll zu machen. Er hat für den Abschuss eine Lizenz erworben und rechtfertigt die Jagd moralisch vor sich mit der Begründung, dass er mit dem Abschuss eines alten Nashorns, nicht nur zur Auffrischung des Genpools beiträgt, sondern mit seinem Geld auch noch verhindert, dass die Tiere illegal gejagt werden. Denn Politiker und Ranger haben ein Interesse daran , die Tiere für die westlichen Besucher zu schützen.

Doch ein paar Wilderer machen Hunter einen Strich durch die Rechnung. Während er mit seiner Enttäuschung und seinem Frust kämpft, fragt ihn der Organisator der Jagd, ob er schon einmal von den "Big Six" gehört habe ...

Ab hier möchte ich eigentlich nichts weiter zum Inhalt verraten, denn ab hier spitzt sich die Geschichte immer weiter zu, um schließlich in einem überzeugenden Finale zu enden.

Was mir an dem Buch besonders gut gefallen hat, sind Sprache, Erzählton und Schilderungen - sei es die Beschreibung der Natur, oder seien es die Gedanken und Empfindungen Hunters. Hier ist kein Wort und kein Satz zuviel. Man pirscht sich mit Jäger und Fährtenleser durch die Savanne, spürt jeden einzelnen Schmerz und die allgegenwärtige Angst, hört die beunruhigenden Laute von hungrigen Löwen und Hyänen, ist einfach mitten drin im Geschehen. Das war wirklich ganz großes Kino!

Nicht weniger fesselnd ist der moralische Konflikt, in dem man sich mit einem Male wiederfindet. Hier geht es nicht nur um ein totes Nashorn, hier geht es um die Überschreitung von Grenzen, um Jäger und Beute, um afrikanischen Götterglauben und Gefahren, die an ganz anderer Stelle lauern als vermutet... Auch die Motivation Hunters, der schon als Kind mit seinem Großvater jagen war, wird beleuchtet, der Kick, den er aus der Jagd zieht ...

Für mich war das Buch ein unglaubliches Leseerlebnis und ich werde die Gespräche und Besprechnungen verfolgen, die es anlässlich der diesjährigen Leipziger Buchmesse mit dem Länderschwerpunkt 'Niederlande und Flandern' sicherlich geben wird.

Bewertung vom 05.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Ein Debut-Roman mit Schwächen

Nach 5 Jahren Abwesenheit kehrt der 19jährige Jirka zu Besuch auf den Hof seiner Eltern zurück. Leander, der Sohn des letzten Verwalters, hat ihn unterwegs auf der Straße aufgelesen. Während der Wagen in Richtung Hof ruckelt, erhält man durch die Gedanken Jirkas erste Eindrücke zu seinem Vater Georg, seiner Schwester Malene und der Großmutter Agnes. Jirka hat offensichtlich Angst vor dem Wiedersehen. Seine Hände zittern und er fühlt sich wieder als das Kind, das er war, bevor man ihn aufs Internat geschickt hat.

Sein Vater und seine Schwester sind nicht zu Hause. Die erste Familienangehörige, auf die er trifft, ist die inzwischen stark demente Großmutter, die in Hausschuhen durch das Haus geistert. Von seiner Schwester schlägt ihm Ablehnung entgegen, der Vater bleibt verschwunden. Leander und Malene scheinen sich gut zu verstehen, Jirka fühlt sich ausgeschlossen. Beide geben ihm deutlich zu verstehen, dass sie nicht vorhaben, ihn durchzufüttern und so macht sich Jirka nützlich, indem er im Garten Unkraut jätet.

Als Leser(in) begleiten wir ihn durch das Haus und seine damit verbundenen Erinnerungen, erfahren, dass der Vater brutal zu seinen Kindern war, die Mutter schon früh in die Heilanstalt eingeliefert wurde und inzwischen verstorben ist. Zwischen Leander und Jirka besteht eine eigentümliche Spannung. Viel geredet wird in dem Roman nicht. Man muss sich die Zusammenhänge mühsam aus dem Kontext erarbeiten.

