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MarieOn

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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 05.05.2025
Stars
Kullmann, Katja

Stars


gut

Carla Mittmann ist exmatrikulierte Philosophiestudentin. Seit nunmehr zehn Jahren fristet sie ihren öden Berufsalltag im Kundendienst einer Möbelfirma. Zwanzig Stunden in der Woche nimmt sie Bestellungen für Schultische, Amtsregale und Warteraumbestuhlung entgegen. Zwölf Tage Urlaub stehen ihr pro Jahr zu und Magen-Darm kann eine segensreiche Sache sein, wenn er dazu dient, ein paar zusätzliche freie Tage einzubauen oder Urlaube zu verlängern. Nach Feierabend verkauft sie als „Cosmic-Charly Online-Horoskope. Ein Computerprogramm, dessen Auswertung sie wegen der Vergleichbarkeit minimal abändert, hilft ihr dabei. Sie hat sich einen größeren Kundenstamm aufgebaut, der ihr treu ist.

An einem Mittwochmorgen wird sie unsanft geweckt, als ein Stein durch ihr Fenster fliegt. Nach dem ersten Schreck glaubt sie an einen Irrtum, falsche Hausnummer oder jemand hatte sich in der Etage geirrt. Verärgert darüber, dass das Aufräumen nun an ihr hängen bleibt, schält sie sich aus dem Bett, begutachtet den Schaden und schaut hinunter auf den Bürgersteig:

„Freiheit für Mittmann!“, steht dort in großen blauen Kreidebuchstaben. S. 19

Das will sie sich näher anschauen, zieht sich an, öffnet die Wohnungstür und fällt fast über den Karton auf ihrer Fußmatte. Sie trägt ihn in die Küche, faltet den Deckel auseinander und sieht gebündelte zehn Dollarnoten. Sie kann sich nicht vorstellen, dass das Geld echt ist und um ihr Misstrauen zu beweisen, nimmt sie einige Scheine, die sie am Nachmittag zur Wechselstube bringen wird. Als sie die Haustüre öffnet, um zur Arbeit zu fahren, sind die Kreidebuchstaben weg, als hätte sie eine Halluzination gehabt.

Fazit: Katja Kullmann hat nach „Die singuläre Frau“ nun ihren ersten Roman geschrieben. Die fiktionale Geschichte liest sich humorvoll, aber auch beliebig. Erst ab Seite achtzig konnte sie mich mitnehmen und ich fand Spaß an ihrer abstrusen Handlung. Ihre Protagonistin lebt ein arbeitsreiches Singledasein. Mit dem unerwarteten Geldzuwachs als Sicherheit entwickelt sie die Idee einer Vollzeitselbstständigkeit im Astro-Business und stellt ihr Geschäft beeindruckend gewissenhaft auf. Die Interaktionen mit ihren Kundinnen sind wirklich unterhaltsam geschrieben. Sie will hoch hinaus, einer Madame Tessier würdig werden. Mir gefielen auch die diversen Einschübe über die Sternbilder und die Konstellationen. Auf Seite 234 lässt die Autorin dann ihre Protagonistin dazu raten, unsere Globulis in die Kanalisation zu kippen, weil Rudolf Steiners Schriften, zu den Schuldigen am Ersten Weltkrieg, von den Nationalsozialisten rezipiert wurden. Der Anthroposoph und Heilpädagoge Steiner hat sich der Esoterik gewidmet und die Misteltherapie entdeckt, die ja bei bestimmten Krebsarten nicht umstritten ist. Das hat aber mit Globulis gar nichts zu tun, denn die Homöopathie ist ja von dem Arzt Samuel Hahnemann entwickelt worden. Aus beruflicher Sicht bin ich da empfindlich, weil über die unschuldige Homöopathie viel Unsinn verbreitet wird. Dennoch hatte der Roman für mich, trotz einiger Schwächen, einen Unterhaltungswert.

Bewertung vom 02.05.2025
Beeren pflücken
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Maine 1962

Joe war sechs, als er von den Weißen hörte, dass die Indianer gute Beerenpflücker seien, weil sie etwas Saures im Blut hätten und deswegen die Mücken nicht an sie gingen.

