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Mühlenkind
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Deining

Bewertungen

Insgesamt 32 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2020
Substanz (eBook, ePUB)
Stiller, Barry; Stiller, Dana

Substanz (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Wer hier nicht miträtselt, ist selbst schuld…

Durch Vermittlung eines ehemaligen Grabungsleiters ergattert Peter Conrad einen Platz im Ausgrabungsteam auf der Pestinsel Lazaretto Vecchio vor Venedig. Und natürlich hat er auch wieder Lisa Franks im Gepäck, die sich nach den Erlebnissen auf Brompton Cemetary (das Peter Conrad Abenteuer „Blut“ ist wie alle weiteren Peter-Conrad Fälle ebenfalls unbedingt empfehlenswert!) gemeinsam mit ihm auf wissenschaftlich-entspannte, kriminalistisch-unspektakuläre, lebensungefährliche Arbeiten freut. Man ahnt bereits, dass dieser friedliche arbeitssame Status nicht andauern kann… und so schwimmt nach kurzer Zeit bereits der erste Tote in einem venezianischen Kanal. Auch bei den Grabungsarbeiten selbst kommt es zu Komplikationen und der Grabungsleiter verhält sich mehr als verdächtig. Während sich in Venedig die Todesfälle häufen und auch eine Grabungsteilnehmerin schwer erkrankt, machen sich Peter Conrad und Lisa Franks ihre eigenen Gedanken zum merkwürdigen Verhalten ihres Professors und auf die Suche nach Ursachen und Zusammenhängen. Dass sie sich dabei selbst in Lebensgefahr begeben und ihre Freundschaft auf eine unfreiwillige Zerreißprobe gestellt wird, erscheint bei der Gefahr, die der ganzen Stadt und vielleicht sogar noch viel weitreichender droht, bald fast nebensächlich.

Das auch in diesem neuen Peter-Conrad-Abenteuer nichts so ist, wie es erscheint, versteht sich fast von selbst. Die Peter Conrad-Fälle haben neben einer ordentlichen Spannung eine Leichtigkeit, die sehr angenehm zu lesen ist. Den Autoren Dana und Barry Stiller gelingt es wie nur wenigen Autoren, die von ihnen gesponnenen Krimifäden kunstvoll zu verweben. Alles fließt auf logische Art, leicht, fast verspielt und vermittelt dazu noch (völlig unaufdringlich) eine gehörige Portion Allgemeinbildung und spannendes archäologisches Wissen.
Dass ihr Roman durch die derzeitigen Corona-Geschehnisse einen aktuellen Zeitbezug erhält, konnten die Autoren während der Entstehung ihres neuesten Falls nicht wissen. Gleichzeitig verleiht aber gerade dieser Umstand dem Geschehen eine Realitätsnähe, die zusätzlich schaudern lässt. Gekonnt zeichnen die Autoren das Dilemma, in dem sich Regierung und Polizei befinden, während die Fragen nach Verursacher, Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Funktion der Medien geklärt werden muss, ohne dabei in Sensationslust und Trivialität abzugleiten.

„Substanz“ ist erneut ein packender, unbedingt lesenswerter Peter-Conrad-Fall und ein Roman, mit dem sich das Autorenduo Dana und Barry Stiller auf ein Neues empfiehlt!

Bewertung vom 02.11.2020
Sterben im Sommer
Bánk, Zsuzsa

Sterben im Sommer


sehr gut

Berührend, persönlich und anstrengend – Zsuzsa Bánk begleitet das Sterben ihres Vaters…

Als die besiegt geglaubte Krebserkrankung ihres Vaters zurückkehrt und ihm die Diagnose „unheilbar“ gestellt wird, beschließt die Familie, für einen letzten Familienurlaub im Sommerhaus in Ungarn an den Balaton zu reisen. Dort, von wo Zsuzsa Bánks Eltern 1956 flohen, von wo sie in eine ungewisse Zukunft aufbrachen, von wo aus sich die gesamte Familie in alle Welt zerstreute, wollen sie noch einmal einen ungarischen Sommer verbringen, im See schwimmen, unter der Akazie sitzen, unbeschwerte sonnenwarme, geborgene Tage genießen, die dem Vater noch einmal Lebensqualität in der alten Heimat schenken sollen.

