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MarieOn

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Insgesamt 60 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2025
Bhatter, Ina

Drei Tage im Schnee


sehr gut

Hannah lag weinend im Bad, grundlos. Ihr Leben sei großartig, schicke Altbauwohnung, guter Job, tolle Freunde, das sagte ihr jeder. Der Kritiker in ihrem Kopf jedoch trommelte ständig auf sie ein, rief sie jeden Morgen um 04:37 Uhr aus dem Schlaf, um sie mit ihren Dummheiten und Unfähigkeiten zu konfrontieren, dabei gab sie sich die allergrößte Mühe. Jeder Tag war minutiös verplant. Sie gab sich zwischen Meetings, Videokonferenzen und Seminaren die Türklinke in die Hand. Danach zwang sie sich zu Einkauf und Sport und versuchte noch Verabredungen unterzubringen. Am späten Abend verdrängte sie die Schmutzwäsche, aß etwas Schnelles und beschallte sich mit Serien, um runterzukommen. Sie brauchte eine Auszeit und mietete für drei Tage eine Holzhütte.

Sie steht am Fenster und schaut in die schneebedeckten Bäume, die Kaffeetasse in der Hand dampft. Sie versucht das Gefühl der Pflichtlosigkeit zu erfühlen. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, die Wohnung zu putzen und die Post abzuheften. Der Schneeregen verwandelt sich in dicke Flocken. Was, wenn sie eingeschneit wird oder sich verletzt und keiner findet sie hier. Wie war sie bloß auf die blöde Idee gekommen, diese Einöde zu wählen? Ein roter Schneeanzug reißt sie aus ihren Gedanken, darin steckt ein kleines Mädchen, das vielleicht acht oder neun ist. Sie stapft entschlossenen Schrittes den Weg an ihrem Fenster vorbei, bleibt stehen und sieht sich um. Sie legt sich rücklings in den Schnee und schiebt die Arme auf und ab. Hannah zieht ihr Jacke an und tritt vor die Haustür: „Was machst du da?“ Das Mädchen setzt sich auf, beobachtet Hannah, lächelt: „Einen Schneeengel. Willst du auch?“ Hannah verneint, stellt sich vor und erfährt, dass das Kind Sophie heißt.

Fazit: Ina Bhatter hat in ihrem Debüt das Leben einer Frau Mitte dreißig beleuchtet. Die Protagonistin verliert sich im Alltag. Das Bedürfnis, allen gerecht zu werden, lässt sie ausbrennen. Kurz vor der tiefen Depression zieht sie die Reißleine und fährt drei Tage in eine einsame Holzhütte. Dort trifft sie auf ein Mädchen, das sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Die beiden freunden sich an und die Interaktionen mit Sophie bringen Hannah dazu, sich selbst zu hinterfragen. Wie ist sie in diesen Alltagsstrudel geraten? Warum fühlt sie sich mit sich selbst unwohl? Wir geht sie künftig mit gesellschaftlichen Erwartungen um? Die Stimmfarbe der Autorin ist ruhig und präzise. Sie zeigt mir die Anforderungen, die an eine Frau Mitte dreißig gestellt werden. Eigene Vorstellungen und Erkenntnisse aus Erziehung und Freundeskreis stellen sich bei näherer Betrachtung vielleicht als falsch heraus, aber die Alltagszeit ist so knapp, dass alles wichtiger scheint als Innenschau. Die Debütantin hat eine fein austarierte Geschichte über Selbstfindung und Selbstfürsorge geschrieben, die sich auch ganz wunderbar als Weihnachtsgeschenk eignet, gerade weil es vielen Frauen so geht.

Bewertung vom 20.10.2025
Louis, Édouard

Der Absturz


ausgezeichnet

Édouard hatte seinen Bruder fast zehn Jahre nicht mehr gesehen. Als er von seinem Tod erfuhr, nahm er die Nachricht auf wie einen Wetterbericht. Seine Mutter hatte immer einmal vorsichtig insistiert: „Gib ihm doch noch eine Chance“. Édouard wollte nicht.

Damals kehrte der Bruder mit Anfang zwanzig nach Hause zurück. Er hatte sich Monate nicht blicken lassen. Dann stand er zur Essenszeit im Wohnzimmer und hielt ein Papier in der Hand. Er habe endlich was gefunden, werde einen neuen Beruf erlernen. Ein Metzger mit eigener Metzgerei habe ihn auf Anhieb gemocht und ihm eine Stelle angeboten. Jetzt also werde er einen Beruf erlernen, für den man sehr spezielle Kenntnisse brauche. Die Leute würden von weit hergereist kommen, um in den Genuss seiner Fleischwaren zu kommen.