Für Joe, der mit seiner Familie in einer Vierzimmerwohnung mit undichtem Dach lebte, war Mr. Ellis Haus mit den vielen Fenstern, das reinste Herrenhaus. Nachdem sie auf Ellis Farm angekommen waren, fuhr sein Vater wie jedes Jahr los, um die anderen Pflücker einzusammeln. Im Gegensatz zu den anderen, die in Zelten schliefen, hatten sie eine Hütte, die jetzt geschrubbt werden musste. Seine Schwester Mae half Mom drinnen. Die Brüder Ben und Charlie waren in Dads Truck und Joe und die kleine Ruthie rissen das Gras um die Hütte herum aus. Ben und Mae waren in der Schule für junge Indianer gewesen. Joe sah sie nur noch an Weihnachten und zum Beeren pflücken. Als der Indianerbeauftragte Dad einen Brief schrieb und die harte Arbeit erwähnte, die ihren Charakter formen und sie zu anständigen Leuten mache, zerriss Dad das Papier und Ben und Mae gingen wieder auf die gleiche Schule wie Joe. Der Tag, als die vierjährige Ruthie auf dem Stein am Feldrand saß und kurz darauf verschwand, veränderte das Leben jedes einzelnen der Mi´kmaq Familie nachhaltig.

Norma erinnert sich an den Tag, als sie auf dem Rücksitz eines Autos saß, das sie nicht kannte. Ihr sonst zusammengebundener Zopf war zerzaust und einer ihrer Schuhe lag vor ihr auf dem Boden. Sie träumt regelmäßig von einem Lagerfeuer, riecht den Rauch und hört Menschen singen und lachen. Sie kann sich diese Bilder nicht erklären und wenn sie ihrer Mutter davon erzählt, bekommt die Kopfschmerzen und muss sich zurückziehen. Wenn Mutter etwas richtig gut kann, dann ist das Schuldgefühle auslösen und ihrem Putzfimmel frönen. Normas Vater ist Richter und muss immer tadellos gekleidet sein, sagt Mutter.

Fazit: Amanda Peters hat eine eindringliche fiktive Geschichte über eine indigene Familie aus Nova Scotia geschrieben, die im Sommer Geld bei der Blaubeerernte in Maine verdient. Sie leben ein einfaches, aber zufriedenes Leben, bis die jüngste Tochter spurlos verschwindet. Reichtum wird ihnen nie beschert sein, dieser Zustand ist den weißen vorbehalten. Viele ihrer Landsleute haben sich für ein Leben im Reservat entschieden, doch diese Familie schlägt sich weiter durch. Die Geschichte ist hervorragend geschrieben und entblättert die tragische Wirklichkeit über die Gedanken von Joe, die sich mit denen der wunderlichen Norma abwechseln. Die Autorin mit indigenen Wurzeln hat die Geschichte ihres Volkes aufgearbeitet. Sie bedient sich einer einfachen, klaren und bildreichen Sprache. Die Ereignisse schildert sie ohne unnötigen Pathos und berührt mich damit tief. Die psychologischen Konsequenzen, Joes Schuldgefühle und das Leid seiner Mutter, sind richtig gut eingefangen. Alle Charaktere haben den angemessenen Raum bekommen, sich zu entfalten. Eine durchweg bewegende Geschichte, bei der wirklich alles stimmt. Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 11.02.2025
Wenn wir lächeln
Unterlehberg, Mascha

Wenn wir lächeln


ausgezeichnet

Jara und Anto teilen alles, Klamotten, Lipgloss, Kajal und Cola-Rum. Sie sitzen mit Schlagringen und Baseballschlägern in Bars und wenn jemand sie beobachtet:

Wir stehen dann auf, wir drehen uns um, und wenn wir können, dann lächeln wir. S. 75

Jara steht auf der Eisenbahnbrücke. Sie ist jetzt allein, weil Anto gesprungen ist. Jara schaut in die Ruhr, sieht aber nur den Baseballschläger, den Anto zuerst ins Wasser geworfen hat. Jara weiß nicht, was sie machen soll. Was, wenn sie den Notdienst völlig umsonst ruft, weil Anto wie immer gleich hinter ihr stehen wird.

