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Marianna T.

Bewertungen

Insgesamt 151 Bewertungen
Bewertung vom 12.09.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


ausgezeichnet

Kraftvoll

Von Pina und Lobo hängt das Dorf ab, denn ihr Wachstum ist das Wachstum des Dorfes. Doch sie wachsen nicht und das Dorf verschwindet. Währenddessen zeigen sich Dora in der Arktis die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt sehr deutlich.
Gianna Molinari schafft es auf poetische Art das Wirken des Menschen sehr deutlich zu machen. Es geht um Wachstum, Stillstand, Bedeutsamkeit. Ihre Botschaft ist klar. Die Welt ist Müllhalde der Zivilisation und die Zivilisation wird von der Welt ausgelöscht.
Das Dorf, in dem Pina und Lobo leben, wird immer ein Stück mehr ausgelöscht, es löscht sich selber aus. Und jedes noch so große Klammern an Bedeutsamkeit für die Gesellschaft oder die Welt führt zu nichts.
Das Meer dagegen ist endlos weit und der Mensch ihm unterlegen. Dora ist fasziniert davon. Ihre Faszination wird spürbar. Was auch rüber kommt ist Wut und Entsetzen, obwohl die Charaktere dies nicht deutlich ausdrücken. Wut und Entsetzen über das Wirken des Menschen, Scham über dessen dumme Besitzansprüche und das Streben nach Herrschaft.
Die Autorin schafft durch Wiederholungen Aussagen zu verstärken und diese gleichzeitig infrage zu stellen. Das Motiv "euer Wachstum ist unser Wachstum" hat eine große Kraft. Gleichzeitig hat die Autorin eine sehr ruhige und fließende Erzählweise, die gerade durch die leisen Töne sehr eindrücklich wird. Was sie mit den handgezeichneten Bilder sagen wollte, ist mir dagegen nicht klar geworden. Sicher etwas Bedeutsames. Denn in diesem vielschichtigen Buch ist alles von Bedeutung.
Die Botschaft ist hart. Wären die Kapitel nicht so kurz und die Szenen nicht so sehr abwechslungsreich, würde diese Botschaft sicherlich erdrücken. So ließ sich die Geschichte zügig lesen.
Dies ist eine Geschichte, mit einer prägnanten Botschaft und viel Wut, die mit viel Feingefühl erzählt wird.

Bewertung vom 09.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


sehr gut

Midelifecrisis?

Nele Pollatschek schreibt sehr einfühlsam aus der Perspektive des fast 50 jährigen Lars, der Ordnung in sein Leben bringen möchte. Man sieht, was es bedeutet sich neu zu finden. Die Kinder sind aus dem Haus und die Frau auf Reisen.
Lars hadert sehr lange mit seinen Aufgaben. Es wird klar wieviel für ihn an scheinbar leichten Alltagsaufgaben und größeren Lebenswerken hängt, wie er Realität verdrängt, nachdem er alles so lange aufgeschoben hat und wie groß und unerreichbar alles geworden ist. So macht er was er gut kann: hadern, weg schauen, philosophisieren. Und als er dann anfängt zeigt sich wie viele Stolpersteine es allein durch das Aufschieben und Verdrängen gibt. Doch wie soll er mit der Enttäuschung über sich umgehen, seinem Leben, dass er mit wegschauen und verdrängen verbracht hat? Was hat das mit ihm und seinem Umfeld gemacht und wie kann er nun weitermachen? Es wird klar, dass es eine Neuorientierung braucht und auch, dass seine Frau nicht einfach nur auf Reisen ist. Er macht also eine To-Do-Liste und im Abarbeiten dieser Liste zeigt sich, wie er Abschied nimmt, Verstehen versucht und sich Neuzuorientieren versucht. Doch wie kann ihm dies gelingen, nachdem er 50 Jahre so gelebt hat?
Lars' Erzählung hat viel Tragik, dagegen nichts Komisches. Einige Stellen, besonders die sehr phantastischen kamen mir merkwürdig vor. Sein Monolog, denn von den anderen Charakteren hört man nur durch ihn, ist ausufernd. Seine Gefühle deuten sich an. Sein Ringen, Abschweifen und Ausweichen sind schwer erträglich. Seine "Kopfstimme" (die seiner Frau) trifft häufig mein Empfinden: nun mach doch mal! Doch es wird deutlich, dass er nicht so einfach kann, dass es unerreichbar ist. Fast wirkt er depressiv. Denn der Hausputz ist nicht nur Hausputz, sondern Konfrontation mit der Realität und seiner Unfähigkeit.
Bei allem Verständnis für sein Empfinden war das Lesen des Monologs eher anstrengend. Lars ist sympathisch und unsympathisch zugleich. Die Erzählung hatte einige Längen, auch wenn sie dadurch besonders realistisch ist.
Nele Pollatschek ist es gelungen mit besonders großer Aussagekraft über einen Mann in der Midlifecrisis zu schreiben.