Er hatte immer von Ruhm geträumt. Die Diskrepanz aus Wunschvorstellung und Realität waren die Begrenzungen aus Armut und Chancenlosigkeit, eben das, was ihn unglücklich machte. Bei Édouards Vater galt er als Versager, weil er arbeitslos war, sich prügelte und Drogen nahm, aber dieses Bild gedachte er jetzt zu ändern. Sein eigener Vater war der erste Mann ihrer Mutter. Er trank und schlug, die Mutter ließ sich scheiden und heiratete Édouards Vater. Der Vater des Bruders gründete eine neue Familie und wollte von seinem Sohn nichts mehr wissen. Dieses Gefühl, es nicht wert zu sein, arbeitete in ihm und im Laufe seines Lebens fand er immer neuen Brennstoff, um diese Wunde zu befeuern. Mit achtunddreißig war er ausgebrannt, seine Freundin fand ihn leblos in ihrer Wohnung.

Fazit: Édouard Louis ist den Lebensspuren seines Bruders gefolgt, mit dem Wunsch, sich ihm anzunähern. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den Älteren gehasst hat und zeigt mehrere Szenen, die seine Abneigung verständlich machen. Dennoch versucht er herauszufinden, warum ihn sein Tod nicht bewegen konnte. Es entsteht das Bild eines Menschen, der ein Kindheitstrauma nicht überwinden konnte, keinerlei Hilfe erhielt und auf ganzer Linie versagte. Der Autor befragt Ex-Freundinnen, die wahlweise über seine Grausamkeiten sprachen, wenn er getrunken hatte und von einem liebevollen, gutmütigen, hilfsbereiten Mann, wenn er nüchtern war. Die dysfunktionale Familiensituation (Vater prügelt Mutter), die spätere Peergroup (Diebstahl, Drogen), hat den ehemals ruhigen Jungen, der wenige Auffälligkeiten gezeigt hatte, menschlich entarten lassen, ihn misogyn, homophob, gewalttätig und kriminell werden und voll in die Fußstapfen des Vaters treten lassen. Die ganze Geschichte hat mich tief ergriffen, weil der Autor so gut Szenen wiedergibt, mich mitreißt und fesselt. Ganz sicher aber auch, weil ich vieles davon kenne, selbst mit einer Mutter aufgewachsen bin, die ihre Tochter nicht schützen konnte, die eben auch aus einer dysfunktionalen Familie stammt und den Teufelskreis nicht durchbrechen konnte. Mir ist dieses ganze Drama aus Demütigung, Gewalt, das Gefühl der Wertlosigkeit und Abhängigkeit absolut bekannt. Édouard Louis hat dafür die treffenden Worte gefunden. Nach „Das Ende von Eddy“ und „Die Freiheit einer Frau“ fand ich diese Geschichte am stärksten aber lest selbst.

Bewertung vom 25.09.2025
Heinesen, William

Noatun


ausgezeichnet

Ein Fauchen weckte Angelund und ihm wurde gleich klar, dass das Geräusch weder von Wasser noch von Wind verursacht wurde. Jemand klopfte hart an seine Tür. Als Angelund öffnete, standen Ole Ornberg und seine Frau vor ihm. Die Frau, halb angezogen, mit klappernden Zähnen jammerte: „Wir gehen fort von hier, jetzt sofort“. Ein Gang durch den kleinen Ort offenbarte, dass das Haus von Sara und Halvdan von einem Felssturz getroffen worden war. Mehrere Bretter waren geborsten, das Mondlicht schien herein. Ein Teil des Alkovens, in dem Halvdan die Bettstatt eingerichtet hatte, war ebenfalls zertrümmert. Sara, die, solange Halvdan auf See war, bei Angelund und seiner Familie wohnte, schlug die Hände vors Gesicht. Es musste Gottes Wille sein, dass beide nicht anwesend waren.

Vor einem Monat erst waren Angelund und seine Frau ins Dødmansdal gezogen. Sie hatten die erste Hütte gebaut und den Ort Noatun genannt, danach waren weitere Siedler hierhergekommen. Die Stadt bot keine Arbeit und keinen erschwinglichen Lebensraum mehr. Hier hatten sie Land gepachtet und wollten sesshaft werden. Nun war es schon Mitte September, allmählich mussten die Schiffe vom Nordmeer heimkommen und dann wären sie alle wieder vereint. Angelund war mit den Frauen alleine geblieben, sie hatten Kartoffeln gelesen, Torf getrocknet, Zäune gebaut und Rotbarsch geangelt.

