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brenda_wolf
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Oberfranken

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Insgesamt 157 Bewertungen
Bewertung vom 05.02.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


ausgezeichnet

Reisepass für Rita

»Vielleicht, dachte Labensky, war die Wahrheit überschätzt. Vielleicht war er ja doch nicht der Einzige, der sich gelegentlich in Einbildungen oder Geschichten rettete. Vielleicht hatte ja jeder so seine Erzählungen auf Lager, um sich die Welt, die nicht leicht auszuhalten war, zurechtzubiegen. Luftschlösser brauchten keine Baugenehmigung, aber sie halfen einem, nicht die Hoffnung zu verlieren.«


Mal was ganz anderes vom Bestsellerautor Michael Tsokos, dem Rechtsmediziner und Professor an der Charite in Berlin. Bisher ging es in seinen Büchern immer um Spannung. Man kennt ihn von True-Crime und spannenden Thrillern. Hier hat er zusammen mit seiner Frau Anja Tsokos den Roman »Heinz Labensky – und seine Sicht auf die Dinge« geschrieben und ich muss gestehen, mir hat dieser Ausflug in die Geschichte der DDR sehr gefallen.

Heinz Labensky, 79 Jahre, lebt seit zehn Jahren der in einem Seniorenheim am Erfurter Stadtrand. Er selber würde sich als stinknormalen Kauz beschreiben. Den Osten Deutschlands hat er nie verlassen. Bereits in seiner Kindheit wurde er als nicht sehr Helle eingestuft, förderunfähig hieß es in der DDR. Eines Tages erreicht ihn ein Brief, von der Tochter seiner einzigen großen Liebe Rita. Rita, die blitzgescheite Rita, die ihm einst das Lesen beigebracht hatte. Auch sie war eine Außenseiterin in dem kleinen Dorf Briesen in Brandenburg gewesen. Rita verschwand vor Jahren spurlos, und nun gibt es Hinweise auf ihr Schicksal. Heinz setzt sich kurzentschlossen in einen Flixbus und macht sich auf die Reise nach Warnemünde. Er muss der Sache auf den Grund gehen. Er erzählt seinen Mitreisenden von seinem haarsträubenden, fantasievollen und abenteuerlichen Leben. Doch am Meer angekommen, muss Heinz Labensky eine Entscheidung treffen.

Ein absolut starker Roman. Mir hat es sehr viel Freude gemacht, von diesem liebenswürdigen Sonderling zu lesen. Das Ehepaar Tsokos hat mit Heinz Labensky einen außergewöhnlichen Charakter geschaffen. Er ist zwar dumm wie zehn Meter Feldweg, aber hat das Herz am rechten Fleck und sein Herz schlägt für Rita. Für Heinz gibt es keine andere. Irgendwie ist er auch ein Hans im Glück. Er wurstelt sich mit viel Phantasie und dem Glück der Dummen durchs Leben. Wir erleben als Leser einen Streifzug durch die Geschichte der DDR. Wir begegnen Wolf Biermann, dem Dreiergespann der RAF, Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, wir suchen das Bernsteinzimmer, dort wo einst Carinhall, das repräsentatives Gut des Reichsmarschalls und führenden Nationalsozialisten Hermann Göring gestanden hatte und wir erleben Nazigrößen, die sich geschwind zu Kommunisten umgewandelt haben, wir lesen von Wurmlöchern im sozialistischen Schutzwall, von Spitzeln der Firma Mielke und von vielen typischen DDR-Marken und speziellen DDR-Ausdrücken. Das alles wird von den Autoren so unterhaltsam und humorvoll serviert. In Heinzis Kopfkino ist viel los. Ich habe mich selten so gut amüsiert. Gleich über den ersten Satz musste ich herzhaft lachen. ‚Gönnen Sie sich Holz zu Lebzeiten!‘ Okay, es ist eine Baumarktwerbung für Holzböden. Und noch ein Wort zum Hauptprotagonisten: So geistig eingeschränkt er auch ist, ist er doch ein aufrechter und mutiger Mann, der für die Liebe seines Lebens alles riskierte. Ein Reisepass wird zum Liebesbeweis.