Doch die Reise ist zu anstrengend, hohes Fieber macht die Einlieferung in eine Klinik notwendig, dann die Verlegung in eine andere und eine weitere, bis die Odyssee endlich in Österreich endet. Als der Gesundheitszustand des Vaters sich endlich stabilisiert, wird die Verlegung in die Klinik seines Wohnsitzes in Deutschland veranlasst, in der der Vater seine letzten Wochen verbringt und dann auch stirbt.

Zsuzsa Bánks Buch ist ein sehr persönlicher Text geworden, der von Lisa Wagner als Hörbuch-Sprecherin authentisch vorgetragen wird. Die Autorin sinniert über ihr Verhältnis zum Vater, zum Sterben, zu Ärzten und der alten Heimat ihrer Eltern, sie lässt Familiengeschichte Revue passieren und versucht, sich auf den unabwendbaren Verlust des geliebten Vaters vorzubereiten. Sie schildert die Natur und die Menschen der Heimat ihrer Eltern und Großeltern, schreibt über Familientraditionen und Familienwerte. Sie schreibt auch über das Sterben und den Weg dorthin, über die Auseinandersetzung mit Ärzten, die Frage und nur schwer zu treffende Entscheidung des Gehenlassens, der Palliativbehandlung und Hospizverbringung. Sie fasst ihre Trauer in Worte, ihre Gedanken über Endgültigkeiten, das mit dem Tod untrennbar verknüpfte „nie mehr“ und die Zeit danach…

Zsusza Bánk tut all das in einem sehr eigenen Stil, mit den Mitteln, die der von ihr verfassten Literatur eigen ist. Hartnäckig und wiederkehrend, mittels Synonymen und nicht enden wollenden Anaphern legt sie Nachdruck auf ihre Trauer, ihre Erinnerungen und die Erinnerungen der Familie, auf ihre Selbstreflektion und die Betrachtung der mit dem Tod ihres Vaters verbundenen Umstände. Das ist oft quälend langatmig und wirkt streckenweise ich-bezogen, so, als habe sie das Monopol auf Tod, Verlust und Trauer. Es ist aber auch sehr oft von ungeheurer Wucht und großer melancholischer Schönheit. Immer wieder stellt sie sich ihrer Erinnerung und ihrem Schmerz, bis endlich, am Ende des Buchs, nach dem Verlauf eines ganzen Jahres, eine letzte Reise nach Ungarn den Abschied nicht nur vom Vater, sondern auch vom Ungarn ihrer Eltern und ihrer Jugend vollendet.
„Sterben im Sommer“ ist kein leichtes Hörbuch, keines, das mal eben nebenbei konsumiert werden kann und sollte, es ist aber in jedem Fall ein Buch, das für lange Zeit im Gedächtnis bleiben wird.

Bewertung vom 02.11.2020
Was dir bleibt
Saucier, Jocelyne

Was dir bleibt


sehr gut

Ein Roman wie ein Puzzle…

Als die 76jährige Gladys Comeau an einem Septembertag 2012 in einen Zug steigt und davonfährt, kommt das für jeden in ihrem Freundeskreis und in ihrer Nachbarschaft völlig unerwartet. Niemand weiß etwas über ihre Gründe, nichts über ihre Pläne. Die Verwirrung, aber auch die Entrüstung ist groß, lässt Gladys doch ihre 54jährige hochdepressive Tochter zurück, um die sie sich jahrzehntelang aufopferungsvoll kümmerte.

Während der Leser, geführt vom Erzähler, der einer eigenen Agenda zu folgen scheint, Gladys auf ihrer Reise folgt, wird er Zeuge wachsender Verwirrung und Missbilligung von Nachbarn und Freunden, neu geschlossener Freundschaften, altvertrauter Landschaften und den Erinnerungen ihrer Kindertage. Mehr und mehr offenbaren sich auf diesem Weg Gladys´ Beweggründe, ihre Liebe zu den Zügen Nordkanadas und ihr grenzenloses Vertrauen in das Leben…

Jocelyne Sauciers Liebeserklärung an den Norden Kanadas kommt angenehm ruhig und unaufgeregt daher, mit Blick für die Schönheit der Natur und die Einzigartigkeit der legendären Eisenbahnstrecken, die sie durchschneiden. Doch in allererster Linie dient sie als Vehikel für die Geschichten der Menschen rechts und links der Gleise, deren Leben untrennbar mit den Bahnstrecken des Nordens verbunden sind. Derer gibt es viele… und genau darin liegt die Krux, denn ob all der Geschichten, die es zu erzählen gibt und die sicher auch ihre Berechtigung im Großen und Ganzen des Romans haben, verliert sich der Zug der Erzählung doch auf so manchem Neben- und einige Male auch auf einem toten Gleis. Dann gilt es für den Leser umzudrehen und den Faden wieder aufzunehmen, um zu Gladys´ Reise zurückzukehren.

