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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 207 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2025
McEwan, Ian

Was wir wissen können


sehr gut

England, im Jahre 2119: Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Riesige Flutwellen haben die Kontinente überschwemmt, Europa besteht aus verschiedenen Inseln, die nur noch zu Wasser erreicht werden können. In der Bodleian-Bibliothek sucht Literaturwissenschaftler Tom Metcalfe nach einem über 100 Jahre verschollenen Gedicht. Im Jahre 2014 hatte der Dichter Francis Blundy dieses Meisterwerk seiner Frau Vivien gewidmet und damals nur einmal vorgetragen und als Unikat auf Pergament verewigt. Als der Bibliothekar ihm bei der Entschlüsselung einer kryptischen Botschaft hilft, scheint Tom dem Ziel näher zu kommen. Doch versteckt sich hinter diesem ominösen Gedicht vielleicht ein ganz anderes Geheimnis?

„Was wir wissen können” ist der neue Roman von Ian McEwan, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben bei Diogenes erschienen ist. Der Autor wagt sich ein paar Jahre nach „Maschinen wie ich” also wieder an ein zukünftiges Thema und entwirft eine Dystopie, die erschreckend real wirkt. Ob Klimakatastrophen oder kriegerische Konflikte - McEwan legt den Finger in die gegenwärtigen Wunden der Welt und nennt die Ereignisse kurz „Disruption”. Dennoch ist „Was wir wissen können” kein hoffnungsloses Buch. Die Liebe zur Literatur hat überlebt, die Menschen bilden sich weiterhin auf Universitäten. Es ist bemerkenswert, wie Ian McEwan dieser Spagat gelingt. Liebevoll platziert er fast nebenbei Kleinigkeiten, die diese neue Welt porträtieren. Orte heißen Maentwrog-under-Sea, die Menschen trinken Eichelkaffee und essen ihren Proteinkuchen. Gelungen ist auch der selbstironische Blick auf die Literaturwelt, besonders komisch in der Szene, als Blundy sein Gedicht vorträgt und jeder Gast seinen ganz eigenen Gedanken nachhängt. Eine gelungene Rolle spielt zudem die Doppeldeutigkeit des Titels auf verschiedenen Ebenen. Was können wir über die Zukunft wissen, aber auch: Welchen historischen Quellen können wir vertrauen? Oder ganz pragmatisch für uns Leser: Welche Erzählstimme ist eigentlich glaubwürdig?

Dass „Was wir wissen können” in erster Linie gar kein dystopischer Roman ist, verdanken die Leserinnen vor allem der zweiten Ebene des Buches. Während Toms Suche nach dem Gedicht schon im ersten Teil erheblichen Raum einnimmt, widmet sich die etwas kürzere letzte Hälfte der 470 Seiten nahezu ausnahmslos den Geschehnissen rund um den mittlerweile Club der toten Dichter von 2014. Denn nicht nur Francis Blundy ist der Literatur verfallen, sondern auch Vivien und viele der Gäste des legendären Abends, als Blundy sein Pergament erstmals entrollte. Dieser literarisch recht drastische Schnitt ist zwar einerseits überraschend, sorgt aber auch dafür, dass man die Welt rund um die vermeintliche Hauptfigur Tom Metcalfe komplett aus den Augen verliert.

Problematisch ist zudem die Figurenkonzeption. Fast alle Charaktere auf beiden Erzählebenen sehen sich mindestens einmal genötigt, einen Ehebruch zu begehen. Eine im Grunde unnötige Vereinheitlichung der Figuren, die lediglich einer eventuellen möglichen Annäherung über die Zeitebenen hinweg dient. Und man muss konstatieren, dass der Roman nicht über die volle Distanz trägt. Gerade im ersten Teil strapaziert Ian McEwan die Nerven der Leser mit äußerst kleinteiligen Erzählschritten und Redundanzen, so dass doch eine gewisse Langeweile einsetzt.