Fazit: Originell, humorvoll und nachdenkenswert: Heinz Labenskys Sicht der Dinge. Ein Lese-Highlight

Bewertung vom 20.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


ausgezeichnet

Eine fast wahre Geschichte

Frau Professor Anouk Perleman-Jacoby, eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen, feiert ihren 100. Geburtstag. Der Schriftsteller erhält überraschen dazu eine Einladung. Die Jubilarin möchte, dass er ihre Biografie schreibt. Sie hat sich erkundigt. Er hat einen guten Ruf, aber man weiß auch, dass er Dinge erfindet und behauptet sie seien wahr. Deshalb glaubt man ihn oft nicht, wenn er die Wahrheit schreibt. Und genau deshalb ist er der richtige Mann für ihre Biografie. ‚Wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt soll sie werden.‘

Anouk Perleman-Jacoby wird 1922 auf Befehl von Lenin persönlich zusammen mit ihren Eltern und einer Handvoll anderer Intellektuellen aus St. Petersburg auf einen riesigen Luxusdampfer gebracht und in den Westen abgeschoben. Ohne Gerichtsverfahren, da ihnen formell nichts anzulasten war. Leo Trotzki schrieb: „Wir haben diese Leute ausgewiesen, da es keinen Anlass gab, sie zu erschießen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ Er nannte es einen Akt der Humanität. Zehn Menschen zittern um ihr Leben, sind im Ungewissen, was mit ihnen geschehen wird. Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen treibt, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.

Michael Köhlmeier serviert uns hier eine fesselnde Geschichte, in der die Grenzen historischer Realität und Fiktion verschwimmen. Er schreibt in knappen Sätzen, aber genau auf den Punkt. Er lässt uns absteigen in eine andere Welt. Diese Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben. Es waren mindestens fünf Schiffe, mit denen im Jahr 1922 unliebsame Personen in großer Zahl aus Sowjetrussland ins Ausland abgeschoben wurden. Ärzte, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler, Ingenieure, Rechtsanwälte, Richter, Schriftsteller und Journalisten befanden sich auf diesen Schiffen. Kommt uns das nicht bekannt vor? Weltweit ist in totalitären Regimen zu beobachten, dass Intellektuelle für ihre Länder als Bedrohung angesehen werden. Auch Hitler sah in Schriftstellern eine Gefahr und ließ ihre Bücher verbrennen. Ein Blick ins heutige Russland oder China genügt. Frau Professor Anouk Perleman-Jacoby bemerkt: Paranoia erzeugt Paranoia, denn wie jeder Schüler schon weiß, Gedichte sind mehrdeutig.

Über die Zeit der russischen Revolution war mir im Grunde wenig bekannt, doch dieses Buch animierte mich, mich näher damit zu befassen und nachzulesen.

Ich möchte die junge und auch die hundertjährige Anouk sehr. Die Altersweisheit der Hundertjährigen ist mit Humor gespickt. So sagt sie: ‚Mein ganzes Leben habe ich vom Leben nichts erwartet. Das ist die beste Voraussetzung für ein langes Leben.‘ Die Handlung hat zwar einige Längen, aber die Stimmung unter den Menschen auf dem Schiff ist greifbar zu spüren. Ich bin Lenin begegnet und ich mochte ihn nicht. Auf diesem Schiff war er ein einsamer kranker Mann, im Rollstuhl sitzend, isoliert von den übrigen Passagieren. Er hatte nur Anouk, die ihn heimlich aufsuchte. War er nun ihr „Freund“ oder ihr „Feind“?

Fazit: Unterhaltsam verpackte Historie animiert, sich näher mit den Hintergründen zu befassen.