Jara besucht Anto zu Hause, ihre Mutter ist nicht da, jettet um die Welt und bietet Ayurveda und andere Kurse zur Selbstfindung an. Der Küchentisch steht voller billiger Spirituosen. Anto schüttelt ihr einen Cocktail, den sie selbst erfunden hat. Er schmeckt scheiße.

Wenn sie unterwegs sind, wetten sie manchmal: „Wetten, dass du es nicht schaffst, in zwei Minuten alle Scheiben des fetten BMW da vorne zu zertrümmern?“ Und Anto schlägt zu.

Jara hat Anto zum ersten Mal beim Fußballtraining getroffen. Antos Pässe waren übel, trotzdem haben ihr alle Jungs den Ball zugespielt. Nach dem Training schoss Leo auf eine Krähe. Niemand hatte geglaubt, dass er aus der Entfernung trifft, auch Leo nicht. Aber der Ball fand sein Ziel und der Vogel taumelte. Jara sprintete los und rief: „Dem gehts nicht gut“. Anto stapfte ins Gebüsch, holte einen Stein und erschlug den Vogel.

Auf der Eisenbahnbrücke sucht Jaras Blick noch immer die Wasseroberfläche ab, wie lange kann man unter Wasser bleiben? Sie muss irgendetwas tun.

Fazit: Wow! Mascha Unterlehberg hat ein fein konstruiertes Debüt geschaffen. Der Schreibstil ist besonders. Einzelne Szenen werden nicht auserzählt, die Autorin überlässt es den Leser*innen, ihr individuelles Kopfkino zu fahren. Die Protagonistinnen werden von der gleichen Wut getrieben, könnten aber unterschiedlicher nicht sein. Jara findet in der charismatischen Anto eine Verbündete, mit der sie sich auflehnen kann, gegen die komischen Blicke der Männer, der Männer, die einer einfach ungefragt an den Hintern fassen. Die unangenehm den Arm um eine legen, die Frauen Drinks ausgeben, weil sie sie f***** wollen. Dennoch ist die Stimmung zwischen den beiden fragil und droht jederzeit zu kippen. Im Grunde spielt die Geschichte auf der Eisenbahnbrücke und schickt uns dank Jaras Gedanken in deren jüngste Vergangenheit mit Anto. Diese Geschichte zeigt eine neue Generation junger Frauen, die nicht mehr bereit sind, das schwache Geschlecht zu mimen. In der Story steckt eine kraftvolle Energie und ganz viel Wut, die ausagiert wird. Das war flirrend und spannend.

Bewertung vom 05.02.2025
Achtzehnter Stock
Gmuer, Sara

Achtzehnter Stock


ausgezeichnet

Die Zweizimmerwohnung im achtzehnten Stock eines Berliner Plattenbaus gehört Wandas Onkel. Trotz des Schimmelbefalls unter dem Waschbecken nennt er sie sein Kronjuwel. Wanda ist im Mietrückstand, weil sie schon ewig keine Castings mehr hatte und deswegen auch keine Rolle. Ihr Agent Frank, der sie eines seiner besten Pferde im Stall nennt, will, dass sie immer erreichbar ist. Aylins Mama wohnt am Ende des Flurs. Sie passt manchmal auf die fünfjährige Karlie auf, verdreht aber bei dem Wort Casting die Augen. Wanda soll endlich was Anständiges machen: „Schauspielen ist doch kein richtiger Beruf“, Harz Vier, aber auch nicht, denkt Wanda.