Bauer Sigvard und sein Schafhirt Andreas hatten in der Siedlung herumgeschnüffelt, waren barsch und unfreundlich zu ihnen. Sigvard würde sie augenblicklich dem Sysselmann melden, falls sie sich am Treibholz bedienten. Und das Grasen der Ziegen jenseits der Einfriedung sei sofort zu unterbinden. Tilda glaubt, dass der Hirte Andreas etwas mit dem nächtlichen Steinschlag zu tun haben könnte und unterstellt, er sei ein böser Mann.

Fazit: Diese Geschichte von William Heinesen (1900-1991) wurde 1938 erstmalig veröffentlicht. Der Guggolzverlag, der sich auf skandinavische Literatur spezialisiert hat, fand die Geschichte so lesenswert, dass er sie 08/2025 erneut verlegt hat und hat recht. Diese komplexe Geschichte ist so spannend wie ein Besuch im Naturkundemuseum. Eine Gruppe verarmter Menschen flieht vor der Stadt, die ihnen keine Sicherheiten bietet. Sie bauen eine Siedlung an einem unwirtlichen Ort, wo sie autark leben wollen. Das Kräftemessen mit der Natur verlangt ihnen alles ab. Sie leben vom Fischfang, dem Ackerbau und der Schafzucht. William Heinesen hat die Geschichte mit großer Gottgläubigkeit (Der Herr gibt und der Herr nimmt) und windig unterhaltsamen Charakteren gespickt. Da ist die manipulative Tilda, die die ganze Siedlung aufmischt, Ole Ornberg, der Klinkenputzer und der barmherzige Frederik, der als unbeschriebenes Blatt aus dem Nichts auftaucht. Drei Monate im Jahr erstrahlt ein richtiger Sommer, den Rest des Jahres kämpfen die Bewohner um ihr Überleben. Der Schreibstil des Autors ist solide, ruhig und fesselnd. Eine großartige historische Erzählung, die ich sehr gerne gelesen habe. Das ganze Buch ist so hochwertig gestaltet, wie alle Bücher des Guggolzverlages

Bewertung vom 11.09.2025
Schmitt, Caroline

Monstergott (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ben liegt in einer Turnhalle, die eine kleine christliche Gemeinde gemietet hat. Zwei Männer knien neben ihm und beschwören Gott, er möge sich seiner bemächtigen und den Teufel aus ihm heraustreiben, so Ben wieder Gottes treuer Diener werden könne. Für diese Prozedur nahm Ben 200 Kilometer auf sich, weil er dringend wieder auf den rechten Pfad kommen muss.

Ben hat alle Sommerferien mit seiner eigenen Gemeinde verbracht. Sie haben in Zelten geschlafen, musiziert und sich gemeinsam Gott genähert. Die Bibel hat er schon unzählige Male gelesen, er hat mehrere Ausgaben. Gerade erarbeitet er sich wieder das Lukasevangelium. Gott hat ihn erwählt, zum Glück.

Diese bedingungslose unverdiente Liebe macht ihn fertig. Vergebung als Selbstverständlichkeit. Das Kreuz als Versprechen. Und alles, was Gott im Gegenzug wollte, war ein reines Herz, das sich nach ihm verzehrte.“

Das einzige Problem sind Bens Neigungen, wegen denen er schon in der Schule gehänselt wurde.

Im Lobpreisteam am Wochenende, spielt Ben das Keyboard, seine ältere Schwester Esther singt. Der Priester spricht die Tagesandacht und möchte, dass jeder sich eine Sache überlegt, um die er Gott bitten möchte. das Anliegen wird auf einen weißen Zettel geschrieben und an das große Holzkreuz im Eingangsbereich gehängt, das Symbol für ihrer aller Erlösung. Esther und Ben hatten den Glauben mit der Muttermilch aufgesogen. Sein Weg zum Herrn begann vor fünfzehn Jahren. Damals hatten sie noch in der Fußgängerzone gesungen und getanzt und Freunden von der guten Nachricht erzählt.

Esthers beste Freundin Hannah war zum ersten Mal nicht bei der Freizeit dabei, weil sie mitten in ihren Hochzeitsvorbereitungen steckte. Genau wie Esther hat Hannah sich bisher den körperlichen Freuden weitestgehend versagt. Masturbation enttäuscht Gott. Der körperliche Austausch erst nach dem Ehegelübde ist für alle das Höchstgebot.