So leichtfüßig und willkürlich formuliert „Was dir bleibt“ auch erscheinen mag, ein Leichtgewicht ist es ganz sicher nicht. Jocelyne Saucier setzt sich mit den existentiellen Fragen des Lebens auseinander, oder besser sie lässt ihre Protagonisten sich damit auseinandersetzen. Dabei ist nicht immer neu, was sie formuliert. Wenn sie z. B. ihre Protagonistin Janelle denken lässt: ‚Den Tod soll man den Toten überlassen, solange man über ihn schweigt, existiert er nicht‘ (S. 122), ist das nichts anderes als das Fortdenken eines Zitats Epikurs: ‚Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.‘
Gleichzeitig aber findet sie für eben diese Janelle wunderschöne eigene Worte wenn sie sie charakterisiert: ‚Janelle ist eine Herumtreiberin, anders kann man es nicht sagen, sie kommt und geht, zieht von einem Ort zum anderen, jedes Mal aus einem derart dürftigen Grund, dass man sich fragt, ob all diese Unrast nicht nur dazu dient, sie in der Schwebe zu halten, außer Reichweite, in einem geschützten Raum außerhalb der Zeit.‘

Wenn sie die Menschen beschreibt, die jenseits der Zivilisation in den Wäldern lebten und noch immer leben, mit der „Welt draußen“ nur durch die lebensnotwendigen Adern der Eisenbahnen verbunden, geschieht dies voll Wärme und Achtung: ‚Einsiedler gibt´s nicht in jung. Man muss auf ein langes Leben blicken können, um etwas zum Nachdenken zu haben, wenn man sich in die Wildnis zurückzieht.‘

Und so widerfahren auch der Hauptfigur Gladys zu guter Letzt Liebe, Fürsorge und Achtung von Menschen und an einem Ort, der nicht zu erwarten stand.

Bis dahin aber benötigen die Leser*innen Geduld, müssen sich führen lassen und bereit sein, sich der schlussendlichen Erkenntnis des Buches unterzuordnen: ‚Wer alles erklären will, dem entgeht viel.‘

Zu 100 % stimmig ist dieses Buch nicht, wer auf 100 % verzichten kann, dem sei es ans Herz gelegt!

Bewertung vom 02.11.2020
Generation Fake
Burow, Patrick

Generation Fake


gut

Unterhaltsam zu lesen, jedoch ohne neue Erkenntnisse…

Dr. Patrick Burow, von Berufs wegen häufig mit Lügen in allen Ausprägungen konfrontiert, setzt sich in seinem Buch „Generation Fake“ mit Unwahrheiten jeder Couleur und in allen Lebenslagen auseinander. Das tut er auf 189 Seiten, denen sich 2 Seiten Literaturverzeichnis und 14 Seiten Quellenverzeichnis (unter der Bezeichnung „Anmerkungen“) anschließen.

Durchaus unterhaltsam widmet sich der Autor unter Kapitelüberschriften wie „Ehrlichkeit geht mir am Arsch vorbei – Die postfaktische Generation Fake“ (ab Seite 11) oder „Niemand mag beschissen werden – Die große Sehnsucht nach der Ehrlichkeit“ (ab Seite 156) dem Phänomen einer zunehmend unehrlicher werdenden Gesellschaft, das sich durch alle Alters- und Berufsklassen zieht und selbstverständlich auch im Privatleben und in den sozialen Medien seinen Niederschlag findet.