Das Buch ist sehr atmosphärisch geschrieben, allerdings passiert zunächst nicht viel und die Gespräche sind anfangs auch eher ausweichend als klärend. Allmählich kann man sich zusammenreimen, dass Jirko wohl schon immer auf Leander stand, am meisten unter seinem Vater gelitten hat und zusätzlich von seiner älteren Schwester drangsaliert wurde. Auch die Mutter war keine Hilfe. Jeder musste irgendwie alleine klar kommen.

Wirklich spannend ist das auf Dauer nicht und den ewigen Eiertanz zwischen Jirko und Leander, aber auch den zwischen Jirko und Malene fand ich nach einer Weile ziemlich ermüdend. Das Ende ist einigermaßen spektakulär, aber leider komplett unrealistisch, es sei denn man lebt in einer Blase und ist sich nicht bewusst, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat. Ich fand das doch ein bisschen enttäuschend. Man hätte den Schluss konsequenter zu Ende denken können, finde ich.

Bewertung vom 05.02.2024
Die Spiele
Schmidt, Stephan

Die Spiele


ausgezeichnet

Mosambik - DDR - Shanghai - Berlin

Ich fand den Politkrimi ausgesprochen spannend!

Geschickt verknüpft der Autor die Schicksale eines afrikanischen IOC-Funktionärs, eines deutschen Journalisten und einer deutschen Konsularbeamtin in Shanghai, baut die (zumindest mir) gänzlich unbekannte Geschichte der "Madgermanes" ein, erzählt von den "Überzähligen" (Kinder, die es gemäß der einstigen Ein-Kind-Politik in China gar nicht geben dürfte) und vermittelt außerdem einen Eindruck davon, wie schwer sich der Westen tut, mit China zu verhandeln, indem er Angela Merkel als fiktive Figur samt Delegation zur Vergabe der Olympischen Spiele aus Berlin anreisen lässt. Auch wenn die Bundeskanzlerin selbst im Buch nie namentlich genannt wird, ist sie treffend charakterisiert und zudem in Begleitung ihres Regierungssprechers Steffen Seibert und Horst Seehofer unterwegs.

Der Besuch fällt mit dem Tod Charles Murandis zusammen, einem ehemaligen Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR, jetzt als hochrangiger IOC-Funktionär geschäftlich in Shanghai unterwegs. Unter Verdacht steht der deutsche Journalist Thomas Gärtner, der den Toten als Letzter in seiner Hotelsuite aufgesucht hat (so zumindest kann man es auf den Überwachungskameras sehen). Als Gärtner verhaftet wird, ist es die Konsularbeamtin Lena Hechfellner, die mit den Chinesen verhandeln soll. Alle drei Personen (Murandi, Gärtner und Hechfellner) kennen sich von früher. Wie geht man mit dieser Situation um, noch dazu, wo Gärtner mit einem einfachen Touristenvisum nach China eingereist ist?

Ich fand das Buch ausgesprochen fesselnd! Man erfährt so viel mehr über China als man aus der Tagespresse entnehmen könnte. Stephan Schmidt kennt sich sehr gut aus, scheut sich aber auch nicht, so genannte "Chinakenner(innen)" auf die Schippe zu nehmen, indem er ihr unzureichendes Chinesisch in fehlerhaftes Deutsch zurück übersetzt. Und plötzlich hört man vor allem den/die Ausländer(in) und weniger den/die Kenner(in). Die Zwischentöne, die er setzt, sind mindestens genauso spannend wie die Geschichte selbst.

Mich hat der Politkrimi, als den ich persönlich ihn bezeichnen würde, vollends überzeugt. Gerne mehr davon!

Bewertung vom 25.12.2023
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


sehr gut

Herausfordernde Lektüre

"In seiner Heimat Sri Lanka gebe es die Haltung, besser nicht in den Wunden zu bohren. Deshalb ist Booker-Preisträger Shehan Karunatilaka beeindruckt von Deutschlands Aufarbeitung der Vergangenheit" kann man in einem Artikel des Tagesspiegel lesen.