Bewertung vom 05.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


sehr gut

THE SYSTEM

Wir haben das Jahr 1993 in Chicago. Jack, der junge Fotograf und Elisabeth, die Psychologiestudentin, kommen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Sie wohnen in benachbarten Gebäuden, getrennt durch eine enge Gasse und können einander von der Wohnung aus direkt ins Fenster des anderen sehen und sie verlieben sich ineinander. Zwanzig Jahre später hat sich in ihren Ehealltag die Routine eingeschlichen. Elisabeth ist unzufrieden, sie sehnt sich nach Abstand, fühlt sich eingeengt. Die Erziehung ihres Sohnes überfordert sie. Jack kämpft gegen seinen Bauchansatz. Sein Fitnesstracker und die dazugehörige App THE SYSTEM bestimmen seinen Lebensrhythmus. Jack will seine fröhliche Frau zurück, darum hält er sich strikt an die Ratschläge von THE SYSTEM, die ihm zu allen Lebensbereichen Tipps schickt. Das geht so weit, dass sie sich sogar in sein Liebesleben einklinkt. Beruflich hatte sich Jack einst mehr erträumt. Er spekulierte auf eine Professorenstelle. Stattdessen wird er mit befristeten Dozentenstellen abgespeist. Die Uni umgeht so den Tarifvertrag und erspart sich Kosten. Jack empfindet diese Situation als äußerst unbefriedigend. Jack und Elisabeth sind an einem Punkt angelangt, an dem sie überlegen, ob es sich lohnt, an der Ehe festzuhalten. Werden sie es schaffen?

Der Autor Nathan Hill persifliert den modernen Ehealltag. Vieles ist überzogen. Doch damit hält er uns dem Spiegel vor. Sein Erzählstil ist flüssig. Allerdings empfand ich manches als zu akribisch beschrieben, zu detailreich, das tat der Handlung nicht gut. Mindestens 200 Seiten sind für meinen Geschmack überflüssig. Dem Perspektivenwechsel von der Anfangszeit des jungen Paares in die Jetztzeit ist hingegen gelungen.

Mit den Protagonisten wurde ich leider überhaupt nicht warm. Beide sind sie einst aus ihren Elternhäusern geflohen, mit Sehnsucht nach einem anderen Leben. Sie haben beide ihre Vergangenheit geschönt und dem anderen einiges Verschwiegen. Jetzt fällt es ihnen vor die Füße.

Fazit: Ein Buch für Leser, die nicht gleich aufgeben, denn die Längen erfordern viel Geduld.

Bewertung vom 01.01.2024
Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4
Seeck, Max

Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4


ausgezeichnet

Das Mädchen im blauen Mantel
Max Seeck ist aktuell der erfolgreichste Thriller-Autor Finnlands. Zu Recht. Mich hat ‚Waiseninsel‘ von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.

Es ist bereits der 4. Band um die Kommissarin Jessica Niemi. Ich kannte die Vorgängerbände nicht, bin aber gut in die Geschichte gekommen. Man kann also auch ohne Vorkenntnisse in die Reihe einsteigen. Trotzdem werde ich mir die Bände 1-3 noch besorgen. Ich will mehr über die Kommissarin Jessica Niemi erfahren.

Bereits der Prolog wirft viele Fragen auf und erzeugt Spannung. Der Wachmann Martin erhält mitten in der Nach einen mysteriösen Anruf.

Die Kommissarin Jessica Niemi leidet unter psychischen Problemen und wird in einer Auseinandersetzung handgreiflich. Der Vorfall wird von einem Beobachter gefilmt und das Video geht viral. Jessica wird vorläufig beurlaubt. Sie sucht Abstand auf einer zwischen Finnland und Schweden gelegenen Insel. Im Gasthof von Astrid und Åke begegnet sie einer Gruppe älterer Gäste die sich „die Zugvögel“ nennen und die sich jährlich hier treffen. Sie alle sind ehemalige Kinder des Waisenhauses der Insel. Um das Waisenhaus rankt sich eine Legende vom geheimnisvollen Mädchen im blauen Mantel, das noch heute von Leuten gesehen wird. Und dann wird eine der Alten tot aufgefunden. Und sie ist bereits das dritte Opfer, das auf diese Weise ums Leben kam.

Max Seeck versteht es perfekt einen dichten Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser bis zum Ende fesselt. Sein Schreibstil ist leicht und flüssig zu lesen. Die Protagonisten sind authentisch gezeichnet. Jessica Niemi mochte ich sehr, trotz ihrer Zerrissenheit. Viele Charaktere empfand ich als äußerst interessant. Besonders Astrid und Åke übten auf mich eine besondere Faszination aus. Astrid, die ehemalige Ärztin und Åke, der Philosophiedozent und Liebhaber von Seneca.