In genau dem oben genannten liegt aber auch das Problem: In den mit Beispielen aus dem öffentlichen wie auch aus dem Berufsleben des Autors untermauerten Ausführungen kann eine definierte „Generation“ nicht ausgemacht werden. Mal sind es Konzernchefs gesetzten Alters, mal Influencer der jungen Generation, anhand derer die Lügenhaftigkeit der heutigen Zeit bewiesen wird. Zwar definiert der Autor verschiedene Formen der Lüge, unterscheidet auch deutlich zwischen weißen (gesellschaftlich tolerierten) und schwarzen (schädlichen bis kriminellen) Lügen, kommt aber zu dem Schluss, Lügen seien sie allemal. Psychologische Hintergründe werden ebenso vernachlässigt, wie auch keinerlei Versuch unternommen wird, den Ursachen für diese wahrheitsfremde bis wahrheitsverabscheuende Entwicklung unser heutigen Gesellschaft auch nur ansatzweise auf den Grund zu gehen.
Hinzu kommt, dass bei aller Unterhaltsamkeit der Plaudereien über nachgewiesene Lügen von Prominenten, Politikern und Konzernen diese sehr häufig aus den Medien bereits hinlänglich bekannt sind.
Einzig Kapitel 10 „Folgen der Wahrheitskrise“ (ab S. 146) geht ein wenig intensiver auf die Auswirkungen der mangelnden Liebe zur Wahrheit unserer heutigen Zeit ein und macht auf die volkswirtschaftlichen Auswirkungen wie auch auf zunehmende Politikverdrossenheit und den Verlust des Realitätsbezugs der jungen Generation aufmerksam.

Wenn im letzten Kapitel des Buchs „Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit“ (ab S. 179) der Autor jeden einzelnen dazu aufruft, in seinem Leben ehrlicher zu sein und unehrliche Menschen wie Politiker oder Konzernchefs abzustrafen, in dem Produkte dieser Konzerne nicht gekauft werden sollten und verlogene Politiker durch Nicht-Wahl abzustrafen seien, dann mutet dies bei aller Ambitioniertheit des Anliegens und des Ratschlags geradezu blauäugig an.
Ehrlich durchs Leben zu gehen, und als Alternative zu einer zu schmerzhaften auszusprechenden Wahrheit vielleicht besser zu schweigen, mag für die Leser dieses Buches ein persönlich durchaus befolgbarer, wenn auch nicht völlig neuer Ratschlag sein, allein, die gegenständlichen Personen der Ausführungen von Herrn Dr. Burow werden sich sein Buch wohl kaum zu Herzen nehmen.

Bewertung vom 08.10.2020
Frau Morgenstern und der Verrat
Huwyler, Marcel

Frau Morgenstern und der Verrat


ausgezeichnet

Spannend, schwarzhumorig, zeitkritisch, tiefgründig und sprachlich wirklich ansprechend ... sehr empfehlenswert!

Violetta Morgenstern, pensionierte Grundschullehrerin und ehemals Do-it-yourself-Rächerin, wurde in den eliminierenden Staatsdienst befördert. Dort löst sie mit Kollegen Schlunegger Mensch-gewordene Moralproblemfälle auf die finale Art. Dieses Mal allerdings werden sie mit der Aufklärung eines Attentats auf eine aufstrebende Jungpolitikerin beauftragt. Während Miguel Schlunegger das Attentats-Opfer genauer inspiziert, muss Violetta erkennen, dass ihre Familiengeschichte nicht die ist, die sie bisher zu kennen glaubte...
Marcel Huwyler ist ein wundervoller Kriminalroman mit einer einzigartigen Protagonistin und vielen weiteren, liebevoll-detailliert gezeichneten Charakteren gelungen, der diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Der schwarzhumorige Plot zeichnet sich gleichzeitig durch echte menschliche Tiefe und ein gerüttelt Maß Medien- und Polit-Kritik aus und wirkt an keiner Stelle oberflächlich und schnelllebig. Unerwartete Twists halten das Spannungsniveau hoch und garantieren echtes Krimivergnügen, der Handlungsnebenstrang um die Vergangenheit von Violettas Familie vermittelt ein intimes Seelenbild und einen völlig neuen Aspekt ihres so unbeugsam scheinenden Charakters. Man darf schon jetzt auf die folgenden Begegnungen mit der Tellschaft und der Lila-Lady gespannt sein. Und dem, der die Romane um Frau Morgenstern noch nicht kennt, sei empfohlen: Unbedingt lesen - alles andere wäre ein echter Verlust!