Vielleicht erklärt das ja die ungewohnte Erzählweise des Buches, indem es nicht so sehr darum geht, die Ereignisse des Bürgerkriegs in Sri Lanka chronologisch aufzuarbeiten, sondern den Fokus auf den jahrelangen Schrecken zu legen, mit seinen Todesschwadronen, Massakern, Vermissten, Bombenanschlägen und mehr. Vielleicht erklärt das auch die starke Einbeziehung der mythologischen Welt Sri Lankas, in der es Ghouls, Geister und Dämonen gibt. Die Bestien sind alle menschlicher Natur und setzen sich aus einem Minister, einem Major und der "Maske" zusammen, einem liebenden Vater dreier Kinder, der als Folterer Tausender im Personal aufgeführt ist. (Hier wäre es interessant gewesen, zu erfahren, ob es ihn tatsächlich gegeben hat.)

Es ist eine verwirrende Welt, in die der/die Leser(in) eintaucht, denn schon zu Beginn des Romans ist die eigentliche Hauptperson Maali Almeida, ein homosexueller Fotograf, tot. Verwirrt und orientierungslos findet er sich mit vielen anderen Toten in einer Art Behörde wieder, wo man ihm ein Formular in die Hand drückt und ihn anschließend zur Ohrenuntersuchung schickt.

Doch schon wie im christlichen Paradies lauert auch im Totenreich Sri Lankas die Schlange und Verführerin, hier in Gestalt Sena Pathiranas, ehemals marxistischer Partei-Organisator, der nun als Ghoul in der Zwischenwelt herumlungert. Durch ihn lernt Maali mit den Winden zu reisen und findet die Stelle, an der seine sterblichen Überreste gerade von zwei Müllentsorgern in einen See geschmissen werden. Doch warum ist er tot und wer ist dafür verantwortlich? Maali hat 7 Monde Zeit, um Antworten auf seine Fragen zu finden. Danach kann er ins Licht gehen oder ist für alle Zeiten in der Zwischenwelt gefangen.

Ich habe mich mit der Geschichte nicht leicht getan. Wie in einem Wimmelbild habe ich versucht, den Spuren Maali Almeidas zu folgen, herauszufinden, wer Freund und wer Feind ist, welcher politischen Gruppierung die einzelnen Akteure angehören und in welcher Beziehung sie zu einander stehen. Immer wieder kommen Tote zu Wort, die in dem jahrelangen Bürgerkrieg ihr Leben lassen mussten

Trotz des ernsten Themas, der bedrückenden und morbiden Atmosphäre gibt es auch humorvolle Stellen, Gedanken über die Wiedergeburt oder ob Tiere eine Seele haben ... ein Wimmelbild eben, in dem es vieles zu entdecken gibt, das sich aber auch nicht auf den ersten Blick erschließt. Ich fand das auf der einen Seite spannend, auf der anderen Seite aber auch sehr mühselig und die ewige "Fummelei" des schwulen Protagonisten ging mir irgendwann ziemlich auf die Nerven. Abschließend bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem Buch wohl um eine Art Antikriegsroman handelt, bei dem es weniger darum geht, wer wann mit dem Konflikt begonnen hat oder wer die Täter und wer die Opfer sind, sondern darum, wie grausam und wie sinnlos ein solcher (Bürger)krieg ist. Statt Zahlen zu nennen bevölkert Shehan Karunatilaka seinen Roman mit einer illustren Schar Toter, bestehend aus Attentatsopfern, Selbstmördern, westlichen Touristen, ja sogar Tieren.

Es ist definitiv ein ungewöhnlicher Roman mit seiner Herangehensweise an die Vergangenheitsbewältigung des Bürgerkriegs in Sri Lanka und vielleicht ja die angemessene Form für ein Volk, das lieber nicht an alte Wunden rühren möchte. Ich fand die Lektüre als westliche Leserin allerdings auch ziemlich anstrengend und weiß immer noch nicht genau, ob ich das nun gut oder eher ärgerlich finden soll.

