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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2023
Gewässer im Ziplock
Vowinckel, Dana

Gewässer im Ziplock


gut

Ein toller Start, hinten raus fehlt mir die literarische Ausdauer

Die Eltern der Hauptfigur Margarita leben getrennt. Masha, die Mutter, lebt in Chicago, der Vater, Avi mit Margarita in Berlin. Avi ist Chasan in einer jüdischen Gemeinde. Margarita besucht das jüdische Gymnasium. Die beiden führen ein bescheidenes Leben. Wie viele 15-jährige Mädchen denkt Margarita nur an Jungs, insbesondere an Nico. Sie verbringt den Sommer wie zuvor in Amerika bei den Großeltern, langweilt sich, nimmt an Sommerkursen teil. Langsam ist sie zu alt für die Großelternbesuche. Doch plötzlich soll Margarita aus ihrer Lethargie gerissen werden und mit ihrer Mutter, die sie kaum kennt, nach Israel reisen.

Gefallen hat mir vor Allem der Anfang des Romans. Es wird das Leben von Avi und Margarita beschrieben. Ich mochte die Passagen über das Vorbeten bzw. das Singen sehr gern. Ich konnte mich der schönen Atmosphäre regelrecht hingeben. Avis begleitende Gedanken waren sehr angenehm zu lesen. Ich dachte so bei mir: „Welch ansprechender Glaube?“ Dabei ist sogar das Warten mit dem Gebet bis 10 Herren anwesend sind zu verschmerzen.

Die Darstellung von Margarita als trotzköpfige Teenagerin war ebenfalls gelungen wie auch das Zusammenspiel mit Avi. Glaubwürdig kommen mir darüberhinaus die Anzahl der jugendlichen sexuellen Handlungen und die Lügen in diesem Kontext vor. Das Miteinander von Großeltern und Margarita war mit einer ordentlichen Portion Humor gespickt. Die Ausführungen zu vorherrschenden Lautstärken sowie zu sämtlichen Kochaktivitäten waren einfach nur köstlich.

Ins Kippen kam mein Wohlwollen dem Roman gegenüber erst mit der Reise nach Israel. Wie die Reise selbst, wirkt wie Vieles erzwungen. Ich habe nicht unbedingt verstanden, warum der Familienrat Margarita mit ihrer Mutter zusammen bringt. Wer ist in diesem Sinne der Familienrat? Ob Avi von der Richtigkeit der Reise überzeugt war, blieb mir ebenfalls verbogen. Dieses Konstrukt mit der Reise hat mich irgendwie abgehängt. Deshalb habe ich einen Klemmer damit. Weniger gefallen haben mir darüberhinaus die vielen Streitereien. Zwischen Margarita und den Erwachsenen erschien es noch halbwegs normal, aber Masha und Avi, das war zu viel und zu kindisch. Ich konnte lange nicht mehr erkennen, wo das Alles hinführen soll. Deshalb hat mich die zweite Hälfte nicht überzeugt. Der literarische Wert hatte zu diesem Zeitpunkt leider ebenfalls stark abgenommen.

Ingesamt wirkt es, als wäre dem Roman irgendwann die Luft ausgegangen. Das anfänglich hohe Niveau konnte leider nicht gehalten werden.

Bewertung vom 24.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Beeindruckende Stimme zu Armut, Gewalt und Rassismus
Im Bosten von 1974 wohnt Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Jules in Southie, einem überwiegend irisch geprägten Stadtteil. Als die Proteste gegen das Busing - schwarze Kinder sollen mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und weiße Kinder in schwarze Schulen - losgehen, kommt Jules eines Abends nicht nach Hause. In größter Sorge beginnt Mary Pat die Suche nach der Tochter. Einzige Unterstützung findet sie bei Detective Bobby Coyne, der seinerseits nach Jules fahndet, weil er glaubt, dass sie in den Mordfall an Augie Williamson verwickelt ist.

Dieser Roman ist eine Wucht. Mit Mary Pat Fennessy als tragender Figur werden die durch Gewalt und Armut gekennzeichneten Lebensumstände in Southie gekonnt rübergebracht. Sie transportiert mit ihrer derben Sprache den Sound des Viertels direkt ins Herz der Lesenden, eine Gegend mit eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten, die sich fest im Griff einer Mafia befindet, wo Schutzgeldzahlungen und Drogenhandel an der Tagesordnung sind.