Im Großen und Ganzen ist „Was wir wissen können” eine recht gelungene Mischung aus Dystopie, Liebesroman und literarischem Krimi, der etwas weniger Konstruktion und eine gewisse Straffung allerdings gutgetan hätten.

3,5/5

Bewertung vom 04.11.2025
Hertmans, Stefan

Dius


gut

Kunstdozent Anton staunt nicht schlecht, als Student Egidius de Blaeser, genannt Dius, vor seiner Tür steht und nicht nur um Einlass bittet, sondern auch um die Freundschaft des zehn Jahre älteren Mannes. Dius will Anton ein konzentriertes Arbeiten an seiner Dissertation ermöglichen und bietet ihm deshalb die Chance, in einem Atelier fernab der Stadt daran zu arbeiten. Der Dozent ist überwältigt von der Natur rund um das Gutshaus und überrascht von Dius und dessen seltsamer Aura. Welches Geheimnis verbirgt der Student, wenn er sich allein auf den Dachboden zurückzieht, um sich der Kunst zu widmen?

"Dius" ist der neue Roman von Stefan Hertmans, der in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm bei Diogenes erschienen ist. Genau wie im Vorgängerroman "Der Aufgang" geht es auch in "Dius" um ein bemerkenswertes Gebäude und dessen Ausstrahlung. Doch während Hertmans im "Aufgang" noch autofiktional die bewegte und bewegende Geschichte seines erworbenen Stadthauses erzählte, siedelt er die Geschichte rund um die Männerfreundschaft zwischen Anton und Dius diesmal Anfang der 1980er-Jahre auf dem flämischen Land an.

Positiv ins Auge sticht dabei zunächst die elegante Sprache. Mit elegischer Langsamkeit widmet sich Hertmans der bildhaften Beschreibung von Mensch, Haus und Natur, bei dem der Leser sich fast selbst in einem Gemälde wähnt. "Was bedeutet es eigentlich, poetisch zu leben?", fragt sich Ich-Erzähler Anton zu Beginn des Romans und sein auf den folgenden Seiten dargestellter erster Blick auf das Dorfhaus wirkt beinahe mythologisch. Auch Dius, dessen Name natürlich nicht von ungefähr dem allmächtigen Deus ähnelt, ist nicht nur für Anton ein Faszinosum. "Ich möchte Ihr Freund sein", überrumpelt er Anton und welcher Erwachsene wagt es schon, eine solch unvermittelte Aussage zu treffen. Unangepasst, wild, schön und geheimnisvoll - manchmal glaubt man, eine leicht homoerotische Note in Antons Beschreibungen zu lesen. Man schaut sich noch einmal das schöne Cover des Buches an und seufzt.

Eine große Freude ist zunächst auch der Umgang mit Kunstwerken aller Art. Denn Anton und Dius sind nicht nur selbst Freunde der schönen Künste, auch die Leserin sollte ein grundlegendes Interesse daran haben. Was ist eigentlich das Problem an den Hundedarstellungen des Malers Vittore Carpaccio? Und ist die hochgezogene Leiter zum Dachboden die einzige Gemeinsamkeit zwischen Jacopo da Pontormo und unserem Dius? Man beugt sich interessiert über sein Smartphone und schaut sich die entsprechenden Kunstwerke an. Begleitend dazu lauscht man einem klassischen Soundtrack, denn auch die Musik durchzieht "Dius" über weite Strecken.

Problematisch ist, dass es nur sehr wenige Stellen im Text gibt, die die Handlung und Figuren wirklich voranbringen. Einmal gerät Anton in einen schweren Autounfall, in dessen Folge Dius ihm das Leben rettet. Ein anderes Mal unterläuft einer der beiden Männerfiguren ein schwerwiegender Verrat, der alles auf den Kopf stellen könnte. Tut er aber nicht. Stattdessen ergötzt sich Hertmans zunehmend an intellektuellem Namedropping. Welcher Komponist wurde noch nicht erwähnt? Und welche Eigenheit hatte nochmal jener Maler? Man hat das Smartphone mittlerweile längst weggelegt, ein Klingeln könnte den sanften Schlaf stören, in den man bei der Lektüre zu verfallen droht. Das ist außerordentlich schade, denn sprachlich leuchtet "Dius" weiterhin in den schönsten Farben.