Das Ende hat mich überrascht, aber es ist durchaus schlüssig. Und so soll es auch sein. Ein gelungener Krimi, mit zum Teil unheimlicher Atmosphäre und großer Sogwirkung. Temporeich und spannend.

Bewertung vom 18.12.2023
Eine halbe Ewigkeit
Kürthy, Ildikó von

Eine halbe Ewigkeit


sehr gut

Cora Hübsch ist zurück

Es ist 25 Jahre her, seit uns Ildikó von Kürthy in ‚Mondscheintarif‘ von Cora Hübsch und ihrem Tagebuch erzählte. Nun ist Cora Hübsch zurück und sie leidet am ‚Das-leere-Nest-Syndrom‘. Ihr Jüngster ist eben auf den Weg nach London, für ein Austauschjahr. Er fehlt ihr schon jetzt. Ihr Leben verlief bisher nach dem Stundenplan der Kinder, ihr Jahr war in Schulferien gegliedert. Was soll sie jetzt erfüllen? Sie plant, ihr Leben zu entrümpeln und fängt mit dem Altpapier an. Vor dem Altpapiercontainer fällt ihr ihr altes Tagebuch vor die Füße. Erstaunt liest sie von den Problemen der jungen Cora. ‚Ich war gertenschlank und hielt mich für zu dick. Ich war jung und hielt mich für zu alt. Ich war klug und heilt mich für zu blöd. Ich dachte, alles sei vorbei, dabei fing doch alles erst an. Ich hatte keine Probleme und nahm sie trotzdem ernst.‘

Dann tauchen da dieser große Hund auf und Wanda Tomuschat. Und mit den beiden treten weitere gute Bekannte aus Ildikó von Kürthys Büchern in Erscheinung, die Schwestern Ruth und Gloria, Erdal und seine 82jährige Mutter Renate, Protagonisten die wir bereits in dem unterhaltsamen Buch "Morgen kann kommen" kennenlernen durften. In der ‚Villa Ohnesorg‘ der Schwestern finden viele unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner Platz. Cora wird kurzerhand für die anstehende Hochzeit von Wanda und Ruth am Ostseestrand engagiert, da die gebuchte Fotografin ausgefallen ist.

Für mich war es schön, alte Bekannte wieder zu treffen. Ich mochte diese Chaos-Clique mit viel Herz und ich fand mich schnell unter ihnen zurecht. Ich mochte sie alle, so unterschiedlich die Charaktere auch sind. Kürthy schreibt mit viel Humor. Man hat das Gefühl, auch die Autorin nimmt das Leben nicht allzu ernst. Selbst die ernsthaften, gesellschaftskritischen Themen kommen leichtfüßig daher. Die Ehe ist für Cora ‚banale Gewohnheit‘ geworden. Was ist geworden, aus der Liebe ihres Lebens? Cora befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Sie zieht Bilanz und muss sich neu erfinden, muss lernen mit der neuen Freiheit umzugehen. ‚Die Kunst ist herauszufinden, ob du eine Hormonersatzbehandlung brauchst oder eine Scheidung‘, gibt Erdal Cora mit auf den Weg. Erdal hat überhaupt Sprüche drauf, z.B. ‚Jede Frau, die nach zehn Jahren noch in ihr Brautkleid passt, ist unglücklich verheiratet.‘ Das ist doch für viele Frauen ein Trost.

Fazit: Ein unterhaltsamer Lesegenuss

Bewertung vom 04.12.2023
Was ein gutes Leben ausmacht
McGarey, Gladys

Was ein gutes Leben ausmacht


sehr gut

102 Jahre und in Topform
Dr. Gladys McGarey, eine 102-Jährige, teilt mit ‚Was ein Leben ausmacht‘ ihre Geheimnisse für ein langes Leben. Ich lese gerne von Menschen, die mir im Alter voraus sind, über ihre Erfahrungen und ihre Sicht auf das Leben. Dr. Gladys McGarey ist praktizierende Ärztin aus Leidenschaft und gilt weltweit als Pionierin der ganzheitlichen Medizin.