Dennis Lehane hat mich regelrecht reingezogen in seinen Roman, ich konnte nicht entkommen. Obwohl Mary Pat Fennessy überhaupt nicht meinen Vorstellungen, wie man sein Leben angeht bzw. wie man sich grundsätzlich verhält, entspricht, mochte ich diese mutige Frau sehr gern. Es ist nicht mal Mitleid, was da mitschwingt, sondern vielmehr Bewunderung für einen Gerechtigkeitssinn, der von Staats wegen nicht gewährleistet wird. Selbst die damit einhergehende Gewalt, die ich im hier und jetzt ablehne, konnte ich schon irgendwie nachvollziehen. Nach meinem Empfinden werden Urinstinkte bei der Leserschaft angesprochen, wodurch das Mitfiebern mit der Protagonistin entsteht.

Der einnehmende Schreibstil des Autors lies mich den Roman locker weg lesen. Leicht ist der Roman trotzdem nicht, sondern teilweise wirklich schwer auszuhalten. Es ist eben keine reine Fiktion, sondern Teil der Wahrheit im 74er Boston. Man sollte also nicht zu zart besaitet sein. Besonders schwer zu ertragen, war für mich die Aufklärung des Titels.

Ingesamt bin ich schwer begeistert und kann den Roman nur empfehlen.

Bewertung vom 29.07.2023
Refugium / Stormland Bd.1
Lindqvist, John Ajvide

Refugium / Stormland Bd.1


gut

Ausführliche Charaktergestaltung mit punktuellen Spannungsmomenten
Refugium ist ein sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein. Wenn man sich diese Erläuterung beim Lesen bewusst macht, lässt sich der Verlauf der Story durchaus nachvollziehen.
Sie startet mit einem Prolog, der schonungslos ein Verbrechen beschreibt, dass seinesgleichen sucht. Die Gäste einer Mittsommer-Party werden mittels Schnellfeuerwaffen mitsamt der ganzen Festtafel niedergemäht. Nur die Tochter des Gastgebers, Astrid Helander, überlebt. Schockiert von den Erlebnissen spricht sie kein Wort mehr.

Julia Malmros und Kim Ribbing befanden sich während des Massakers auf der Nachbarinsel. Beide starten umgehend mit Ermittlungen, obwohl ihnen das gar nicht zusteht. Julia Malmros ist zwar ehemalige Polizistin, aktuell allerdings als Krimiautorin tätig. Kim Ribbing ist ein Cracker. Er soll Julia bei ihrem neuen Buch mit seinem Fachwissen unterstützen. Die eigentliche, also die polizeiliche Ermittlung obliegt Jonny Munther, ausgerechnet Julias Ex-Mann.

In dieser Konstellation gelingt der schwedischen Polizei wenig. Die Ermittlungen gehen dermaßen schleppend voran, dass die Polizei insgesamt in einem schlechten Licht erscheint. Das mochte ich eher nicht so. Natürlich ist durch die Ex-Beziehungs-Gemengelage ein gewisses Durcheinander vorprogrammiert, aber ich hätte mir mehr Gleichgewicht zwischen den Ergebnissen der Hobbyermittler und der richtigen Polizei gewünscht. Bei so einem Fall wäre zudem ein Machtwort seitens der Polizei gegenüber Julia und Kim irgendwann angebracht gewesen.

Insgesamt wird mir in diesem sogenannten Thriller auch zu wenig ermittelt. Brenzlige Situationen sind selten und werden aus meiner Sicht nicht richtig ausgekostet. Dabei sind die Ideen an sich vielversprechend. Dadurch bleibt die Spannung im ganzen Roman lediglich auf Sparflamme. Richtig atemlos war ich nur während des Prologs. Ich finde, hier wurde viel verschenkt.