Frank ruft sie an und erzählt, dass jetzt ihr großer Auftritt komme, ihre ganz große Chance und gibt ihr die Adresse für ein Vorsprechen. Während ihres Termins ruft Aylins Mama an, Karlie gehe es nicht gut. Sie zieht das Casting durch und hat den Job. Die Regisseurin Undine Beulwitz lädt alle noch ins Bellmanns ein, den Nobelschuppen mit der Molekularküche. Wanda will nur kurz mitkommen und sich dann verabschieden. Der Laden ist voll, an der Bar sitzt ein sehr attraktiver Typ, der sie direkt ansieht. Madame Beulwitz kommt erst nach neun und die Kellner prügeln sich, um ihr den Mantel abzunehmen. Der Typ an der Bar kommt zu ihnen und wird als Adam Ezra vorgestellt, er besetzt die Hauptrolle. Die Kellner bringen Melonenkaviar an gefalteten Salatblättern mit kandierten Walnüssen. Zwischen den Gängen lehrt sich der Tisch, denn fast alle rauchen. Wanda unterhält sich draußen mit Adam, der nicht nur attraktiv, sondern auch überaus charmant ist. Als sie wieder reingehen wollen, ist ihre Handtasche weg. Wanda hetzt nach Hause und holt Karlie und ihren Ersatzschlüssel bei Aylins Mama ab.

In der Nacht verschlimmern sich Karlies Ohrenschmerzen so, dass Wanda mit ihr in die Klinik muss. Frank bellt ins Telefon, ob sie irre sei, sich einfach frühzeitig von der Party zu verdrücken, das sei ihre Chance gewesen, die sie jetzt abhaken könne: „Der Bellmann von ihrem kranken Kind zu erzählen. Diese Leute mögen keine Kinder!“

Fazit: Sara Gmuer hat mich geflasht. Die Geschichte ist so gut durchdacht, die Stimmfarbe gewaltig und eigen. Ihre Beobachtungsgabe der zwischenmenschlichen Interaktionen feinfühlig und besonders. Die Dialoge sind überzeugend und werden durch Wandas Gedanken – kursiv geschrieben – aufgelockert. Der Kontrast zwischen Arm und Reich, die Dekadenz und Selbstgefälligkeit derer, die oben mitspielen dürfen, könnte besser nicht gezeichnet sein.

„Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ S. 108

Die alleinerziehende Protagonistin ist keine gefällige Pretty Women, sondern ein eigenwilliger Charakter. Sie muss keine Steine aus dem Weg räumen, nein, sie muss Berge erklimmen. Die Aussichtslosigkeit ihres Traums, aus dem achtzehnten Stock, aus der Armut rauszukommen, macht wütend. Sie scheint von egozentrischen Männern umzingelt, die sie der Reihe nach fallen lassen (Patriarchat lässt grüßen). Und dann hat sie auch einfach ganz viel Pech. Eine preisverdächtige Geschichte, die ich aus vollem Herzen empfehle. Für mich war das pures Lesevergnügen!

Bewertung vom 23.12.2024
Only Margo
Thorpe, Rufi

Only Margo


sehr gut

Margo studiert am Junior College. Sie ist neunzehn, als ihr Literaturprofessor Mark sie schwängert. Margo entscheidet sich gegen die von ihrer Mutter und dem Professor propagandierte Abtreibung, weil es sich falsch anfühlt. Ab da ist Mark nicht mehr erreichbar, seine Ehe steht auf dem Spiel. Margo unterschreibt einen Vertrag mit dem sie, gegen eine einmalige Zahlung und ein Depot für ihren Sohn, auf Unterhaltszahlungen verzichtet. Nachdem der kleine Bodhi geboren ist, ziehen zwei ihrer drei Mitbewohnerinnen aus Margos Wohnung aus. Jetzt fehlen ihr die Mieteinnahmen. Ihre Chefin, Betreiberin einer Fast food Kette, setzt sie vor die Tür, als Margos Mutter sich weigert, weiterhin auf Bodhi aufzupassen.

Mit einem Kind eröffnen sich für Margo Probleme, mit denen sie nie gerechnet hätte. Sie braucht dringend einen Job, was aber mit einem Kind, das rund um die Uhr Betreuung braucht, unmöglich scheint. Schon seit einer Weile folgt sie dem Portal OnlyFans, auf dem junge Frauen ihre Reize in den Vordergrund stellen, damit müsste sich doch Geld verdienen lassen. Ein Account ist schnell geschaffen. Margo nennt sich HungryGhost und lädt ihre ersten Fotos hoch. Sehr schnell hat sie einige Follower. Als extra Service bietet sie an, Dickpics zu bewerten, das bringt ein wenig zusätzliches Geld.