Fazit: Caroline Schmitt hat in ihrem zweiten Roman eine sektenähnliche Kirchengemeinde verhandelt. Sie zeigt die Sicht ihrer Protagonist*innen Esther und Ben abwechselnd in mehreren Kapiteln. Beide hadern mit der Unvereinbarkeit ihrer Gefühle der ersten Leidenschaften und dem Dienen Gottes. Sie erleben innerhalb der Gemeinde Zugehörigkeit, Sicherheit, aber auch Manipulation und Abhängigkeit. Die Obsessionen, denen sie in der realen Welt begegnen,widersprechen dem reinen Herzen und das zerreißt sie fast. Während Ben seinen Begierden mit Selbstkasteiungen begegnet, stört Esther sich gewaltig an ihrer Rolle als Frau, die Gott ihr angeblich abverlangen soll, wie der Pastor insistiert. Zwischendrin kommt ein Knaller, der mir emotional vieles abverlangt und mich lautstark vor mich hinschimpfen lässt. Das Ende ist ein echter, hoffnungsfroher Mutmacher. Die Autorin hat mich wieder mit ihren Held*innen leiden und kämpfen lassen und das kann sie gut, wie sie in ihrem Debüt „Liebewesen“ schon gezeigt hat, das ich gefeiert habe.

Bewertung vom 23.08.2025
Keßler, Verena

Gym


ausgezeichnet

Ferhat sitzt hinter seinem Schreibtisch und druckst rum. „Also, wie soll ich es sagen?“ Es gefalle ihm, wenn sein Team die Fitnessbranche auch verkörpere, ob sie verstehe, was er meine? Klar verstand sie, mit den fettigen Haaren und der labbrigen Hose, die ihren Bauch nur ansatzweise versteckt, würde sie sich auch nicht einstellen. Und weil sie den Job unbedingt haben will, sagt sie, sie habe gerade erst entbunden. Es war ihr so rausgerutscht. Ferhads Augen leuchten, die Stirn glättet sich. Er gibt ihr die Hand, versteht wie schwer sie es hat, seine Schwester hat ja auch erst …

3.500 Quadratmeter Mega Gym, ein Palast aus glänzenden Oberflächen, Cardiofloor, Kraftfloor, Wellnessbereich und Sauna. Sie wird die Theke bedienen. Smoothies, lustig klingende Proteinshakes, wie den Muscle-Hustle, zaubern, isotonische Getränke anbieten und Riegel darreichen. Milli lernt sie an, rote Leggins mit passendem Oberteil, wippender Pferdeschwanz. Sie mache gerade eine Ausbildung zur Fitnesskauffrau.

Das Stehen fällt ihr schwer. Sie ist eher an Bürostühle, Bussitzplätze und ihr Sofa gewöhnt. Ferhat bietet ihr sein Büro an, um abzupumpen. Die nächste Mittagspause verscheucht sie den Gedanken, die Flucht zu ergreifen, sie hat schließlich schon Schlimmeres gestemmt. Sie wird das Spiel spielen, so gut sie kann. In der nächsten Apotheke ersteht sie eine elektrische Milchpumpe. Die zwei Fläschchen mit dem Fertigmilchpulver, das sie mit Wasser vermischt hat, stellt sie für alle sichtbar in den Kühlschrank. In ihrer Handtasche befinden sich jetzt Windeln, Schnuller und Feuchttücher, die sie mit erhobener Hand in die Luft hält, während sie Handy oder Portemonnaie sucht. Die gefakten Anrufe bei ihrer Mutter, lassen alle glauben zu wissen, wo ihr Baby ist.

Fazit: Verena Kessler hat in dieser Geschichte die Themen Selbstoptimierung und weibliche Selbstermächtigung performt. Ihre Protagonistin hat ihren Spitzenjob an eine jüngere Nebenbuhlerin verloren. Ihr ganzes Leben gerät aus den Fugen. Sie braucht dringend einen Arbeitsnachweis und heuert im Fitnessstudio an. Eine wirkungsvolle Notlüge zwingt die imaginär Entbundene, sich mit dem Thema Mutterschaft auseinanderzusetzen. Ihr Ehrgeiz spornt sie zu Höchstleistungen an, der Erfolg beim Muskelaufbau wird zur Obsession und nur der Wahnsinn kann sie eingrenzen. Die Autorin hat sich wieder mit dem Thema Frau in der Gesellschaft auseinandergesetzt. Sie schreibt in lakonisch, unterhaltsamen Ton über die Fitnessqualen. Schmerz, proteinreiche Ernährung und schließlich auch die Nebenwirkungen von Anabolika, bis alles aus dem Ruder läuft. Die namenlose Ich-Erzählerin ist ziemlich abgebrüht und die Diskrepanz zu den mitfühlenden Mitarbeiterinnen erzeugt einen spannenden Grundtenor. Gut gemacht fand ich auch die Interaktion zwischen der Hauptakteurin und der Nebenbuhlerin, das war so gut gezeigt, wie sie es einfach nicht kommen sah und plötzlich erkennen muss, dass sie entbehrlich ist. Mir hat die schwungvolle Story bombe gefallen. Mit dem offenen Ende kann ich leben. Ich mochte auch ihren Roman Eva gern, aber Gym hat mir noch besser gefallen.