Lindqvist konzentriert sich mehr auf die Schaffung seiner Figuren, hauptsächlich Julia und Kim. Die Hintergrundinformationen zu den Beiden sind zwar attraktiv, hätten meines Erachtens aber zurückhaltender eingestreut werden können. Auf manches Detail hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch ganz verzichtet. Es stehen schließlich noch weitere Bände zur Verfügung. Das Kennenlernen der Beiden ist jetzt so turbomäßig erfolgt, dass ich mir vorkomme, als hätte ich direkt nach der ersten Begegnung alles über Julia und Kim auf Social Media recherchiert.

Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Denn eigentlich wollte ich einen spannenden Thriller lesen. Dieses Genre war in Refugium leider nur in Ansätzen zu finden. Deshalb weiß ich auch noch nicht, ob ich Signum und Elysium lesen werde.

Bewertung vom 19.07.2023
Hotel Silence
Ólafsdóttir, Auður Ava

Hotel Silence


ausgezeichnet

Positive Lebenseinstellung kann man erlernen
Jonas fühlt sich einsam wie noch nie. Seine Ehefrau hat ihn verlassen und ihm mitgeteilt, dass die mit viel Liebe großgezogene Tochter nicht von ihm ist. Sein ganzer Lebensinhalt fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Jonas weiß zunächst nicht, wohin mit sich. Er denkt an den Freitod, doch auch gleichzeitig, was sein Suizid in seinen Liebsten auslösen würde. Ihm bleibt nur die Flucht.

Seine Reise führt ihn in ein kriegsgebeuteltes Land. Dort lernt er Mai, Fifi und Adam kennen. Seine Wahrnehmung verändert sich. Ich mochte die Konstellation aus westlichen Wohlstandsproblemen und der Challenge ums Überleben. Die eigene Sichtweise wird geerdet.

Besonders war hier die Herangehensweise an die Geschichte. Obwohl die Geschehnisse nur lückenhaft beschrieben sind, hat sich für mich ein ganzheitliches Bild ergeben. Viele offene Enden regen zum Nachdenken an. Dafür ist es allerdings erforderlich, dass man ab und zu innehält und das Gelesene auf sich wirken lässt. Da der Roman gleichzeitig sprachlich sehr angenehm weitergeleitet, ist das gar nicht so einfach. Man wird zum suchthaften Lesen in einem Stück verleitet. Die Nebenfiguren, wie der Gastwirt oder die Schauspielerin, sowie das Setting an sich blieben anonym, so dass der Fokus auf einer Hand voll Personen lag. Für mich ist dadurch ein literarisch ansprechender Roman entstanden. Darüberhinaus bringt er eine gewisse, teilweise makabre Komik mit, die immer wieder Licht in die ansonsten trübe Grundstimmung bringt.

Ansonsten hat mir der menschliche Zusammenhalt im Roman gut gefallen. Die Leute im Ort sind füreinander da, sorgen wechselseitig dafür, dass letztlich alle Gewerbetreibende von den wenigen Gästen profitieren. Empfehlungen und Anrufe bringen Gäste und Gewerbetreibende zusammen. Obwohl es nach dem Krieg bzw. während der Waffenruhe noch keine sichere gesellschaftliche Organisation gibt, gibt es einen Ausgleich und Ordnung im Ort.

Insgesamt hat mir „Hotel Silence“ gefallen, gern empfehle ich den Roman weiter.

Bewertung vom 10.07.2023
Vom Ende der Nacht
Daverley, Claire

Vom Ende der Nacht


sehr gut

Schöne, zwischendurch traurige Liebesgeschichte
Will und Rosie sind die typischen Underdogs, vielleicht auch Nerds. Beide sind ein bisschen verschroben, tun teils seltsame Dinge und haben eine Einstellung zum Leben, die in unserer Leistungsgesellschaft nicht unbedingt als normal gilt.
Will ist kein schlechter Schüler, könnte an die Uni gehen, doch seine Zukunft sieht er in der Werkstatt. Er schraubt lieber an Motorrädern rum, egal, ob er dann als ungelernte Kraft schlecht bezahlt wird. Will folgt hier seiner Leidenschaft.
Rosie scheint mit dem hinterletzten Probenraum verwachsen zu sein. Hier schreibt sie Songs und gibt sich ihren Träumen hin. Von Hause aus sollte sie allerdings lernen für beste Noten, um an einer Eliteuniversität studieren zu können. Um ihre Figur sollte Rosie sich ebenfalls kümmern. All zu gern drückt sie sich vor ihrem Fitnessprogramm.