Sie muss es wissen, denn die 102-Jährige ist noch immer topfit und steht mitten im Leben. Sie fährt Fahrrad und macht täglich ihre Spaziergänge. Auch hat sie ihre Neugier und ihren Wissensdurst nicht verloren, sie bildet sich immer noch weiter.

Sie rät uns, die Freude und das Interesse an Aktivitäten nicht zu verlieren, sei es werkeln im Garten, Handarbeiten, Geschichten schreiben, kochen, singen und spielen. Kreative Aktivitäten verbinden uns mit unserer Lebenskraft und stabilisieren die Psyche.
Evtl. auch neue Aktivitäten anfangen, die gut für uns sind, egal was, wir müssen auch gar nicht perfekt darin sein, was mit den Händen gestalten, eine Pflanze umtopfen oder einfach mal hinter dem Sofa aufräumen, aber unbedingt aktiv bleiben. Mit anderen Worten: Dem Leben einen Sinn geben.

Die modernen Unterhaltungsmedien hingegen verleiten uns dazu, Dinge die uns fordern, zu vernachlässigen. In unserer heutigen Leistungsgesellschaft sind Aktivitäten, die kein Geld einbringen nicht sonderlich gefragt. Viele haben keine Lust darauf, etwas zu tun, wenn sie keinen Vorteil davon haben. Man vergisst, dass gerade diese Tätigkeiten Stress und Druck abbauen und Freude in unser Leben bringen.

Interessant fand ich die Übung auf Seite 56. Dr. McGarey bittet uns, sich eine Minute Zeit zu nehmen und die Augen zu schließen und sich einen Wunsch zu erlauben, etwas wonach man sich sehnt, vielleicht auch nur eine Kleinigkeit. Sie schreibt dazu, wenn wir sonst nichts haben, kann uns unsere Sehnsucht retten.

Der Schlüssel zur Langlebigkeit liegt laut Dr. McGarey in starken sozialen Bindungen. Einsamkeit hingegen wirkt sich auf die Lebenserwartung negativ aus. Enge Familienbande und ein guter Freundeskreis sind also lebenswichtig.

Doch nun zu meiner Meinung: Das Buch ist verständlich abgefasst und lässt sich leicht lesen. Die Autorin bringt viele Beispiele aus ihrer beruflichen Praxis. Man glaubt ihr, denn sie kommt sehr sympathisch und authentisch rüber. Ihre Lebenseinstellung ist beachtenswert. Vor allem vor ihrem Zehnjahresplan ziehe ich den Hut. Einziger Kritikpunkt: Stellenweise glitt das Buch zu stark ins Esoterische ab, und damit kann ich so gar nichts anfangen.

Dennoch, Respekt vor dieser Frau. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters macht sich Frau Dr. McGarey um den Tod keine Sorgen. Sie bleibt optimistisch und richtet ihren Blick auf die Zukunft.

Bewertung vom 10.11.2023
Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte
Hacke, Axel

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte


sehr gut

Mit Heiterkeit gegen den Ernst des Lebens
Ich mag Bücher, die mich zum Nachdenken anregen. Das kleine Büchlein von Axel Hacke ‚Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte‘ trifft also genau meinen literarischen Geschmack, es löst Gedankengänge aus.

Der Zeichner Sempe sagt: Man kann nicht leben, wenn man nicht heiter ist. Selbst wenn alles danebengeht gibt es noch das Heitere. Man könne es auch Lebensfreude nennen oder Seinsfreude. Und ohne Trost – das ist man sowieso; man ist vollständig untröstlich. Ich bin beides…. Man kann beides sein, untröstlich und heiter, zugleich oder nacheinander, wie auch immer, schreibt Hacke. Es geht nicht um das Ernste oder das Heitere, sondern um beides zusammen. Es geht um das Ganze.

Und Loriot antwortete auf die Frage, ob die Deutschen weniger Humor hätten als andere Völker: Nein, das glaube ich nicht. Sicher sei aber: Sie nähmen ihn nicht so wichtig wie andere.