Bewertung vom 08.10.2020
Sünde (eBook, ePUB)
Bennett, Ben

Sünde (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine bittere kleine Geschichte über Glaube, Liebe und das ewig Böse im Menschen, die lange im Gedächtnis haften bleibt!
Hannah Goldlaub, jüdischstämmig, nach dem kürzlichen Tod ihrer Mutter alleinstehend, verdingt sich in Buenos Aires als Zimmermädchen. Als sie eine ungeplante Schwangerschaft feststellt, bangt sie um ihre Anstellung und damit um ihre Lebensgrundlage. Ein Anruf aus Österreich avisiert ihre eine hohe, unerwartete Erbschaft, Voraussetzung hierfür ist aber ihre baldige Reise nach Wien. Zwar entspricht es so gar nicht ihrem scheuen und bescheidenen Wesen, derart überhastet Entscheidungen zu treffen, jedoch könnten mit einem solchen Nachlass all ihre Probleme behoben werden und so entschließt sie sich nach kurzem Zögern, die Einladung anzunehmen. In Wien angekommen, wird sie mit der Vergangenheit ihrer Familie konfrontiert, über die sie so gut wie nichts weiß und von der auch ihre Mutter nie sprach. Maximilian Schön, Erbe des Juweliergeschäfts Schön & Söhne, möchte Hannah besagtes Geschäft rückübereignen, nachdem es während der Naziherrschaft in den 30er und 40er Jahren durch Denunziation von Hannahs jüdischen Großeltern in den Besitz seiner Familie „überging“. Für Hannah bedeutet dies, eine Entscheidung von einer Tragweite zu treffen, die Auswirkungen nicht nur auf ihre Zukunft, sondern auch auf die ihres ungeborenen Kindes haben wird.

Der Autor Ben Bennett, der bisher vor allem romantische Liebesgeschichten verfasste, begibt sich hier auf für ihn neues Terrain. Zwar erlebt auch Hannah Goldlaub eine Liebe, der sie sich nur zögernd und mit Misstrauen öffnet, der eigentliche Gegenstand der Erzählung aber ist die unaufbereitete nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs im Allgemeinen und Wiens im Besonderen. In der nur 143 Seiten starken Erzählung legt der Autor umso schmerzhafter den Finger in die Wunde der unterbliebenen, heuchlerischen Geschichtsaufarbeitung, wenn er die Namen von Straßen und Plätzen ehemaligen nationalsozialistischen Größen zuordnet oder den braunen Mief in gutbürgerlichen Wohnstuben und Köpfen angesehener Bürger beschreibt. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf das christliche Fundament einer gläubigen Gesellschaft, die sich auf Nächstenliebe und Güte beruft und deren zutiefst widersprüchlichem, inhumanen Handeln. Mangelnde Einsicht gepaart mit menschlicher Gier, Verlogenheit und grundbösem Gedankengut führt er zu einem Finale, das unerwarteter und einprägsamer kaum sein könnte und den Leser sprachlos und beeindruckt zurücklässt.
Die einzig erkennbare Schwäche dieser beeindruckenden Erzählung liegt für mich in ihrer Kürze: ein wenig mehr Raum und Muße hätte ihr möglicherweise gutgetan.
Schön wäre es, Ben Bennett würde sich in seinen Romanen auch weiterhin diesen „Problemzonen“ unserer heutigen Gesellschaft widmen, denn mit „Sünde“ hat er Zeugnis seiner Fähigkeit abgelegt, kritisch zu hinterfragen und dabei unterhaltend zu erzählen.
Ich jedenfalls kann „Sünde“ nur jedem Leser ans Herz legen!

Bewertung vom 18.09.2020
Der Halbbart
Lewinsky, Charles

Der Halbbart


ausgezeichnet

Sprachliche Virtuosität, gepaart mit tiefster Menschlichkeit – hinreißend!
Die Schweiz 1313: der halbwüchsige Sebi lebt mit 2 Brüdern und seiner Mutter in einem kleinen Dorf mehr schlecht als recht und oft von der Hand in den Mund. Und weil der Sebi für ein Handwerk nicht gemacht und weil ihm die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen aufgrund seiner Herkunft verwehrt ist, sucht er nach seinem Platz im Leben. Dabei hilft ihm „Der Halbbart“, der plötzlich am Rande des Dorfes auftaucht, fremd und fremd aussehend, an Leib und Seele gezeichnet, weise und weitblickend. Und so begleitet der Leser Sebi während seiner Entwicklung vom Kind zum jungen Mann und wird durch Sebis Augen zum Zeitzeugen der Schweiz des späten Mittelalters.