Als Will und Rosie sich zum ersten Mal begegnen, ist es vielleicht nicht Liebe auf den ersten Blick, aber es gibt eine gewisse Anziehungskraft. Doch obwohl die beiden für einander bestimmt zu sein scheinen, kommt ihnen das Leben dazwischen. Sie folgen den Zwängen ihres Umfelds, können aber auch irgendwie nicht voneinander lassen.

Claire Daverley schafft eine Atmosphäre von Zuneigung und Schmerz. Die Autorin erzeugt bei den handelnden Personen wie auch bei ihrer Leserschaft intensive Emotionen. Einerseits schmerzt es, der Entwicklung dieser On-Off-Beziehung beizuwohnen, andererseits möchte man den beiden zurufen, doch endlich ihrer Leidenschaft zu folgen. Ich schwankte stark zwischen Mitgefühl und Wut über die Unfähigkeit von Will und Rosie auch nur eine Grenze zu überschreiten.

An einigen Stellen war die Story mir etwas zu vorhersehbar. Auch waren es mir zu viele Schicksalsschläge, die beide ertragen mussten. Hier hätte ich mir entweder mehr Abwechslung oder einfach weniger gewünscht. Nichts desto trotz war der Roman angenehm zu lesen. Wer Lovestories liebt, wird sich damit ganz und gar wohlfühlen. Ich hatte mir etwas mehr drumherum vorgestellt, vielleicht auch einen größeren Kreis an tatsächlich handelnden Personen. Schließlich wird ein recht langer Lebensabschnitt behandelt, da wären mehr Begegnungen und etwas mehr Komplexität durchaus angebracht gewesen.

Bewertung vom 03.07.2023
Meck und Schneck. Ein Löwe ist kein Kuscheltier
Engler, Michael

Meck und Schneck. Ein Löwe ist kein Kuscheltier


sehr gut

Von kleinen Helden, die über sich hinauswachsen
„Ein Löwe ist kein Kuscheltier“ ist eine kurze Geschichte, die vorgelesen werden kann, sobald Kinder in der Lage sind einen Augenblick zuzuhören. Sie ist aber auch gut geeignet für Erstleser, die gerade die erste Klasse beenden. Das Vokabular ist einfach gestaltet, trotzdem liebevoll arrangiert. Der Umfang der Geschichte ist so übersichtlich, dass beide Zielgruppen das (Vor)gelesene erfassen können.

Schneck ist eine Schnecke mit viel Angst und großen Augen. Da es nicht so bleiben kann, dass er sich vor Allem fürchtet, beschließt er einen Löwen zu fangen, um seine Ängste zu überwinden. Denn wer einen Löwen fängt, braucht vor nichts mehr Angst zu haben. Auf seiner Suche trifft er Meck, der ihn fortan auf seiner Reise begleitet und jede Menge Tipps auf Lager hat.

Meiner Tochter, einer Erstleserin, hat das Buch gut gefallen. Sie hat sich gefreut, dass sie es ohne jegliche Hilfe lesen kann. Ich finde diese Erfolgserlebnisse motivierend und freue mich, wenn sie das nächste Buch in die Hand nimmt. Zudem gefallen uns die Illustrationen sehr, denn neben dem Text gibt es jede Menge zu entdecken.

Sehr gern empfehle ich dieses textlich und bildlich sehr ansprechende Buch. Ich kann regelrecht mitfühlen, wie viel Liebe in der Entstehung steckt.

Bewertung vom 22.05.2023
Das Licht im Rücken
Lüpkes, Sandra

Das Licht im Rücken


sehr gut

Eine Erfindung ihre Familie und Freunde
Die Geschichte der Leica beginnt 1914 in Wetzlar, als der Feinmechaniker und Tüftler, Oskar Barnack, den Fotoapparat im Taschenformat, dessen Konstruktion ihm soeben gelungen ist, seinem Chef bei den Leitz-Werken vorstellt. Obwohl die Firma eigentlich Mikroskope entwickelt und produziert, sieht Ernst Leitz, der Sohn des Firmengründers das Potenzial des Gerätes. Der neue Roman von Sandra Lüpkes resümiert aber nicht nur die technischen Entwicklungsschritte der Kamera, sondern erzählt aus dem Leben der Inhaberfamilie, deren Freunden und Bekannten sowie von wichtigen Mitarbeitern der Firma Leitz. Durch den historischen Hintergrund fällt die Geschichte in die Zeit der Weltkriege.