Bewertung vom 12.08.2025
Rosa, Maya

Moscow Mule


ausgezeichnet

Tonya träumt von einem Haus mit Garten. Glück, so stellt sie es sich vor, ist es, mit einer Tasse Tee auf der Veranda zu stehen und ihrem Hund beim Spielen zuzusehen. Für die lebhafte Karina ist das nichts. Für sie bedeutet Glück nichts anderes als Stillstand und Trägheit.

Ihre Fakultät ist mit Kindern von Unternehmern, Managern und Regierungsbeamten übervölkert. Und die studieren einzig um ihren Lebenslauf aufzuhübschen, leben nicht im Wohnheim und suchen nicht nach Jobs. Karina und Tonya studieren politischen Journalismus. Nach ihrem dritten Semester wurde Anna Politkowskaja unweit der Uni auf offener Straße erschossen. Dank dem selbst ernannten Zaren sind die Zeiten wieder unsicher. Man geht der Polizei aus dem Weg, ist besser so. Ihre Zukunftschancen sind übersichtlich und sie leben zu lange in Moskau, um an eine echte Opposition oder freie Wahlen zu glauben. Europa würde ihnen gefallen, deshalb suchen sie nach Austauschprogrammen europäischer Universitäten.

Tonya lebt ihm Wohnheim, teilt sich ein Kabuff mit anderen Kommilitoninnen, kocht Nudeln im Wasserkocher und flucht, wenn jemand ihr wieder das frisch gewaschene Spitzenhöschen von der Heizung geklaut hat. Karina tingelt zwischen dem Schlafsessel bei ihrer lieblosen Mutter in Moskau und dem Bett bei ihrer geliebten Oma, weit außerhalb der Stadt. Meistens verpasst sie nachts um eins die letzte Metro und dann lässt sie sich von einem Typen abschleppen oder kriecht zu Tonya ins Bett. Sie jagen Wombats hinterher, leicht beleibte Männer mittleren Alters, die schon zwei Unternehmen gegründet haben und dreimal geschieden sind. Nur die interessieren sich nicht für Tom Sawyer und Huckleberry Finn. An den jungen Frauen, die deren Blick zum Glänzen bringen, ist alles lang, Haare, Beine, Fingernägel, sie sind gepflegt, geduldig und sexy. In Russland können Frauen alles werden, dennoch entscheiden sich die meisten dafür, Mätressen zu sein.

Fazit: Maya Rosa hat ein Debüt mit ganz großer verbaler Sprengkraft hingelegt. Die Wortakrobatin hat zwei junge Protagonistinnen geschaffen, die mit einem mickrigen Stipendium versuchen, ein Studium zu wuppen und zu überleben. Beide schlagen sich Seite an Seite mit diversen Nebenjobs durch. Trotz der politischen Diskrepanz ist der Hunger nach Abenteuer und Zerstreuung und die Lebensfreude spürbar. Ich erfahre viel über dieses Land, ohne mich durch Infodump erschlagen zu fühlen. Die Autorin webt alle Eindrücke in die Geschichte hinein. Korruption, Staatsgewalt, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Dekadenz des Reichtums, der jung erworben wird. Frauen, die von Freiheit träumen und sich stylen, anbiedern und verraten, um auf die schimmernde Seite der Medaille zu gelangen. Alle sind ein bisschen schmierig. Die beiden Heldinnen Tonya und allem voran Karina, aus deren sprunghafter Sicht erzählt wird, sind beste Freundinnen, bis es in Tonya klickt und sie schneller erwachsen werden will als Karina. Ich liebe die rotzige, lakonische, lustige Erzählstimme, die mit Worten umgeht, als würde sie ein großes Orchester dirigieren. Da ist alles dabei vom Paukenschlag über die Klarinette bis zur Harfe. Meine Güte, war das unterhaltsam.

Bewertung vom 12.07.2025
Kloeble, Christopher

Durch das Raue zu den Sternen


ausgezeichnet

Arkadia Fink ist dreizehn. Vor acht Monaten und drei Wochen ging ihre Mutter kurz weg. Sie kommt gut ohne sie klar. Ihr Vater nicht so. Er sagt, dass sie ruhig traurig sein darf und dann sieht er sie enttäuscht an, weil sie nicht flennt. Er geht runter in seine Schreinerei und wenn er die Kreissäge anmacht, zerteilt sie sein Schluchzen. Seit acht Monaten und drei Wochen ist er nicht mehr er selbst, hat nichts mehr geschreinert. Die Rechnungen stapeln sich auf der Kommode im Flur.