Ihr leiblicher Vater Jinx, ein Ex-Wrestler, sucht eine Bleibe und zieht bei Margo ein. Margo schließt sich mit größeren CreatorInnen zusammen, die gegen Entgelt auf ihren Accounts für sie werben. Dann gehen ihr die Ideen aus und sie weiht ihre Mitbewohnerin Suzie ein. Mit deren Cosplay Kostümen bringt sie frischen Wind in ihren Account. Und dann kommt ihr Vater hinter ihre Berufswahl.

Fazit: Rufi Thorpe hat eine Gegenwart geschaffen und verständlich gemacht, die realer nicht sein könnte. Ihre junge Protagonistin muss Verantwortung übernehmen. Schnell wird klar, wie schwierig die Verhältnisse für alleinerziehende Mütter sind. Die Protagonistin beißt sich durch. Zuerst meiden ehemalige Bekannte sie wegen ihres Kindes, dann wegen moralischer Bedenken über ihre Berufswahl. Von allen Seiten rollen ihr Steine in den Weg, aber am Ende wird alles gut. Die Geschichte hat mich gut unterhalten. Die Autorin hat eine Heldin mit starken Nerven geschaffen. Ein Buch, das schwierige Themen leicht transportiert und zugänglich macht.

Bewertung vom 11.09.2024
Der Bademeister ohne Himmel
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


ausgezeichnet

Die 15-jährige Linda wohnt zwei Etagen über Hubert Raichl. Hubert ist voll dement und wird von Ewa, der polnischen Pflegekraft vierundzwanzig Stunden betreut. Kevin wohnt bei Linda um die Ecke und ist voll intelligent. Seit Lindas Eltern sich getrennt haben, mag Linda Kevin. Davor musste sie ihn wie ihr Päckchen mit zur Schule schleppen. Seine alleinerziehende Mutter fand, dass der Schulweg zu gefährlich sei.

Linda plant seit einiger Zeit ihren Abgang aus dieser Welt, das macht sie im Stillen mit sich aus.

Es ist dieser Zustand zwischen Schlafen und Wachwerden. Es dämmert einem, dass man wach wird und die Sorgen vom Vortag vermischen sich mit der Vorschau auf noch mehr Unglück. S. 204

Linda trägt den grauen Vorhang, der alles trübt, nicht grundlos. Zu oft hat sie mit ihrer Mutter im dunklen Kleiderschrank gesessen, die Herzen um die Wette rasend, weil der rasende Vater: „Komm da raus!“, schrie.

Linda verbringt die Nachmittage meistens bei Hubert. Die gottgläubige Ewa, die den Kamillentee dreißig Minuten ziehen lässt, weil er Farbe braucht, mit der selbst gemachten Ringelblütensalbe und dem Freund ohne Körperlichkeiten, muss auch mal einkaufen. Und Mittwochs verschwindet Ewa für zwei Stunden zu ihren polnischen Freundinnen. Linda hat Hubert im Griff. Wenn er auf seine Frau wartet, die er beim Einkauf vermutet, lenkt Linda ihn ab. Seine rechte Hosentasche enthält immer Walnusshälften und die linke immer ein Stofftaschentuch, darauf kann man sich verlassen. Linda erzählt Hubert vom Schwimmbad, dem Drei-Meter Brett, den warmen Sonnenstrahlen auf der Haut und dem erfrischenden Wasser, in das sie eingetaucht ist, auch wenn es nicht stimmt. Hubert gefällt es.

Nach viel Dunkelheit sind da die Tage, an denen Linda ein Liebespaar an der Bushaltestelle beobachtet und es nicht kitschig findet. Eine Frau, die mit einem Efeublatt eine Biene aus dem Brunnen fischt und wartet, bis sie weggeflogen ist und sie fragt sich, ob das immer da ist? Aber dann braucht Ewa eine Pause und fährt für Wochen nach Hause.