Bewertung vom 06.09.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


weniger gut

Manche Bücher machen mich ärgerlich ...

... und der Roman "Tasmanien" von Paolo Giordano ist ein solches.

Klappentext: "Tasmanien erzählt die Geschichte eines Mannes, der die Kontrolle über sein Leben verloren hat und nun auf der Suche nach seiner, nach unserer Zukunft ist."

Ich glaube nicht, dass der Protagonist des Buches, der zufällig genauso heißt wie der Autor selbst, überhaupt auf der Suche ist. Und schon gar nicht sucht er nach meiner/unserer Zukunft. Ich glaube eher, dass er von all den Krisen in der Welt wie Terror, Klimawandel, etc. bereits so abgestumpft ist, dass er gar nicht weiß, was ihm eigentlich fehlt.

Nachdem ihm seine ältere Lebensgefährtin dann auch noch mitteilt, dass sie nach Jahren vergeblicher Versuche schwanger zu werden, nun nicht mehr "die Absicht habe", stürzt es Paolo in eine tiefe Krise. Er lässt sich treiben und später dann regelrecht gehen. (Verstörend fand ich übrigens, dass sich der Protagonist Hinrichtungsvideos auf Youtube ansieht).

Durch seinen Freund Giulio lernt er den Wolkenforscher Novelli kennen, dem der Roman seinen Titel verdankt. Denn auf die Frage hin, wo dieser im Fall der Apokalypse Land kaufen würde, antwortet Novelli :" In Tasmanien. Es ist südlich genug, um nicht unter extremen Temperaturen zu leiden. Es hat reichlich Süßwasserreserven, wird demokratisch regiert, und es leben dort keine Fressfeinde der Menschen. Es ist nicht zu klein, ist aber jedenfalls eine Insel, also leicht zu verteidigen."

Paolo fühlt sich zu diesem Mann hingezogen.

"An ihm zog mich im weitesten Sinn die Intelligenz an, oder besser, die Strenge, mit der die Intelligenz einsetzte. Aber es war nicht nur das. Er gefiel mir aus einem Grund, der über den Gedankenaustausch hinausging, über die gemeinsamen Wurzeln in der Physik und die geteilte Sorge über die Erderwärmung. Seine Physis hatte viel damit zu tun. Meistens wird in Männerfreundschaften die körperliche Komponente unterschätzt, aber in einigen meiner Männerfreundschaften spielte sie eine zentrale Rolle. Novelli machte da keine Ausnahme: das runde Gesicht, die glänzenden dunklen Augen, der nicht eigentlich dicke, aber doch füllige Rumpf, betont auch durch die enganliegenden Hemden, die er gern trug. Er befasste sich mit Wolken, schien aber wesentlich mehr Bodenhaftung zu haben als ich, und das vermittelte mir ein Gefühl von Konkretheit, in einem Moment, da ich ganz offensichtlich das Bedürfnis danach verspürte." (S. 133)

Meine Schlussfolgerung: der Protagonist befindet sich in einer regressiven Phase und sucht nach einer Vater- und Leitfigur.

Novelli wird sich später als absoluter Chauvinist mit frauenverachtenden Thesen herausstellen, aber Paolo wird ihm trotzdem nicht die Freundschaft aufkündigen, auch wenn er sich von den Aussagen des Wolkenforschers distanziert.