Es ist die Zeit der Judenprogrome, die Zeit von König und Gegenkönig. Es ist die Zeit der Herrschaft der Habsburger und der Kampf der Schweizer Eidgenossen um Unabhängigkeit wird in die Geschichte eingehen. Es ist auch die Zeit tiefer Gläubigkeit und genauso ausgeprägten Aberglaubens. Es ist die Zeit von Hass, Grausamkeit und bitterer Armut, von der Lehre der Unfehlbarkeit der Kirche und ihrer daraus resultierenden Unantastbarkeit und Allmacht. Es ist aber auch die Zeit überlieferten Kräuterwissens, erster weitergehender medizinischer Erkenntnisse und der bauernschlauen Wehrhaftigkeit gegen die verhasste Obrigkeit, die weit entfernt vom Leben der ländlichen Dorfgemeinschaften schaltet, waltet, prasst und völlt.
‚Der Halbbart‘ ist weit mehr als nur ein historischer Roman, zu viele Themen verbergen sich in den Geschichten in der Geschichte, zu viel Heutiges reflektiert im Gestrigen, Rassismus und Judenhass und das bodenlose Misstrauen gegenüber dem Anderen, Andersartigen. Der blinde Fanatismus, der nur einen Führer braucht und das Bedürfnis nach der Wichtigkeit des eigenen, unbedeutenden Lebens. Die Grausamkeit der Entwurzelten des Krieges, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht mehr finden und verlernt haben, mitzufühlen. Die Traumata derer, die zum Opfer werden. Die Realität, die einer guten Geschichte nicht standhalten kann und der Schein, der das wahre Sein erschlägt.

Lewinskys Roman ist vor allem ein ungeheuer unterhaltsames Buch, dabei prall von Wissen um historische Zusammenhänge und geschichtliche Hintergründe. Es ist gleichzeitig aber auch eine sprachlich mitreißende Reise in die Welt der ‚Mehrbesseren‘, ‚Finöggel‘ und in ihrer Schlichtheit ergreifend schöner Wahrheiten, die universeller und aktueller nicht sein könnten:
‚Wenn einer zu viel Mut hat, habe ich einmal sagen hören, bleibt kein Platz für den Verstand.‘ (Seite 61);
‚Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber…‘ (Seite 106);
‚Wer eine Waffe hat, muss dem, der ohne kommt, keine Komplimente machen…‘ (Seite 128);
‚“Man soll keinen Menschen hassen“, hat er gesagt, „mit Hass fängt es an, und mit Asche hört es auf,…“‘ (Seite 202).
Zu keiner Zeit erhebt er aber den Zeigefinger und überlässt es jedem Leser selbst, welche der unaufdringlich erzählten Weisheiten er für sich entdeckt

Lewinsky erzählt voller Lust am Erzählen, voller sprachlicher Virtuosität und ein wenig, so scheint es, hat der Autor die eigene Lust am Erzählen an Sebi weitergereicht und diese Lust teilt sich mit.
‚Der Halbbart‘ ist ein hinreißendes Stück Literatur, das man jedem Leser nur aufs Wärmste ans Herz legen kann!

Bewertung vom 14.09.2020
Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher
Franke, Thomas

Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher


ausgezeichnet

Spannend, humorvoll und sehr menschlich - absolut lesenswert!
Der Psychologiestudent Theo, Anfang 20, lebt in einer WG für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Als sein Freund Mike, an ALS erkrankt und wie Theo dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen, am Morgen einer unruhigen Nacht leblos in seinem Bett aufgefunden wird, attestiert der herbeigerufene Arzt zwar eine Todesursache, die aus Mikes Erkrankung resultiert, doch Theos Misstrauen aufgrund der nur oberflächlich durchgeführten Untersuchung ist geweckt. Auch das aufgeschreckte Verhalten eines weiteren Mitbewohners der WG lässt die Vermutung zu, dass Mikes Tod keineswegs nur auf seine Erkrankung zurückzuführen ist. Und so startet Theo mit Hilfe seiner WG-Freunde Paula, Helene und Scott seine eigenen Ermittlungen, in die seine Schwester Lina, von Beruf Polizistin, anfänglich nicht ganz freiwillig eingebunden wird. Bald stellt sich heraus, dass Theo mit seinen Vermutungen richtig liegt, allein, die Beweisführung ist schwierig und der Verdacht auf den Täter bleibt vage.
Die SOKO Handicap greift mehr als einmal zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um die Ermittlungen voranzutreiben und am Ende des Buches … bleibt erstmal alles offen…