Fazit: Mit großem Feingefühl hat Petra Pellini ein junges Mädchen gezeichnet, das sich überflüssig findet. Wirklich gelungen lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin aus der Sicht einer coolen Jugendlichen erzählen, mit starkem Charakter und wenig Selbstwert. Die Geschichte ist wunderbar verwoben mit Lindas Schicksal, Huberts Demenz und Ewas Überforderung. Die Stimme der Autorin ist humorvoll und selbstironisch. Obwohl Lindas Weg immer wieder von unerwarteter Tragik gekreuzt wird, wächst sie über sich hinaus und findet ein Licht am Ende des Tunnels, das hell und vielversprechend strahlt. Ein gelungenes, bewegendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

Bewertung vom 30.08.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


sehr gut

Seit dreizehn Jahren liebt sie ihren Mann über alles und ist voller Angst, ihn zu verlieren. Sie leidet unter ihrer vollkommenen Liebe, darunter zurück geliebt werden zu müssen, unter der Erwartung, dass er ihre riesige Leere füllt.

Ihr Beruf als Englischlehrerin macht ihr seit fünfzehn Jahren große Freude. Eine Stunde lang steht sie im Zentrum der Aufmerksamkeit und kontrolliert die Zeit. Am liebsten sind ihr die Montage, wenn sie mit neuem Schwung die Klasse erobert.

Wenn sie nach Hause kommt, korrigiert sie die Arbeiten ihrer Schülerinnen. Sie achtet darauf, immer ein aufgeschlagenes Büchlein neben sich liegen zu haben, in das sie ihre Deklinationen schreibt. Sie mag es nicht, wenn er früher zu ihr kommt und sie am Computer sitzen sieht, es wirkt so gewöhnlich. Normalerweise bereitet sie dann das Essen vor und wartet auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend, den Blick in ein Buch gerichtet, im Moment ist es der Liebhaber von Dumas, im Schein einer schmeichelnden Lampe. Sie weiß, dass sie ihm so am besten gefällt, ihrem Mann. Um 21 Uhr 20 beschleunigt ihr Herzschlag und sie weiß, dass sie in Alarmbereitschaft ist. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel, den Rock zurechtgerückt. 21 Uhr 30, sein Auto hält, die Tür schlägt zu und dann fährt der Schlüssel ins Schloss.

Gestern ist er eingeschlafen, ohne ihr „Gute Nacht“ zu wünschen, deshalb dreht sie sich am Morgen von ihm weg, als er sie umarmen will. So sind die Regeln, die muss sie einhalten.

Schon damals hat er ihr mit einer Grippe die Flitterwochen versaut. Sie waren in einem der schönsten Hotels, in dem er sieben Tage lang im Bett lag. Fast wäre die Erholung und die Unterhaltung, auf die sie sich doch so gefreut hat, an ihr vorbeigegangen.

Fazit: Ich mag die französische Klangfarbe von Maud Ventura. Alles ist leise und sehr genau beobachtet. Sie lässt ihre Protagonistin in permanente Innenschau gehen, zeigt, wie kontrollierend und selbstbezogen sie ist. Jede kleinste Veränderung im Verhalten ihres Mannes lässt sie das schlimmste vermuten und mit Selbstzweifeln martern. Die Abhängigkeit ist übergroß. Die Protagonistin erlebt die gesamte Kaskade an Gefühlen, die uns sabotieren können. Eifersucht, Neid, Missgunst, Minderwertigkeit und versucht sich durch ihren Alltag zu hangeln. Ihre Kompensationsversuche erregen Mitgefühl. So wenig wie ich über den Charakter ihres Mannes erfahre, so sehr dreht sich die Welt um seine anstrengende Frau. Das Ende hat mich völlig überrascht. Ich bin erleichtert, dass ich nicht in der Haut der Protagonistin stecke. Meine Leseempfehlung für diese feinsinnige Geschichte, die es in sich hat.