Über die Frauenfiguren müssen wir eigentlich kaum ein Wort verlieren, sie sind nur Beiwerk dieser seltsamen Männerfreundschaft. Anton lässt seine Frau Nouka widerstandslos ziehen, seine Geliebte Lys ist halt seine Geliebte und diese junge Pia scheint die Freundschaft mit ihrem Interesse an Dius auch nur zu stören. Anton wird zudem immer unausstehlicher, sein permanentes Wehklagen überträgt sich unmittelbar auf den Leser, der den Roman irgendwann nur noch beenden möchte. Und dann auch noch auf Seite 198 das Missgeschick "jedem das Seine", vielleicht ein Übersetzungsproblem? Man greift dann doch noch einmal zum Handy und checkt kurz die Anzahl der Seiten: 340. Ist man dann schlussendlich auf den letzten Seiten angekommen, stellt sich eine gewisse Erleichterung ein. Darüber, dass man das Buch zuschlagen kann und natürlich auch darüber, dass das Finale an den guten Beginn anschließt.

2,5/5

Bewertung vom 16.10.2025
Chalandon, Sorj

Herz in der Faust


ausgezeichnet

Belle-Île-en-Mer, eine bretonische Insel, zu Beginn der 1930er-Jahre: In der Jugendanstalt Haute-Bologne herrschen grausame Zustände. Die Kinder und Jugendlichen werden nicht nur von den Aufsehern und Schließern drangsaliert, sondern gehen auch selbst aufeinander los. Immer gibt es einen Schwächeren, den man quälen und misshandeln kann. Der 19-jährige Jules Bonneau, Spitzname "Kröte", steht in der Hierarchie irgendwo in der Mitte. Von den stubenältesten Kapos erfährt er keine Unterstützung, doch anders als viele der anderen Jungen teilt er nicht nur nach unten aus. Freundschaft ist für die Jugendlichen ein Fremdwort, jeder ist sich selbst der Nächste. Nach einem gewaltvollen Aufstand und anschließenden Ausbruch sieht er sich ausgerechnet mit dem vermeintlich schwächsten Jungen Camille Loiseau auf der Flucht. Doch die Heimleitung hat die Jagd auf die Ausbrecher längst eröffnet und den Inselbewohnern zudem ein Kopfgeld versprochen...

"Herz in der Faust" ist der neue Roman von Sorj Chalandon, der in der deutschen Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große bei dtv erschienen ist. Und wie schon der Vorgänger "Verräterkind" ist es ein großartiger Roman geworden, ein literarischer Wutausbruch erster Güte. Vom ersten Moment an gibt Chalandon Rhythmus und Tempo vor. Kurze, kraftvolle Sätze bestimmen das Leben in der Anstalt, Namen und Ränge sind Schall und Rauch. Die Figuren erhalten zwar welche, doch sind sie schnell wieder vergessen in diesem Rausch aus Gewalt und Erniedrigung. Jede Chance auf Individualität ist dahin, wenn man sich nicht durch Kampfnamen wie "Kröte" auszeichnet oder im schlechtesten Fall auch noch mit einem Nachnamen wie Loiseau, das Vögelchen, gezeichnet ist. "Wir sind der Wildwuchs. Die Quecken. Das Ungeziefer", heißt es an einer Stelle.