Der Tote und der Taucher ist der erste Teil der SOKO mit Handicap-Dilogie von Thomas Franke. Ihm ist damit eine spannende, äußerst humorvolle erste Hälfte gelungen, die von detailliert gezeichneten Personen und originellen Twists lebt. Aber, und das ist das eigentlich Wichtige neben dem außergewöhnlichen Plot und dem noch außergewöhnlicheren Setting, Thomas Franke gelingt es auch, zutiefst menschliche Fragen zu stellen und auf Problematiken aufmerksam zu machen, die im 21. Jahrhundert und in unserer aufgeklärten Gesellschaft längst nicht mehr existieren sollten. Leicht und durchaus der Dramaturgie des Romans verpflichtet, dabei aber völlig unaufdringlich verführt der Autor zum Nachdenken über existenzielle und ethische Fragen, ohne dabei moralinsauer zu werden. Und er geht damit nicht zu weit: ob und wie man sich diese Fragen beantwortet, beantworten kann, bleibt jedem Leser selbst überlassen.

Der Tote und der Taucher – leicht, tiefgründig, originell, spannend und humorvoll – macht Lust auf mehr und mich sehr neugierig auf den 2. Teil.
Unbedingt empfehlenswert!

Bewertung vom 14.09.2020
In Situ (eBook, ePUB)
Stiller, Barry; Stiller, Dana

In Situ (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Spannende Jagd nach archäologischen Sensationen als Krimi

Der Sammelband ‚In Situ‘ vereinigt die Bücher ‚Die Ersten‘ und ‚Blut‘. Beide gemein haben den Charakter Peter Conrad, Anthropologe und scheinbar festgefroren in dem Versuch, endlich seine Doktorarbeit zu beenden. Dieser scheitert an immer neuen archäologischen Abenteuern, in die Conrad, an sich nicht wirklich abenteuerlustig und risikobereit, jedes Mal aufs Neue gerät, weil sein fachliches Wissen von Nöten ist.

Die Ersten: Gerade erst von einer lebensgefährlichen Forschungsreise zurückgekehrt, begibt sich Peter Conrad unfreiwillig Hals über Kopf in das nächste Abenteuer. Seine Anwesenheit auf einer Wikinger-Ausgrabung in Kanada ist notwendig, um einen Kollegen zu ersetzen. Murrend macht sich Peter auf den Weg, nicht ahnend, dass auch diese Ausgrabung seinem Bedürfnis nach unaufgeregter Forschungsarbeit nicht entgegenkommen wird und äußerst gefährliche Geheimnisse birgt. Im Verlauf der Ausgrabungsarbeiten stößt das internationale Forscherteam auf Funde, die eine archäologische Sensation vermuten lassen.
Und so dauert es nicht lange, bis geweckte Begehrlichkeiten und falscher Ehrgeiz in eine tödliche Gefahr umschlagen, die auch Peter Conrad erneut bis aufs Äußerte fordert.

Blut: Archäologiestudentin Lisa Franks, bereits Gefährtin in einem vorangegangenen Abenteuer, schlägt Peter Conrad als Anthropologen für eine Stadtgrabung in London vor. Dort angekommen stellt dieser bald fest, dass weder das eigenwillige Forschungsteam noch die Ausgrabungen auf dem Brompton Cemetary und die damit verbundenen Funde verstümmelter Skelette und ausgebluteter mumifizierter Leichen seinem Bedürfnis nach Ruhe, Wissenschaft und der Fertigstellung seiner Doktorarbeit entgegenkommen. Nicht lange und Peter Conrad zweifelt einmal mehr an seinem Verstand und den Grundfesten aller wissenschaftlichen Erkenntnis.