Währenddessen ist Paolos Ehe auf einem Tiefpunkt angelangt. Paolo meidet das gemeinsame zuhause, reist (trotz Klimaängsten) noch mehr als zuvor in der Welt herum, wohnt in Hotels und lässt den/die Leser(in) auch an seinen dortigen Aktivitäten teilhaben:

"Nach dem Check-in tat ich immer die gleichen Dinge in der gleichen Reihenfolge: masturbieren, ausgiebig heiß duschen, an die Minibar gehen, einen Toast aufs Zimmer bestellen, Lorenza anrufen, bevor ich zu betrunken war, um das Gespräch führen zu können, noch mehr trinken, nochmal masturbieren, wenn ich die Kraft dazu hatte." (S.237)

Spätestens an dieser Stelle habe ich um die Bäume getrauert, die für das Buch ihr Leben lassen mussten. Wenn ich dann noch lese, dass dieser Roman in Italien monatelang auf der Bestenliste stand und das meistgelesene Buch des vergangenen Jahres ist, gibt mir das wirklich zu denken.

Da Paolo unbedingt ein Buch schreiben will (warum eigentlich?) wählt er als Thema die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Das passt natürlich gut zu der depressiven Stimmung des Protagonisten, der rein gar nichts unternimmt, um seine und die Lage der Welt positiv zu beeinflussen. Immer sind es die Anderen, die auf ihn zugehen müssen.

Und was findet Paolo schließlich am Ende seiner Odyssee heraus, als er von einer Japanerin gefragt wird, warum er über die Bombe auf Nagasaki schreiben will? Achtung spoiler!!! "Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat".

Warum, frage ich mich da, führen manche Leute nicht einfach ein Tagebuch, anstatt aus ihren persönlichen Krisen gleich ein Buch zu machen?

Nein, mich hat das Buch nicht zum Nachdenken gebracht. Mich hat es verärgert und ich hoffe nicht, dass der Autor Paolo Giordano seinem Protagonisten Paolo in irgendeiner Weise gleicht. Vielleicht sollte dieser ein wenig Camus lesen und sich mit der Absurdität des Lebens beschäftigen. Dann könnte er lernen, das Absurde zu akzeptieren und dagegen zu rebellieren.

Von mir leider keine Leseempfehlung für diesen Roman, der mich in keiner Weise bereichert hat.

Bewertung vom 06.09.2023
Der Vorweiner
Bjerg, Bov

Der Vorweiner


weniger gut

Wird mit der Zeit extrem langweilig

Klappentext: "Es gab eine Zeit, da weinten die Menschen um ihre Angehörigen. Heute trauert nur, wer sich nichts besseres leisten kann".

Und so besorgt sich diese vermögende Oberschicht quasi als 'letzten Schrei' einen 'Vorweiner'. Das sind Menschen aus Ländern außerhalb der Festung Resteuropa, wobei es bei den Qualitäten eines Vorweiners starke Unterschiede geben soll. Besonders gefragt sind Männer aus Westafrika, wohingegen es starke Vorbehalte gegenüber den Vorweinfähigkeiten der Männer aus Südostasien gibt.

A wie Anna, um die es in diesem Buch geht, hat sich für einen Vorweiner aus den Niederlanden entschieden. Dieser lebt schon vor ihrem Ableben bei ihr zu Hause, um eine Bindung aufzubauen, die es ihm erlaubt, angemessen und beeindruckend zu weinen, wenn es erst einmal soweit ist.

Dann gibt es da noch B wie Berta, Annas Tochter, die als Klickbeuterin arbeitet, d.h. sie schreibt Nachrichten, die nach Menge bezahlt werden. Zum Schluss einer jeden Nachricht ertönen immer die Schreie der Leute, um die es in der jeweiligen Nachricht geht.

Das fand ich anfangs originell, flachte aber mit jeder weiteren Wiederholung ab (wie bei einem Witz, über den man - weil neu - einmal lacht, der einem von einem 'Witzbold' aber immer und immer wieder erzählt wird).

Mit der Zeit hat sich bei mir folglich eine gähnende Langeweile eingestellt, denn die Geschichte ist nicht nur kompliziert konstruiert, sie ist auch einfach viel zu lang für das, was sie eigentlich zu erzählen hat. 238 Seiten waren einfach zu viel, um mich dauerhaft bei der Stange zu halten. Ich habe bis S. 135 tapfer durchgehalten und dann beschlossen, dass der Roman von Bov Bjerg und ich einfach keine best friends werden können.