Bewertung vom 17.08.2023
Der Vorweiner
Bjerg, Bov

Der Vorweiner


sehr gut

Weite Teile Europas und der ganzen Welt sind durch Katastrophen umbewohnbar geworden. Die Welt besteht nur noch aus Beton und entweder unaufhörlichem Regen oder Dürre. Die Oberschicht hat sich die menschlichen Gefühle von Trauer und Verlust komplett abgewöhnt und beschäftigt jetzt Vorweiner, Geflüchtete, die noch zu echter Trauer fähig sind.
Es ist beeindruckend mit welcher Wortgewalt aber auch geschicktem Sprachgebrauch der Autor diese unmenschliche Welt zeichnet. Dabei geht er mit viel bösem Sarkusmus vor und überzeichnet, grenzwertig und grenzüberschreitend. Beim Lesen war ich zwischen Vergnügen und Entsetzen hin und hergerissen. Das ist ein Roman, der entweder begeistert oder entsetzt.
Mit tiefsinnigen Wortspielen, wie "Zerstreuungsfeiern", schafft er es auf humorvolle Art das Makabre hervorzuheben. A wie Anna und B wie Berta fügen sich nahtlos in diese zerstörte und brutale Welt ein. Jedes Mitgefühl ist ihnen abhanden gekommen und damit auch jede Bedeutsamkeit füreinander. Es ist verstörend und eklig wie die Menschen miteinerander umgehen. Dem Autor gelingt es sowohl psychologische als auch soziologische Aspekte und vorallem Gesellschaftskritik glaubwürdig zu platzieren. So bringen die Medien zum Beispiel nur noch Fake-Nachrichten mit entsetzlichem Inhalt. Die Aussagekraft der Geschichte ist enorm.
Es stehen starke philosophische Fragen dahinter. Ist es möglich sich die Trauer abzugewöhnen? Woran bemisst sich der Wert von Menschen? Was braucht es für ein zufriedenes Leben? Wie können wir den großen Krisen unserer Zeit vorausschauend und umsichtig begegnen?
Das hat auch dafür gesorgt, dass ich das Buch nicht aus den Händen legen konnte - trotz innerer Abwehr, Ekelgefühlen und Entsetzen.
Schwierigkeiten hatte ich auch mit der undurchsichtigen zeitlichen Erzählabfolge. Es ist alles irgendwie durcheinandergewürfelt und wird dann auch infrage gestellt. Die Erzählerin ist nicht durchgehend zuverlässig.
Bemerkenswert erscheinen mir die sarkastischen Kapitelüberschriften zusammen mit dem kurzgefassten Inhalt vor jedem Kapitel wie "worin Berta ... (Dosenananas, sexuelle Inhalte)". Alles hat Bedeutung und braucht eigentlich einen zweiten Blick, müsste ein zweites Mal gelesen werden.
Der Roman hat mich sehr bewegt. Der geschickte Sprachgebrauch, viel böser Sarkasmus und die bedeutsame Botschaft sind positiv gegenüber den provokativ verstörenden Inhalten hervorzuheben.

Bewertung vom 17.05.2023
Mein PMS und ich
Wagner, Mirjam

Mein PMS und ich


ausgezeichnet

Anschaulicher und glaubwürdiger Ratgeber

PMS und andere hormonelle Erkrankungen werden von einigen Fachfrauen, aber auch -männern thematisiert. Es sind Hormoncoaches, Heilpraktiker*innen, diverse Berater*innen, aber auch einzelne Ärzt*innen. Jetzt im Mai findet auch gerade wieder ein Online-Frauenhormonkongress statt, der viele Expert*innen zusammenbringt. Alle scheinen sie unterschiedliche Ansatzpunkte zu haben, mal die Ernährung, Hormonyoga, Lifestyleänderungen, Versorgung mit Vitaminen, Darmgesundheit etc.