Zunächst läuft die Handlung recht dokumentarisch ab. In unzähligen kurzen Sätzen werden Fakten präsentiert, Familienverhältnisse aufgeklärt. Wichtige Stationen der Firmengeschichte werden berichtet. Dadurch habe ich in der ersten Hälfte des Romans auch ein paar Längen empfunden. In dieser Phase mochte ich die Beschreibungen aus dem Haus der Präsente sehr gern. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie die Wetzlarer große Augen machen, wenn sie silberne Kerzenständer oder so einen neumodischen Eierschneider bestaunen. Im weiteren Verlauf, mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten, wurde der Roman für mich emotionaler. Schon während der ersten Aufmärsche haben mich Einzelereignisse berührt. Die Nähe zu den Protagonisten wuchs stetig an, so dass mich manches Schicksal zum Ende hin Tränen in die Augen getrieben hat. Ich musste ganz schön kämpfen, sie nicht los zu lassen.

Den angenehm lesbaren Schreibstil in Kombination mit dieser ansteigenden Handlung mochte ich gern. Neben dem Emotionalen nahm auch die Spannung immer weiter zu. Abgerundet wird die Geschichte der Leica durch ein kurzes Nachwort der Autorin und ein Personenregister in alphabetischer Reihenfolge. Da es eine Häufung der männlichen Vornamen Ernst und Gustav gibt und vier Generationen Leitz im Roman Platz finden, hätte ich einen zusätzlichen Familienstammbaum hilfreich gefunden. Dafür wartet das Buch mit einer besonders schönen Gestaltung auf. Neue Entwicklungsstufen der Leica tauchen zeitlich korrekt zwischen den entsprechenden Kapiteln auf. Auch die weltweite Verbreitung der Kamera wird bildhaft dokumentiert. Im Vor- und Nachsatz befinden Fotos der Familie Leitz, deren Nachweis und Erläuterung sich auf den letzten Seiten befinden.

So entsteht insgesamt ein sehr lesenswerter Roman, der tatsächliche Ereignisse mit literarischer Fiktion ergänzt, und somit einen glaubwürdigen Eindruck des Lebens in politisch veränderlichen Zeiten zwischen zwei Weltkriegen vermittelt. Es braucht etwas Geduld bis der Roman richtig Fahrt aufnimmt. Für mich hat es sich gelohnt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.05.2023
Der Morgen / Art Mayer-Serie Bd.1
Raabe, Marc

Der Morgen / Art Mayer-Serie Bd.1


ausgezeichnet

Spannender Start in eine neue Serie

Nachdem ich alle Bände der Reihe um Tom Babylon regelrecht verschlungen hatte, wollte ich natürlich auch in die neue Reihe von Marc Raabe hinein schnuppern. Mit seinem auffälligen Buchdesign aus schwarzem Buchschnitt und Pink-schwarzem Cover drängt sich das Werk förmlich auf, ist ein richtiger Hingucker.

So passt die Optik perfekt zum spektakulären Start in den Thriller. Im winterlichen Berlin wird an der Siegessäule eine halbnackte Frauenleiche gefunden. Auf ihrem Körper steht etwas mit Blut geschrieben. Es ist die Adresse des Bundeskanzlers. Damit hat der Fall sofort eine politische Komponente, mehr Komplexität, wird insgesamt brenzliger.