Hacke beleuchtet in seinem Büchlein »Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte« verschiedene Aspekte der Heiterkeit und der Ersthaftigkeit. Er analysiert Siegmund Freud, Charlie Chaplin, Loriot und vielen Quellen in Literatur und Filmen. Heiterkeit ist gerade in Krisenzeiten notwendig. Angesichts von Krieg und Klimawandel ist vielen Menschen nicht zum Lachen. Betrachten wir Heiterkeit als Bewältigungsstrategie. Gerade in diesen Zeiten bietet sie uns ein Schutzschild. Man darf ruhig auch heiter sein, auch wenn die Umstände ernst sind. Deshalb müssen wir die Probleme der Welt nicht ignorieren, aber:

Eigentlich ist es ein Trostbuch, denn erheitert hat mich die Lektüre nicht. Da hatte ich mir etwas mehr versprochen. Trotzdem ein Buch das nachdenklich stimmt.

Bewertung vom 06.11.2023
Close to Home
Magee, Michael

Close to Home


ausgezeichnet

Teufelskreis
Sean ist 22 Jahre alt, ohne Aussicht auf eine positive Zukunft. Er hat zwar einen Uni-Abschluss in der Tasche, bekommt aber keinen Job. Er lebt in einem Stadtteil von Belfast in dem die Menschen in Armut leben. Die Nachwirkungen der Nordirland-Konflikte sind noch spürbar. Sean jobbt in einem schlecht bezahlten Job in einem Nachtclub. Er träumt davon Schriftsteller zu werden. Noch hängt er in einem Teufelskreis aus Partys und Drogen fest und landet schließlich vor Gericht, weil er einen Mann niedergeschlagen hat.

Michael Magee gelingt es sehr gut die hoffnungslose Lebenssituation von Sean und seinem Umfeld einzufangen. Seans Mutter leidet unter Angstzuständen. Seit ihrer Jugend ist sie auf Valium. Die Schüsse und Anschlägen der IRA belasten sie noch heute. Seans älterer Bruder Anthony hängt ebenfalls voll durch. Er wurde in seiner Kindheit missbraucht.

‚Close to home‘ ist ein gut geschriebenes Debüt eines talentierten Autors. Die Zeichnungen von Sean und seinen Freunden kommen realistisch rüber. Das wilden Partyleben ist ein Ausdruck der Trostlosigkeit, ein Ablenken und zeigt doch die Verletzlichkeit. Das Kriegstrauma der Eltern und Großeltern wirkt in der nachfolgenden Generation nach. Meinen vollen Respekt hat Mairead, sie kommt ebenfalls aus diesem Milieu, doch sie scheint die Kurve bekommen zu haben. Sie versucht sich eine bessere Zukunft aufzubauen. Dem Autor gelingt es, die Leser mitzunehmen. Die Atmosphäre ist fast durchweg bedrückend, gezeichnet von Perspektivlosigkeit. Die Suizidrate in den vom Nordirlandkonflikt betroffenen Gebieten ist noch 20 Jahre Friedensprozess sehr hoch. Eigentlich kein Wunder, wenn man keine positive Wende für sein Leben sieht.

Mein Lieblingssatz: Der äußere Eindruck trügt oft. Erlaub dir kein schnelles Urteil über jemanden.‘

Fazit: Ein gutgeschriebenes Debüt, doch die beschriebene Atmosphäre ist kaum zu ertragen. Kein Buch, dass ich ein zweites Mal lesen möchte.

Bewertung vom 03.11.2023
Alter Mann, was nun?
Schirnding, Albert von

Alter Mann, was nun?


gut

‚Lange Leben heißt viele überleben‘

Ich lese gerne von Menschen die mir im Alter voraus sind. Ich möchte ihre Weltsicht kennenlernen, wie sie ihr Leben reflektieren. Was ist ihnen wichtig? Was hat seinen Wert verloren? Was macht im Alter Unannehmlichkeiten? Was sind die Freuden? Und, ganz wichtig, wie sieht gutes Altern aus? Albert von Schirnding ist ein betagter älterer Herr, geboren 1935, er hat in seinem Leben viel erlebt und sicherlich auch viel an Lebensweisheit weiterzugeben.