Dr. Miriam Wagner beschäftigt sich in ihrem Ratgeber mit einer großen Bandbreite dieser wissenschaftlichen, aber auch ganzheitlich alternativen Ansätzen, bei der auch ihre eigenen Erfahrungen eine Rolle spielen.
Es gelingt ihr anschaulich grundlegende und weiterführende Informationen über den weiblichen Körper zu liefern und somit ein Verständnis für die zyklischen Zusammenhänge zu schaffen. Sie beschreibt das Jahreszeiten-Modell, mögliche Ursachen und Symptome und beschäftigt sich dann mit möglichen Therapien und Selbsthilfestrategien. Eine runde Sache.
Ihr Ratgeber lässt sich gut lesen, nicht nur wegen ihrer Glaubwürdigkeit sondern auch wegen der anschaulichen Gestaltung. Kleine farblich hervorgehobene Tips und Informationen heben Wichtiges hervor, Fragen am Ende der Kapitel bieten die Gelegenheit zur Selbstreflektion, Bilder und Übersichten sind sinnvoll eingesetzt. Dr. Miriam Wagner hat viele hilfreiche praktische Tips, aus denen sich Jede etwas heraussuchen kann. Das ist wohl auch eine Stärke dieses Ratgebers. Es wird nicht behauptet, dass es nur eine wahre Strategie gibt, sondern diverse Ansatzpunkte.

Bewertung vom 15.05.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Packende science fiction - oder doch realer Thriller?

In einem Betatest eines riesigen Datensammelunternehmens und der CIA in den USA sollen 10 Versuchspersonen 30 Tage für jede Technik unauffindbar sein. Unter den "Zeros" ist auch eine Bibliothekarin, von der man annimmt, dass sie schnell gefunden werden wird. Was sollte sie auch gegen ein weltweit agierendes Sozial-Media-Unternehmen ausrichten, das die besten Hacker, die ausgeklügeltste Analyse- und Spysoftware hat und sogar die Geheiminformationen der CIA nutzen kann?

Kaitlyn ist eine sympathische Hauptfigur, die es nach dem Vorbild "David gegen Goliath", gegen die Macht eines ganzen Landes aufnimmt. Sie scheint gebrochen, einsam und als hätte sie nichts zu verlieren. Im Gegensatz zu den anderen Zeros, deren Beweggründe und Lebensrealitäten anschaulich beschrieben werden, bleiben ihre Beweggründe lange unklar. Unklar bleibt auch wegen der Andeutung ihrer psychischen Erkrankung lange, ob alles wirklich geschieht, oder ob sie es psychotisch erlebt. Es scheint alles möglich.

Der Roman, ob real-Thriller oder science fiction entwickelt bereits am Anfang einen großen Sog und eine knisternde Spannung. Es ist unglaublich real, was das Sozial-Media-Unternehmen mit ihren gesammelten Datenbergen und den extrem findigen Techniker*innen ans Licht bringen kann. Nichts bleibt verborgen, alles wird ans Licht gezerrt, in die Einzelteile zerlegt, Zusammenhänge hergestellt, alles bis ins Kleinste analysiert, sodass der Staat handhabe gegen alles und jeden hat. Die Geschichte bekommt einen derben Geschmack von Orwells 1984 und ist auch ähnlich bedrückend. Das macht es auch so spannend und greifbar.

Anthony McCarten gelingt es, wie in seinen anderen Romanen, unser soziales Gefüge und unser gesellschaftliches Leben und Streben infrage zu stellen. Die Moralische Frage drängt sich auf. Alles kommt auf den Prüfstand. Mit seinen klugen existenziellen Fragen regt er nachhaltig zum Nachdenken an. Es gelingt im hervorragend die Einzelnen glaubwürdig in das Geschehen zu bringen und deren Möglichkeiten sich zu verhalten auszuloten. Schwierige Entscheidungen müssen getroffen werden, manchmal mit dem Risiko um das eigene Leben. Denn das Experiment wirkt sich nicht nur auf die Versuchspersonen aus, es bringt auch das schlimmste aus den Beteiligten hervor, löst eine Dynamik aus, die die Kraft hat, alles zu zerstören.

Packender Thriller mit science fiction-Anteilen, nach dem Vorbild George Orwells. Ein Roman zum Nachdenken.

Bewertung vom 03.12.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


sehr gut

Dysfunktionale Familie

Die Geschichte beginnt mit der tragisch-komischen Beschreibung einer Trauerfeier. Während Alice es ihrer Mutter ängstlich recht zu machen versucht, verweigert sich ihre Zwillingsschwester Hanna komplett. Ihr Bruder Michael verurteilt dies. Schnell zeigt sich das abwertende und manipulative Verhalten der Mutter und die psychischen Erkrankungen einzelner Familienmitglieder als Ausgangspunkt dieser Dynamiken (TRIGGERGEFAHR).