Bernhardina, ihre beste Freundin ist noch sie selbst. Sie lebt im Seniorendomizil Phoenix. Früher war sie Musiklehrerin in Namibia. Sie hat ihre Medikamente mit Arkadias Mutter geteilt, weil kein Arzt ihr welche verschreiben wollte. Wenn sie an einem rauen Februartag im Bett lag und nicht aufstehen konnte, nahm sie eine Bernhardinawunderpille, stand auf und hörte bis tief in die Nacht Frau Beethoven. „Frau“ Beethoven, weil ihre Mutter ganz genau wußte, dass die größte Tondichterin aller Zeiten eine Frau in Männerkleidung war.

Arkadia muss Bernhardina jeden Abend anrufen und sich vergewissern, dass sie noch lebt, obwohl sie von Pflegepersonal umgeben ist. Manchmal ist sie zu spät dran, dann ruft Bernhardina sie an:

Dieser Klingelton wurmt sich in deinen Kopf und klingt wie erbrochene Akustik. S. 53

Arkadia weiß, dass sie zu Höherem geboren ist, denn sie kann singen. Damit ihre Mutter zurückkommt, wird sie im berühmtesten Knabenchor Deutschlands singen. Sie wird Solistin und tritt mit dem Chor im Fernsehen auf und dann wird ihre Mutter sie sehen.

Fazit: Christopher Kloeble hat eine Erzählung geschaffen, die voller Musik steckt. Seine Protagonistin ist eine willens- und charakterstarke Persönlichkeit, die sich in den Kopf gesetzt hat, als einziges Mädchen, als Solistin in einem Knabenchor zu singen. Der Weg ist steinig und hart. Die Kinder werden gedrillt und die Jungs, die in den Stimmbruch kommen, dürfen sich mit einer Urkunde verabschieden. Das kluge Mädchen mit der großen Klappe muss sich zügeln aber gleichzeitig lernen, sich durchzusetzen. Interessant ist, wie der Autor zeigt, dass der Verlust der Mutter nur scheinbar an ihr vorbeizieht. Arkadia dissoziiert und die tatsächlichen Ereignisse lösen sich erst zum Schluss auf, als Arkadia klar wird, was wirklich passiert ist. Das Ende ist so tragisch, dass ich aufrichtig schockiert bin. Eine einnehmende, tiefgreifende Geschichte über Verlust. Der Autor erzählt bildreich und authentisch. Ja, die Heldin Arkadia könnte es so gegeben haben. Eine Jeanne d´Arc der klassischen Musik. Meine absolute Leseempfehlung für diese gefühlvolle, lebendige Geschichte.

Bewertung vom 10.07.2025
Talty, Morgan

Sein Name ist Donner


ausgezeichnet

David ist auf dem Weg zu Rab, der außerhalb des Reservats Gras verkauft. Doch der Drecksack lässt sich von David nicht vorführen. David sucht nämlich nach dem Schein und tut ganz überrascht, weil seine Hosentaschen leer sind. Muss er eben noch mal wiederkommen. Auf dem Rückweg ins Reservat stolpert er fast über Fellis. Der liegt stöhnend im Dreck. Er hatte am Morgen den Bus verpasst, um sein Methadon zu holen und hielt es für eine gute Idee Schnaps zu trinken, um die Übelkeit zu dämpfen. Im Sumpf war er dann nachdenklich geworden, hatte sich kurz hingesetzt, war dann aber eingenickt und festgefroren. David zückt sein Taschenmesser und Fellis kreischt. Er versucht seine Haare selbst zu befreien, bleibt jedoch chancenlos. David schneidet ihm ein gutes Stück seines langen Haars ab und bringt ihn zu Fellis Mutter Beth.

David und seine Mom hatten das Leben im Süden mit seinem Vater aufgegeben und waren nach Maine ins Reservat gezogen. Seine Mutter stammt von der Penobscot Nation. Als sie her gekommen waren fand David, beim Spielen vor dem Haus in einer Senke, ein Glas mit Zähnen, Maiskörnern und grauem Haar. Als er es seiner Mom gezeigt hatte, musste er alles fallen lassen und mit ihr ins Haus gehen, wo sie telefonierte und zwei Zigaretten rauchte. Dann kam Frick der Medizinmann, sprach Gebete, räucherte David und Mom mit Salbei und weihte das Haus. Seine Mom dachte nicht an einen Spaß, sie glaubte, dass jemand ihnen ernsthaft schaden wollte. Und irgendwie sollte sie recht behalten, denn kurz darauf zog Frick bei ihnen ein, stellte seine Zahnbürste neben Davids, verteilte seine Haare im WC und trank mit Mom Wein aus Pappkartons.