Bewertung vom 30.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

Lou ist promovierte Kunsthistorikerin und Mutter. Nachdem sie von ihrem ersten Mann verlassen wurde, der sich dem Studium seiner Religion widmen wollte, ging Lou möglichst weit weg. Sie schrieb sich an der Columbia ein und zog nach New York, wo sie Sergej kennenlernte. Obwohl sie nahezu ein Paar waren, fehlte die letzte Konsequenz, denn Lou wollte sich nicht mehr binden. Da Sergej weltweit Konzerte gab, verloren sie sich aus den Augen.

Erst nach ihrem Studium trafen sie sich in Berlin wieder und bekamen ihr erstes Kind. Lous Mutter kam mit Lou aus Aserbaidschan nach Berlin. Sie arbeitete als Klavierlehrerin und konnte sich eine kleine Wohnung leisten. Jetzt lebt Lou mit Sergej in seiner großzügigen Altbauwohnung und es fehlt ihr an nichts, deshalb fühlt sie sich manchmal wie eine Betrügerin, die sich etwas erschlichen hat, das ihr nicht zusteht. Genau dieses Gefühl gibt ihr ihre Schwiegermutter, als wäre Lou nicht gut genug für ihren Sohn.

Wenn Sergej sich auf seine Konzerte vorbereitet, taucht er tagelang ab und ist kaum ansprechbar. Bei seinem letzten Auftritt bekam er im Angesicht des Publikums und dem Wissen über dessen Erwartungen solche Atemnot, dass er fürchtete ohnmächtig zu werden. Und dann wird Lous Großtante neunzig und Lous Mutter will unbedingt, dass Lou sie zu der Feier begleitet.

Fazit: Olga Grjasnowa hat einen leichten Unterhaltungsroman geschaffen. Die Protagonistin ist Jüdin, die, wie der Rest der Familie in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen ist. Während der Rest der Familie nach Israel zieht, geht ihre Mutter mit ihr nach Berlin und fortan sind die beiden die Außenseiter. Während Lous Mutter um ihre Existenz kämpfte, haben die anderen in Israel ihre schicken Appartements, auf dem Grund, der ihnen nicht gehört, abbezahlt und lassen es sich gut gehen. Missgunst ist der innerfamiliäre Tenor und Scham über die Schande, die der Großvater über alle hat hereinbrechen lassen. Die Autorin versucht recht schwere Themen abzuarbeiten, bleibt dabei aber im Oberflächlichen verhaftet. Die flockige Sprache kaschiert das Tragische und war mir zu flach. Da sich der Roman jedoch gut liest, kann ich mir vorstellen, dass er bei den Leser*innen, die leichte Literatur bevorzugen, gut ankommen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.02.2024
Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen
Liebl, Ole

Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen


ausgezeichnet

Zunächst einmal führt Ole Liebl mich in die sexuellen Begrifflichkeiten ein, was mir hilft zu differenzieren und dem folgenden Text zu folgen. Dafür bin ich dankbar, denn ich merke, dass ich eingerostet bin. D*ie Autor*in unterscheidet die F+ Beziehung, also Frindship with benefits, oder Freundschaft+ Erotik, von Hookup, Fickbeziehung, One Night Stand, BootyCall, Fuck Buddys, Casual Sex (No Strings Attached) und von der Affäre.

Die Freundschaft+ ist im Gegensatz zu den anderen erwähnten Spielarten der Erotik eine Vereinigung mit mehr oder weniger großer Verbindlichkeit, wobei die Freundschaft an erster Stelle steht und nicht der Sex.

Ole Liebl hat aufwendig recherchiert und nimmt uns mit auf eine Reise in die Geschichte der Sexualität. Beleuchtet das Konstrukt der Ehe, mit all ihren Abhängigkeiten, Machtgefällen und Sicherheiten, beleuchtet die Aufgabe der katholischen Kirche und wie diese durch den Staat abgelöst wurde. Wie wichtig die kontrollierte Geburtenrate der Ehe zu Zeiten der Kriege wurden. Wie sehr Frauen aber auch Minderheiten begrenzt und beschnitten wurden/werden. Lange Zeit hatte man der Frau jegliche eigenständige Sexualität abgesprochen, sie zum passiven, empfangenden Weibchen erkoren, frei von Rückgrat, geschwätzig und zu Hysterie neigend. Ole zeigt, wie sehr wir diese Rollenbilder bis ins Heute interniert haben, was uns das “freiwillige” unentgeltliche Kümmern von Frauen in der Care Arbeit (Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, Hausarbeit) zeigt.