Nach und nach blättert sich das Leben der Familie und ihrer Familienmitglieder auf. Es ist einerseits spannend, aber auch sehr anstrengend die destruktive Dynamik mitzuerleben. Kein Familienmitglied ist besonders sympathisch, sondern eher anstrengend. Die Erzählung ist ungewöhnlich sachlich, liest sich wie ein psychologischer Bericht über die Entwicklung der Einzelnen. Vielleicht ist dies ein gutes Gegengewicht zur emotionalen Intensität und der Tragik, die die gesamte Geschichte ausmacht. Es gibt erst im letzten Drittel Dialoge und Interaktionen, die gegenwärtig wirken. Das ist gewöhnungsbedürftig. Trotzdem das Lesen des Buches wegen der Schwere und der Sachlichkeit sehr langwierig war, hat es sich gelohnt dranzubleiben.

Psychologische Erzählung über destruktive Familiendynamiken. Langwierig, packend und tiefgehend.

Bewertung vom 23.10.2022
Die Rückkehr der Kraniche
Fölck, Romy

Die Rückkehr der Kraniche


sehr gut

Frauenleben

Als Wilhelmine Hansen nach einem Sturz im Krankenhaus landet, treffen die ungleichen Schwestern Grete und Freya und Gretes Tochter Anne ungewollt aufeinander. Zurück in ihrem Elternhaus in der Marsch lassen sich ihre Lebenslügen, Verletzungen und unerfüllten Sehnsüchte nicht lange vor den anderen verbergen. Es kommt zur Konfrontation.

Romy Fölck beschreibt die Erfahrungen der Frauen und ihr ganzes Sein sehr anrührend. Die Stärke der Frauen tritt offen zutage, obwohl deren unerfüllten Sehnsüchte, ihre Streitlinien und ihre Schwächen so vordergründig scheinen. Es ist spannend, welche Dynamik sich zwischen den Frauen unterschiedlicher Generation entwickelt. Das Ende ist nicht überraschend. Schnell ist klar, worauf das Ganze hinaus läuft. So bleiben größere Spannungen aus. Zudem ist auch der Erzählfluss zwar fließend, aber vorallem gemächlich. Besonders an diesem Roman sind die Schilderungen des Tierreiches insbesondere der Vögel in diesem Gebiet. Sie sind sehr anschaulich und interessant. Kommt man ohne großen Spannungsbogen aus, so bietet dieses Buch ein leichtes und unaufdringliches Lesevergnügen.

Bewertung vom 23.10.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


gut

Wie im Trüben fischen

Die Familie Mohn trauert um die verstorbene Mutter. Doch die Welt um sie herum missbilligt ihre Art dies zu tun und wirft ihr Trauerverschleppung vor. Am Ende ist klar, dass die Familie ihren eigenen Weg finden muss.

Das Thema klingt tragisch und ernsthaft. Es ist schwer mitanzusehen, wie die Kinder leiden und Mauern um sich errichten, sich prügeln, zurückziehen. Ebenso der Vater.
Das ist es auch, was die Außenwelt nicht hinnehmen kann. Man möchte, dass sie schnell wieder in die richtige Bahn kommen und ihre Trauerarbeit tun. Doch der Beamte des Traueramtes kommt nicht gegen ihren vermeintlichen Eigensinn an.
Nur Menschen, die schon vorher nicht in das System passten, können ihnen Trost spenden. Und das ist das Spannende an dieser Geschichte. Es gibt allerhand Charaktere, allesamt überspitzt und ins Surreale gesteigerte Figuren, die für etwas stehen und die auf interessante Weise miteinander wirken.
Jede Figur und jedes Geschehnis ist absurd und gleichzeitig berührend und alles scheint bedeutsam. Schwierig dabei ist, dass die Geschichte ins Irreale abdriftet, unnahbar und oft unverständlich bleibt. Warum essen sie beispielsweise die Tagebuchseiten der Mutter?
Es ist, als ob man immer nur die trübe Oberfläche wahrnimmt und die wahre Bedeutung, die sicher großartig ist, nicht begreifen kann. Dies könnte den Ergeiz der Lesenden wecken, doch mir fehlt eher eine Deutungshilfe. Sicherlich macht genau dies das Buch so besonders, aber ebenso schwer lesbar und frustrierend.
Zusätzlich ist die Sprache dermaßen bedeutungsschwanger und auf eine anregende Weise poetisch, dass es einerseits vergnüglich und andererseits schwer durchschaubar wird.
Ebenso wie der Vorgängerroman der Autorin "Junge mit dem schwarzen Hahn" gefällt mir dieser Roman genau wegen dieser Tiefe, der Poesie und der einfühlsamen Ergründung der menschlichen Seele. Auch wenn diese Geschichte weniger dunkel ist. Anders ist hier aber, dass alles im Unklaren bleibt.