Die Rollenverteilung ist hier recht klassisch. Artur Mayer ist der gefühlt schon gebrochene Ermittler, der eigentlich hinwerfen will. Er ist gezeichnet von den Erlebnissen der Vergangenheit, man ahnt sofort Schlimmes, weiß aber noch gar nichts. Er ist unkonventionell, dehnt geltende Regeln nach eigenem Ermessen und doch hat Art, wie ihn alle nennen, ein gutes Herz. Ihm zur Seite wird die Hochschulabgängerin Nele Tschaikowski gestellt, Frau, unerfahren und ehrgeizig. Über diese klischeehafte Konstellation bin ich kurz gestolpert, bis ich entdeckt habe, welchen modernen Drive Nele in die Story bringt. Unverfroren gendert sie, bringt sich als Frau in Position und geht ihrem Chef damit gehörig auf die Nerven.

Stilistisch bleibt sich der Autor treu und bedient sich wie auch schon bei Tom Babylon Rückblenden in die Jugend. Dadurch verfolgen wir abwechselnd Artur Mayers abenteuerliche Jugendzeit sowie den aktuellen Fall und bekommen in kleinen Häppchen potenzielle Zusammenhänge präsentiert. Dabei versteht es Marc Raabe auf unnachahmliche Weise, sein komplexes Gerüst aus roten Fäden weiterzuspinnen und die für diesen Teil entscheidenden Fäden letztlich wieder zusammen zu führen. Einige Anfänge bleiben unvollendet. Sie machen Hunger auf auf die weiteren Bände dieser neuen Serie.

Insgesamt entsteht ein richtig spannender Thriller, der zusätzlich aktuelle Themen wie Pandemie, Ukrainekrieg und FakeNews mit verarbeitet. Durch die über den Fall hinaus konstruierte Vielschichtigkeit war es zu keinem Zeitpunkt irgendwie träge, sondern sehr erfrischend und modern. Auch die Zeichnung der Charaktere fand ich gelungen. Neben dem Ermittlerteam lernen wir weitere Personen richtig gut kennen, weshalb ich sehr gespannt bin, in wie weit sie auch in den nun folgenden Bänden auftreten dürfen.

Voller Vorfreude warte ich nun auf das Erscheinen von Band Zwei und empfehle sehr gern die Lektüre dieses Auftaktes.

Bewertung vom 18.05.2023
Die einzige Frau im Raum / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.4
Benedict, Marie

Die einzige Frau im Raum / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.4


gut

Solider Roman, der sein Potenzial nicht voll ausschöpft

Hedy Lamarr ist eine bekannte Hollywoodschauspielerin und Erfinderin des 20. Jahrhunderts, doch mir selbst war sie völlig unbekannt. Da ich von Marie Benedict schon den wunderbaren Roman zu „Frau Einstein“ kannte, wollte ich mich nun auch mit Hedy Lamarr beschäftigen und ihren neuen Roman lesen.

Hedy wächst als Tochter von Emil Kiesler, dem Direktor des Wiener Bankvereins, und Gertrud Lichtwitz, einer ausgebildeten Konzertpianistin auf und widmet sich schon sehr früh der Schauspielerei. Nach einem skandalösen Film wechselt sie ans Theater, bemüht um mehr Ernsthaftigkeit. Dadurch wird auch ihr späterer Ehemann, Friedrich Mandl, auf Hedy aufmerksam.

Unsere Protagonistin ist ein Freigeist. Sie rebelliert ein wenig gegen die Mutter, wird vom Vater animiert, sich thematisch vielfältiger zu beschäftigen als es die Gesellschaft ihr eigentlich zugesteht. Dadurch baut sich Hedy ein facettenreiches Allgemeinwissen auf, das sie mit Hilfe der in ihrem Leben auftretenden Kontakte punktuell vertieft und dabei teilweise annähernd wissenschaftliches Niveau erreicht, ohne jemals studiert zu haben. Damit entwickelt sich Hedy für mich in eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Parallel dazu verdient sie ihren Lebensunterhalt mit der Schauspielerei, wo sie eine beeindruckende Karriere hinlegt. Hinsichtlich meiner Sympathie für Hedy bin ich hin- und hergerissen. Einerseits bin ich begeistert von ihrem Durchsetzungsvermögen in einer von Männern dominierten Welt und Ihrem Mut in der Auseinandersetzung mit ebendiesen. Andererseits kommt mir Hedy nicht wirklich authentisch vor, vermutlich, weil sie auch außerhalb des Filmsets des Öfteren eine Rolle spielen muss.