Der Freiherr ist ein deutscher Lyriker, Erzähler, Essayist und Literaturkritiker sowie ehemaliger Studiendirektor. Und das merkt man mit jeder Zeile. Ich habe den Eindruck gewonnen, er will uns belehren. ‚Alter Mann, was nun?‘ gliedert sich in kurze Textabschnitte. Jedem Gedanken, gibt er ein Kapitel. Doch während noch die ersten Kapitel meine Fragen beantworteten, fand ich mich im weiteren Verlauf in einem Bildungsseminar. Er schreibt über Menschen, die sein Leben streiften, aber vor allem über Dichter, klassische Musik, über griechische Sagenfiguren usw. und auch von seiner Begegnung mit der berühmten Therese Neumann von Konnersreuth. Dagegen hat ihn Hermann Hesse nie interessiert und doch findet er Platz in seinem Buch.

Leider schreibt Albert von Schirnding nicht unbedingt unterhaltsam. Manche Texte kommen für meinen Geschmack sehr trocken rüber. Offengestanden, hatte ich mir was anderes erwartet und bin deshalb leicht enttäuscht. Ich hätte gerne mehr über seine persönlichen Erfahrungen gelesen. Vielleicht auch ein bisschen Trost erwartet, aber auf jeden Fall aufbauende Gedanken. Mitunter empfand ich die Grundstimmung bedrückend.

Bewertung vom 04.10.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

Ein starker Roman einer starken jungen Frau

Bereits Lauren Groffs Debütroman ‚Matrix‘ hat mich fasziniert. Ich war angetan vom intensiven Stil der Autorin. So hat mich auch ‚Die weite Wildnis‘ stark berührt.

Wir befinden uns im 17.Jahrhundert. Englische Siedler nehmen das neue Land in Besitz. Ein Mädchen flieht vor dem Hunger und der Brutalität der Menschen im Fort. Es ist Winter, das Mädchen friert. Dennoch stellt sie sich der Wildnis, einem ihr völlig fremden unberechenbaren Land und einer ungewissen Zukunft. Sie hat sich das Nötigste heimlich zusammengestohlen: Ein Messer, ein Beil, dicke Fellhandschuhe und die Stiefel eines Verstorbenen. Was hat sie erlebt, dass sie diesen Schritt wagt?

In Rückblicken erfährt man von ihrem Leben. Sie wuchs als Waisenkind in einem Armenhaus auf. Dort nannte man sie Lamentatio Venal. Mit vier Jahren wurde sie von ihrer Dienstherrin abgeholt. Von nun an wurde sie mit allen möglichen Namen gerufen: Mädchen, Dienstmagd, Dummkopf und Zett, das war der Namen des verstorbenen Hündchens ihrer Herrin. Diese war mit einem Goldschmied verheiratet. Als ihr Mann verstarb heiratete sie einen Priester, mit dem sie schließlich die Überfahrt ins verheißene Land wagte.

Das Mädchen ist eine verbissene Kämpferin. Sie schlägt sich durch die Wildnis und schafft es sich Nahrung zu beschaffen, um zu überleben. Sie lernt die Natur lesen. Ich habe mir ihr gefroren und Hunger gelitten, war mit ihr in Höhlen und Unterschlupfen und habe mich vor der Dunkelheit gefürchtet. Die Autorin bringt das alles sehr authentisch rüber. Auf der Überfahrt war ich auch ein bisschen verliebt in den jungen Glasbläser aus Holland, der dann leider verstarb. Das Mädchen hatte sich mit ihm eine wundervolle Zukunft ausgemalt. Die Geschichte der Powhatan-Frauen, die sich an einem Vergewaltiger gerächt haben, hat mich bis ins Mark erschüttert. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.

Lauren Groff schreibt wahnsinnig intensiv. Trotzdem hatte das Buch für mich auch Längen. Ich musste mich teilweise zwingen weiterzulesen.

Fazit: Eine starke Erzählung.