Gelungener Nachfolger auf "Junge mit schwarzen Hahn", ebenso tiefgehend und poetisch. Sprachlich und inhaltlich jedoch schwer lesbar.

Bewertung vom 18.09.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


sehr gut

Intensiv

Marta und Daniel sind seit zwei Jahren ein Paar. Sie leben in unsicheren Zeiten, ihre Erwartungen an das Leben haben sich noch nicht erfüllt. Ungeplant schwanger zu sein, wirft die Beiden in ein Chaos, dass alles infrage stellt.
Schnell ist man als Leser im Drama dieses Paares angekommen. Erst sind es Daniels Gedanken und Gefühle und dann Martas, die in mehreren Kapiteln beschrieben werden. Dieses wechselnde Erzählen sorgt dafür, dass deutlich wird, wie Beide mit sich ringen und immer wieder gegeneinander prallen, sich einander nicht verständlich machen können. Vorallem können sich ihre jeweiligen Geschichten, ihre Erfahrungen und Sehnsüchte entfalten. Den vielen Zweifeln und Argumenten das Kind nicht zu bekommen, wird wenig entgegengesetzt, trotzdem sind auch Daniels aufkeimende Vatergefühle intensiv erlebbar. Einige Sichtweisen und Annahmen haben mich erstaunt und entsetzt, Vieles konnte ich nachvollziehen. Marta und Daniel sind sehr sympathisch beschrieben. Die Spannung nimmt mit jedem Kapitel zu. Es ist gut spürbar, wie es Beiden in dieser Situation ergeht, ohne das eine Seite mehr wiegen würde. Noch spannender wird es, als Beide sich annähern und das Aushandeln beginnt. Allerdings erscheint mir dies unzufriedenstellend. Zu schnell kommt es scheinbar zu einer nicht wohl überlegten Entscheidung, von der klar ist, dass nicht Beide gut damit leben können. Schwer zu ertragen, aber Realität. Wie werden sie es wohl im Nachhinein beurteilen?
Es wird deutlich, wie schwerwiegend und schwierig die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch ist. Ein Buch, das anregt und nachdenklich macht.

Bewertung vom 08.05.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Gänsehaut

Die Geschichte von Wilhelm Tell ist ein schweizer Nationalmythos um seinen Kampf gegen die Fremdherrschaft der Habsburger. In dieser Version ist Tell jedoch eher ein Antiheld.

Die Geschichte wird in aller Tragik und Brutalität der Zeit erzählt, in der sie spielt. Das macht das Geschehen sehr nah. Die Übergriffe und die Angst der Einzelnen werden deutlich. Ohne Erbarmen und in einer sehr sachlichen Erzählung wird ausführlich auf Missbrauch (auch auf Kinder!), Übergriffe und Todesfälle eingegangen. Das ist nicht überraschend bei einem solchen Drama, aber trotzdem Triggerwarnung! Gerade die Gewalt in der Kirche und Entwicklungen zwischen Einzelnen danach haben mich sehr getroffen.
Es ist gut nachvollziehbar, wie das Leben der Dorfbevölkerung und das Leben auf den Höfen funktioniert, obwohl die Erzählung nicht das Räumliche miteinbezieht. Auch die Äußerlichkeiten der Menschen werden kaum beschrieben. Es wäre bei dieser dichten Erzählung bestimmt auch zu viel gewesen. Alles geschieht im Miteinander. Schnell habe ich mich im Geschehen wiedergefunden und mit den Charakteren mitgefiebert. Unerwartet sympathisch wirken einige Figuren, obwohl sie in der Geschichte den Platz auf der dunklen Seite haben. Das ist eine Stärke des Autors, dass er Figuren wachsen lässt oder in ihnen was hervorbringt, was sie von einer anderen Seite zeigt. Dazwischen sind aber auch Charaktere zu finden, die nur gut oder schlecht sind. Das passt gut in diesen Mythos.
Was zwischen Tell und dem Pfarrer beispielsweise geschieht ist tief berührend. Es passieren unerwartete Wendungen. Gerade um den unnahbaren Tell geschehen die größten Gänsehautmomente.

Die Geschichte hat mich in ihrer Nahbarkeit und Unausweichlichkeit sehr angesprochen. Trotzdem hier ein Mythos nacherzählt wird, hat das Geschehen viel Berührung zu aktuellen Themen. Die Brutalität ist extrem und schwer zu ertragen. Aufgewogen wird es durch die einfühlsamen Charakterisierungen. Beeindruckend.

Leseempfehlung! Ein Klassiker frisch aufgemacht. Tragisch, unausweichlich und beeindruckend.