Ich mochte diesen Exkurs sehr, weil ich viele Informationen bekommen habe, die ich nicht kannte. Besonders gelungen fand ich das Kapitel, Liebe, Sex und Kapital: 150 Jahre sexuelle Kommerzialisierung. Sex sells, wie sich durch Werbung Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung kristallisiert hat.

Um sexuell begehrenswert zu sein, so verspricht die kapitalistische Gegenwart, muss also konsumiert werden. S. 61

Ein Dogma, dem sich immer noch die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung beugt.

Ole Liebl propagiert den verantwortlichen Umgang mit Sexualität im algemeinen und die Wichtigkeit eines gemeinsamen Konsens, damit niemand verletzt wird, weder physisch noch emotional. Er glaubt, dass in der Intimität und dem Vertrauen, das Freundschaft mit sich bringt, die Chance liegt seine Wahlfamilie zu festigen und den sinnlichen Horizont, dessen was guttut, zu erweitern.

Während in romantischen Beziehungen oft hohe Erwartungen an ein “geschlechtergerechtes” Verhalten bestehen, die mit Performancedruck einhergehen, unterliegt die Freundschaft solcher gesellschaftlicher Normen kaum. S. 91

Fazit: Ein gut geschriebenes Buch, das mit seinen revolutionären Thesen, definitiv meinen Horizont erweitert hat.

Bewertung vom 24.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


sehr gut

Georg Himmel ist ein besonderer junger Mann mit einer Vorliebe für das Weltall. Dabei interessieren ihn weniger die Planetenkonstellationen als viel mehr was der unendliche Raum noch alles birgt. Sterne, die uns umkreisenden Satelliten, deren Halbwertszeit und natürlich, der Schrott.

Wenn er sich allein fühlt, lauscht er den Schwingen des Beteigeuze, die in seiner Einbauküche lagern, wenn er nervös ist, dem Lichtblitz FRB 121102. Sein Zweifel, seine Person, seine Welt versinkt im Flüstern der Sterne. S. 12

Georg ist der Sohn eines erfolgreichen Einzelhandelskaufmanns, der sich bestens auf Haustürgeschäfte versteht und einer Mutter, die ihre Lehre zur Automechanikerin abgeschlossen hätte, wenn sie nicht mit Sohnemann schwanger geworden wäre. Mitte der Neunziger sind sie nach Bayern gekommen. Zuvor haben sie immer wieder den Wohnort gewechselt und Georg die Schule, die Mitschüler und Freundschaften. Seit seinem Abitur arbeitet Georg als Hausmeister im örtlichen Planetarium.

Sein bester Freund Vedad, den er unter abstrusesten Umständen kennengelernt hat heiratet, und als erstklassiger Trauzeuge hat Georg natürlich eine glänzende Rede vorbereitet. Leider wecken die Unmengen fremder Menschen Georgs Urangst, sich vor den Augen Fremder seltsam zu verhalten und an ihn gerichtete Erwartungen nicht erfüllen zu können. Deshalb kommt Georg, die sowohl unverständliche, wie geheimnisvolle SMS seines Vaters nicht ungelegen. Überraschend bricht Georg auf und stürzt sich ungewollt ins Abenteuer.

Fazit: Die Geschichte ist überraschend unterhaltsam. Ein kunterbuntes kleines Potpourrie an komischen aufeinanderfolgenden Ereignissen. Der Protagonist begibt sich auf einen Roadtrip an dessem Ende er seinen Vater zu finden hofft. Unterwegs hegt er ängstliche Befürchtungen. Verschiedene Situationen und Anekdoten seiner jungen und doch ereignisreichen Vergangenheit fallen ihm ein. Der Autor hat einen jungen Charakter mit Ecken und Kanten geschaffen, dem ich gerne dabei zu gesehen habe, wie er seine Ängste und Unsicherheiten überwindet. Eine feine humorvolle Storry, die ich gerne gelesen habe.