Fazit: Morgan Talty, selbst Angehöriger der Penopscot Indian Nation, hat eine generöse Geschichte gezeichnet. Er hat mich in seine indigene Heimat entführt und mir mit großem sprachlichem Können gezeigt, wie traumatisiert die Menschen seines Stammes sind. Einst in Freiheit lebend bestritten sie ihren Unterhalt mit Jagen und Sammeln. Heute leben sie im Reservat als Menschen zweiter Klasse. Die Mutter des Protagonisten wurde durch Kriege und Kolonialisierung über viele Generationen traumatisiert. Man wies ihnen ein kleines Gebiet, in dem sie sein dürfen. Innerhalb des Reservats herrscht Perspektivlosigkeit. David und die anderen jungen Leute teilen multiple Abhängigkeiten. Fast jeder im Reservat ist alkoholabhängig. Geld ist schwer zu beschaffende Mangelware. Der Autor zeigt die ganze Ausweglosigkeit, ein unabhängiges, selbstständiges Leben zu führen. Sein lakonischer, teils komischer Erzählstil verpackt das ganze Elend in mundgerechte Häppchen und macht den Lesefluss erträglich. Die Eindrücke von Geistern, die an Wasserrohre klopfen, verfluchte kleine Kinder, die Schabernack treiben und schmutziges Geschirr, das mit einem Tuch abgedeckt wird, damit die Geister sich nicht eingeladen fühlen, haben mich so gut in seine Kultur hineinfühlen lassen, dass ich fast Dankbarkeit für seine Gastfreundschaft empfinde. Ich war mittendrin in der Familie des Hauptakteurs und habe mich an den Maisküchlein und am Schweinebauch mit Farnkrautspitzen erfreut. So eine authentische, spannende und wertvolle Geschichte.

Bewertung vom 07.07.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


sehr gut

Kongo 80er-Jahre

Miras und Ya Eugénies Papa ist jetzt Pilot, darum zieht die Familie nach Gomba. Mira ist die jüngere. Ihre Schwester wird schon bald als Ärztin in einem Krankenhaus arbeiten, während Mira lieber mit ihrer Freundin Chantal tanzen geht. An einem späten Abend verschwindet Chantal einfach und lässt Mira während der Ausgangssperre sitzen. Als Mira es bemerkt, sind alle Taxis weg und sie müsste eine Stunde zu Fuß nach Hause gehen. Da trifft sie Charlie Bolingo, einen Gelegenheitsarbeiter, der von einer großen Musikkarriere träumt. Mira lässt sich von ihm mit dem Fahrrad heimfahren und hofft, dass niemand sie sieht, doch nach dieser Nacht treffen sie sich öfter und flechten zarte Bande.

Miras Eltern wollen die Übereinkunft zwischen den beiden verhindern und schicken Mira in das Haus ihrer Schwester, die mittlerweile verheiratet ist. Mira ist Ya Eugénie eine gute Haushaltshilfe. Als Ya Eugénie mit ihrem Mann für einige Tage wegfährt, plündert Mira die Speisekammer und kocht für Charlie Bolingo. Ya Eugénie bemerkt, dass Mira schwanger ist, noch bevor sie es selbst spürt. Ihr Vater spricht nicht mehr mit ihr, sie hat Schande über die Familie gebracht. Genauso wie Miras Familie sie verstößt, wird sie ihr Kind nicht annehmen. Ya Eugénie nimmt den Säugling an sich und Mira macht sich auf den Weg nach Europa. Ihre Tochter Bijoux wächst bei Ya Eugénie auf, wird jedoch mit zwölf Jahren zu Tantine Mireille nach London geschickt.

Fazit: Christina Fonthes spinnt in ihrem Debüt ein feines Netz über drei Generationen und gibt zwei Frauen die Hauptrolle. Die beiden erleben, wie Zaire zu Kongo und Kongo zur Demokratischen Republik Kongo wird. Durch Belgien kolonialisiert wurde das Land, das reich an Bodenschätzen ist ausgebeutet. Bürgerkriege und Korruption taten ihr Übriges. Beide Frauen sind entwurzelt. Sie vermissen ihr Land, das Klima und ihre Eltern. Beide haben Schwierigkeiten in London Fuß zu fassen. Während Tantine Mireille sich einer christlichen Glaubensgemeinschaft anschließt, entdeckt Bijoux ihr Interesse an Frauen. Eine Zwangsheirat wird die Fesseln Tantine Mireilles und der zukünftigen Schwiegermutter enger ziehen. Die Geschichte deckt die Diskriminierung schwarzer in einer weißen Gesellschaft ebenso auf, wie die Diskriminierung der LGBTQIA Gruppen aber auch die Unterdrückung von Frauen in der eigenen Familie. Der Schreibstil ist mitreißend. Die Autorin springt in den verschiedenen Jahren vor und zurück und erzählt die Ereignisse, die beide Frauen zueinandergeführt haben. Und hier hatte ich meine Probleme. Ich habe an einigen Stellen die Geschichte Tantine Mireilles mit der von Bijoux vertauscht und war zeitweise verwirrt und ein bisschen frustriert. Erst im vorletzten Kapitel verstand ich die ganze Tragweite der Entwicklung beider Frauen. Das Ende war der Knaller und hat mich an die Geschichten von Toni Morrison erinnert. Insgesamt bringt mir die Autorin, durch ihre Herkunft als Kongolesin, diesen Teil Afrikas kulturell ganz nah und damit hat sie meinen Nerv voll getroffen. Auch wenn ich zeitweise durcheinandergekommen bin, wurde meine Geduld am Ende belohnt. So what ich mochte dieses Buch.