Die Romane der Peter Conrad Reihe zeichnen sich durch hohen Unterhaltungswert aufgrund ihres nicht unerheblichen Sprachwitzes und der spannenden Plots in ungewöhnlichen Settings aus. Die Tatsache, dass die Autoren „vom Fach“ sind und es verstehen, archäologische Sachkenntnis mit Mythen und Verschwörungstheorien aufs Lebhafteste zu verknüpfen und dabei perfide mit den Fantasien sowohl ihrer Protagonisten als auch ihrer Leser zu spielen, fördert zusätzlich den Lesespaß.
Unbedingt empfehlenswert!

Bewertung vom 08.09.2020
Der Hund und sein Mensch
Reichholf, Josef H.

Der Hund und sein Mensch


gut

In seinem neuesten Werk geht der Autor Josef H. Reichholf der Frage nach, ob die bisher aufgestellten Thesen hinsichtlich der Domestizierung des Wolfes und seiner Hund-Werdung aktuellen Erkenntnissen und neuesten Forschungsergebnissen standhalten können.
Wurde der Wolf vom Menschen domestiziert oder fand gar eine Selbstdomestizierung des Wolfes statt? Die Beantwortung dieser Frage, der sich der Autor im 1. Abschnitt des Buches auf dem Weg einer evolutionsgeschichtlichen Exkursion in die Zeit der Steinzeitjäger und Beutegreifer nähert, setzt er in Bezug zu des (inzwischen) Menschen liebstem Haustier und widmet sich dieser ganz besonderen Mensch-Tier-Beziehung im 2. Abschnitt des Buches auf einer sehr persönlichen Ebene, nämlich anhand seines eigenen Hundes. Im dritten und letzten Abschnitt des Buches widmet Reichholf sich in zwei kurzen Kapiteln der Beziehung Hund-Mensch-Katze, den Gemeinsamkeiten und Unterschieden.

Durchaus nicht uninteressant, bleibt Reichholfs neueste Abhandlung über die Geschichte und Entwicklung unseres „besten“ Tier-Freundes vor allem eines: subjektiv. Zwar in wissenschaftlicher, doch durchaus verständlicher Sprache gehalten, empfand ich beim Lesen das Fehlen von Fußnoten-Verweisen als störend. Zwar verfügt Reichholfs Werk über ein Literaturverzeichnis und ein Stichwort-Register, jedoch sind die Ausführungen, Erkenntnisse und Behauptungen des Verfassers nicht mit entsprechenden Fußnoten versehen, so dass der Leser die im Buch gemachten Aussagen nicht den entsprechenden Quellen zuordnen und deshalb auch nicht unterscheiden kann, welches die Thesen des Verfassers sind oder die anderer Wissenschaftler und Autoren. Es bleibt, überspitzt formuliert, nichts anderes übrig, als bei Interesse an der Vertiefung oder gar Verifizierung einer Aussage das komplette Verzeichnis nachzulesen. Häufige Hinweise auf Vorausschauen oder Rückblicke stören gleichzeitig den Lesefluß oder führen zu unnötigen Wiederholungen.

Der zweite Teil des Buchs mag zwar persönlich und streckenweise auch sympathisch erscheinen, man hat all das und einiges mehr aber schon an anderen Orten und von Verhaltensforschern und Hundetrainern auch schon besser gelesen. Selbstredend erkennt man stellenweise sich und die eigenen Fellnasen wieder, das ist jedoch nicht außergewöhnlich und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind es ebenfalls nicht.

Auch das Fazit des 3. Abschnitts, dass Hund und Katze verschieden sind, und bei den Samtpfoten eine Selbstdomestizierung der des Hundwolfs aufgrund der Verschiedenartigkeit der Verhaltensweisen und Nahrungs“quellen“ nicht vergleichbar sein kann, ist nicht neu.

Zusammenfassend bietet „Der Hund und sein Mensch“ dem Leser, der sich noch nicht eingehend mit der Domestizierung des Wolfes befasst hat, eine akzeptable Übersicht über die verschiedenen Theorien zu diesem Thema. Demjenigen, der tiefergehende, neue, gar einem Wissenschaftskrimi gleichende Erkenntnisse (wie vom Klappentext suggeriert) erwartet, wird dieses Buch aber nicht gerecht.