Bewertung vom 25.08.2023
Prophet
Blaché, Sin;Macdonald, Helen

Prophet


ausgezeichnet

Wenn Nostalgie zur tödlichen Falle wird

Eigentlich bin ich überhaupt kein Scifi-Fan und habe mich auf das Buch nur deshalb beworben, weil mir der Name Helen MacDonald und ihr Roman "H wie Habicht" (der leider schon viel zu lange auf meinem SUB ruht) ein Begriff sind und weil es mich dieses Jahr unbewusst zu Büchern hinzieht, die sich mit Zukunftsszenarien beschäftigen.

Schnell war ich in der Geschichte drin, habe gestaunt, war fasziniert und habe den Wälzer für meine Verhältnisse in sehr kurzer Zeit zu Ende gelesen. Nachdem ich dann auch noch auf einen Artikel der beiden Autorinnen Helen Macdonald und Sin Blaché gestoßen bin, die das Buch während des Lockdowns gemeinsam geschrieben haben, bin ich nun schwer beeindruckt. Vielleicht ist es ja ein glücklicher Zufall, dass die Veröffentlichung genau in den Sommer 2023 fällt, der in der Kinowelt als "Barbenheimer" in Erinnerung bleiben wird, denn die Beschreibung "Barbie meets Oppenheimer" trifft es auf den Punkt.

In der Geschichte geht es um rätselhafte Vorkommnisse wie das plötzliche Auftauchen eines amerikanischen Diner auf einem Feld im ländlichen England in der Nähe einer Militärbasis. Damit verbunden ist ein Todesfall, auf dessen Untersuchung zwei sehr unterschiedliche Charaktere angesetzt werden:

Der eine, Adam Rubenstein, ist ein undurchschaubarer Geheimagent, der nur für seinen Job lebt. Der andere, Sunil Rao, ehemaliger MI6-Agent, hat die Gabe Lüge und Wahrheit zu erkennen. Mich hat letzterer von seiner extravaganten und überdrehten Art her an "Prince" denken lassen. Die beiden haben schon früher zusammen gearbeitet, wobei Adam hauptsächlich die Aufgabe zukam, auf Rao aufzupassen, der neben einem schweren Drogenproblem die Begabung hat, sich regelmäßig mit allen erdenklichen Leuten anzulegen.

Die Dialoge der beiden sind nicht immer ganz einfach zu verstehen, weil vieles unterschwellig kommuniziert wird, aber irgendwie passt das auch zu einem Paar, das sich seine Gefühle für einander nicht so recht eingestehen mag (sich dieser zunächst auch gar nicht bewusst ist).

Ich persönlich fand die Story fesselnd und den Showdown nervenaufreibend spannend. Wenn man dann noch liest, dass die beiden Autorinnen eine Fabel darüber schreiben wollten, wie gefährlich es ist, die Vergangenheit auf Kosten der Vorstellung von einer Zukunft zu verklären, dann ist ihnen das absolut gut gelungen, finde ich.

In dem Roman "Prophet" wird Nostalgie zur lähmenden und tödlichen Waffe für all diejenigen, die dafür empfänglich sind. Daneben beinhaltet das Buch eine queere Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich durch ihre Kindheit oder eben durch ihre besondere Gabe zu zwei Persönlichkeiten entwickelt haben, die entweder anecken oder sich aber bis zur Selbstaufgabe angepasst haben, die in ihrem tiefsten Inneren aber beide furchtbar einsam sind.

Und doch sind es eben diese beiden Außenseiter, denen die schwere Aufgabe zukommt, die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren...

Ich persönlich könnte nicht sagen, für wen dieser Roman etwas sein könnte und für wen wohl eher nicht. Es ist ein bisschen wie beim Kochen. Die einen probieren gerne mal etwas Neues aus und sind überrascht, wie gut ihnen das Resultat schmeckt, die anderen haben feste Erwartungen und sind enttäuscht, weil es eben nicht so ist, wie sie es gerne haben wollten.