Wie der Protagonistin selbst stehe ich auch der Umsetzung dieses Romans zwiespältig gegenüber. Anzuerkennen ist Marie Benedicts Auseinandersetzung mit vergessenen, unterschätzten Frauen. Die Autorin gibt Hedy Lamarr, die Bühne, die sie verdient. Dabei bedient sie sich einer angenehm lesbaren, bildlichen Sprache und stellt den wissenschaftlichen Anteil für ein breites Publikum verständlich dar. Leider geht sie auf einige Themen, die für mich von Bedeutung waren, nur oberflächlich ein. Beispielsweise wird die Situation der in Wien verbliebenen Juden nach der Annexion Österreichs nicht ausgeführt, dabei war im ersten Drittel des Romans die österreichische Perspektive auf den historischen Hintergrund stark ausgeprägt. Auch die Flucht-Odyssee ihrer streitbaren Mutter hätte ich gern intensiver mitverfolgt. Zudem kam mir der Fokuswechsel von der Schauspielerin hin zur Erfinderin zu abrupt. Das Forschertalent mit dem zugehörigen umfangreichen Wissen ist bestimmt nicht nur aus den sonntäglichen Gesprächen mit dem Vater und der Tischkonversation mit den Gästen ihres Gatten entstanden. Hier hätte ich mir ebenfalls mehr Tiefe gewünscht.

Nicht desto trotz war der Roman interessant für mich. Ich habe durch die Lektüre eine beeindruckende Persönlichkeit kennengelernt. Insgesamt war mir die Umsetzung allerdings zu seicht.

Bewertung vom 24.04.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Lektüre, die erdet und entschleunigt

Der Roman beginnt 1966 als sich Wien langsam von den Kriegsschrecken erholt, die Verhältnisse trotzdem noch ärmlich sind. In dieser Zeit schlägt sich Robert Simon als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt durch und bewohnt ein Zimmer bei einer Kriegerwitwe. Doch bald schon beschließt er ein leerstehendes Café vor weiterem Verfall zu retten und neu zu eröffnen. Sein Angebot ist klein, besteht lediglich aus Schmalzstullen, Salzgurken und diversen Getränken. Eigentlich würde die Bezeichnung Schankwirtschaft viel besser passen.

Doch entscheidender ist, wer das Café besucht, mit welchen Herausforderungen die Gäste zu kämpfen haben und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln. Robert Seethaler widmet seine Geschichte den einfachen Menschen. Er schenkt ihnen ein Bier ein und hört ihren alltäglichen Geschichten zu. Dadurch entsteht eine einfühlsame leidvolle Atmosphäre, die der Erzählweise meiner Großeltern und ihren Besuchern entspricht. Stundenlang saßen sie in meiner Kindheit auf der Gartenbank und haben sich was erzählt. Daran musste ich beim Lesen ganz oft zurück denken.

Bei Seethaler bekommen Menschen eine Stimme, für die sich normalerweise niemand interessiert, der Fleischermeister mit seinen Kindersorgen aus dem Laden gegenüber, der Hauseigentümer Vavrovsky, die arbeitslos gewordene Näherin Mia, der Preisboxer, der Mann mit Glasauge und einige andere mehr. Es ist schön, die einzelnen Paarungen an den Tischen aus einer Ecke des Cafés heraus zu beobachten, ihren Gesprächen und Gedanken beizuwohnen. Dieses Jahre überdauernde Stimmengewirr ergibt eine leises, sehr authentisches Spiegelbild der bescheidenen Leute seinerzeit. Eine spannende Handlung war hier nicht notwendig, um mir zu gefallen. Das Auf und Ab des Cafés und seiner Gäste waren in meiner Wahrnehmung Handlung genug. Nur so kam die Stimmung des wiedererwachenden Wiens unverfälscht bei mir an.

Es mag sein, dass der ein oder andere diese Auseinandersetzung vielleicht langatmig findet. Mich hat Robert Seethaler mit seinem Café ohne Namen tief berührt. Ein schöner Ausgleich zu unserer schnellen, undankbaren Wegwerf-Lebenswirklichkeit von heute. Ich kann diese Erdung und Entschleunigung nur empfehlen.