Bewertung vom 30.06.2025
Rubik, Kat Eryn

Furye


gut

Die Selfmadefrau Alec, Gesicht der Vogue Business, lächelt sich händeschüttelnd durch die Vernissage. Die Toxou stellt ästhetisch fragwürdige Fotografien aus und Alecs neuer Stern am Klassikhorizont hat seinen Gastauftritt. Die Toxou und sie haben nichts gemein, außer dass sie kinderlose Singlefrauen sind und sich gefährlich nah an einen Burnout heranarbeiten. Alec war ungewollt das leuchtende Beispiel des Kindes einer Einwandererfamilie, die Alma Mater mit dem rasanten Aufstieg zur einflussreichsten Managerin der Neoklassikbranche. Die Leute um sie herum stürmen das Austernbüffet. Ein Koch schiebt sein Messer unter die obere Schale, durchtrennt den Schließmuskel und tötet das lebendige weiche Fleisch. Die Gäste träufeln Zitronensaft oder Zwiebelvinaigrette darüber und schlürfen den Inhalt in ihren Mund. Es folgen große Schlucke eines roséfarbenen Champagners und Gespräche über Armbanduhren und Anlageoptionen. Die Toxou flüstert ihr ins Ohr, welche Party sie im Anschluss besuchen wird und Alec solle sie doch begleiten, aber Alec will nach Hause. Will sich in der Stille ihrer Wohnung, mit der Tablette aus der weiß-blauen Packung und einer Flasche Weißwein lebendig begraben.

Damals, als sie Siebzehn war, gehörte ihnen die kleine Stadt und das Meer. Damals, als sie nur Lust und Schmerz und doch so lebendig waren, die drei Furyen. Alec wohnte in dem Viertel, das niemand gerne betrat, der nicht dort zu Hause war. Ihre Eltern hatten ihre Heimat verlassen und ganz von vorne anfangen müssen. Ihr Vater arbeitete als Taxifahrer, die Mutter als Reinigungskraft. Die beiden teilten sich die Schlafcouch im Wohnzimmer, damit Alec ihr eigenes Zimmer hatte und in Ruhe lernen konnte. Trotzdem waren sie glücklich. Alec arbeitete in Nics Bar und bekam ein Stipendium, doch dann warf sie ein Auge auf den schönen stillen Romain, der einen Jahrgang über ihr war.

Fazit: Kat Eryn Rubin hat eine Geschichte geschaffen, die das Frausein in allen Facetten beleuchtet. Ihre Protagonistin kommt aus einem liebevollen Elternhaus, ganz im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen. Ein großer Teil der Story dreht sich um das Unglück schöner junger Frauen, die sich im Dunstkreis älterer wohlhabender Männer bewegen, um die Oberflächlichkeit von Beziehungen und die Last der Abhängigkeiten. Die Wut darüber verlassen worden zu sein, oder die Ohnmacht darüber ständiger häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Die Protagonistin, die sowohl als Freundin, aber auch als Kellnerin hautnah mitbekommt, wie Männer sein können und sich bewusst für ein unabhängiges Leben entscheidet, damit dann unglücklich ist, weil sie das Fehlende nicht ersetzen kann. Ich fand den Schreibstil eingängig und unterhaltsam. Gerade zu Anfang hat mich die Geschichte gefesselt, später fand ich sie zu langatmig. Die Stimmung ist so melancholisch und es scheint so aussichtslos, dass sich etwas zum Positiven bewegen wird, dass es mich zum Ende richtiggehend runtergezogen hat. Der Schluss ist ebenso überraschend wie unglaubwürdig. Für mich war das Bild des egoistischen, reichen, weißen, heteronormativen Mannes, das die Autorin gezeichnet hat, zu einseitig. Irgendwie auch persönlich, als sei an dieser Stelle noch eine Rechnung offen.