Nun ist die Lektüre wahrlich keine leichte Kost, drastisch und explizit sind die Darstellungen im Heim. Geschickt spielt Chalandon mit Perspektivwechseln, auf die ich gerade zu Beginn der Lektüre immer wieder hereingefallen bin. Protagonist und Ich-Erzähler Jules schildert nämlich oftmals übergangslos seine Fantasien, die tatsächlich noch härter ausfallen als die Realität. Trotz dieser Härte und Gewalt gelingt es dem Autor, Empathie für seine Hauptfigur zu wecken. Weil man spürt, wie wichtig es ihm ist, das gesellschaftliche und juristische Unrecht der damaligen Zeit aufzuzeigen und anzuprangern. Und weil sich seine eigene Empathie unmittelbar auf mich übertrug. "Herz in der Faust" setzt ganz eindeutig auf Intensität und Emotion, eben auf Herz und Faust. Manchmal fühlte ich mich fast überwältigt von dieser Wut, diesen überbordenden Gefühlen allüberall. Hinzu kommt, dass das Buch unglaublich mitreißend und mit großem Spannungsbogen erzählt ist.

In der zweiten Hälfte des Romans ändert sich der Ton ein wenig, was auch daran liegt, dass Jules erstmals in seinem jungen Leben so etwas wie Mitgefühl und Nächstenliebe erfährt. Chalandon gelingen hier ambivalente Figuren wie Krankenschwester Sophie oder der gerade im Vergleich zur ersten Hälfte wohltuend warmherzige Sardinenfischer Ronan. Jules kann sich ausprobieren und entfalten und passend zu einem Jugendlichen konnte ich nicht jede seiner Handlungen nachvollziehen. Denn nach wie vor befindet sich das Herz in seiner Faust - oder zumindest ein Teil davon. Das Buch stellt hier die richtigen Fragen nach Moral und vermittelt Werte wie Solidarität und Menschlichkeit. Und würde der Roman auf Seite 395 enden und nicht drei Seiten später, könnte man von einem bewegenden und großen Finale sprechen. Dieses bleibt den Leserinnen jedoch vergönnt, weil es sich Chalandon nicht nehmen lässt, der fiktiven Figur einen etwas überflüssigen Epilog auf den Leib zu schreiben.

Ein kleiner Wermutstropfen eines insgesamt erstaunlich intensiven Romans, der lange in Erinnerung bleibt und in Frankreich das bislang erfolgreichste Werk von Sorj Chalandon ist. Und das obwohl - oder weil - er der Grande Nation deutliche historische Missstände vor Augen führt, die durch die politischen Anspielungen der bretonischen und baskischen Figuren und den Umgang mit Minderheiten durchaus auch einen aktuellen Bezug aufweisen. Nachdem ich von den letzten beiden Romanen Chalandons nun gleichermaßen begeistert bin, bedeutet es für mich persönlich wohl, dass ich nicht umhinkommen werde, mich früher oder später auch mit seinen älteren Werken zu befassen.

Bewertung vom 14.10.2025
Heinesen, William

Noatun


ausgezeichnet

Das Leben in Noatun ist hart und beschwerlich. Die Menschen in der neu gegründeten Siedlung auf den Färöer Inseln leben vom Fischfang und von der Ernte. Größere Orte sind entweder nur mit dem Boot oder zu Fuß über die Berge zu erreichen. Doch Angelund, Niels Peter und die anderen sahen in ihrem vorherigen färöischen Kleinstadtleben einfach keine Perspektive mehr und ließen sich auf dem neuen Land nieder. Als ein Steinschlag das Haus von Sara und Halvdan beschädigt, kommen den Siedlern erste Zweifel: War es wirklich die richtige Entscheidung, nach Noatun zu ziehen?

“Noatun” ist das zweite Buch des färöischen Autors William Heinesen (1900 - 1991) nach der Erzählsammlung “Hier wird getanzt!”, das bei Guggolz erschienen ist. Übersetzt wurde der Roman aus dem Dänischen von der leider verstorbenen Inga Meincke und Verena Stössinger. Ergänzt wird die einmal mehr gelungene Ausgabe des Verlags durch ein informatives und einordnendes Nachwort des Skandinavisten Klaus Müller-Wille und einen emotionalen Brief der färöischen Autorin Sólrún Michelsen an Inga Meincke. “Noatun” stammt aus dem Jahre 1938 und wurde bereits 1940 erstmals ins Deutsche übersetzt - allerdings offenbar aus politisch-ideologischen Gründen entscheidend gekürzt.

Nun liegt der Roman also erstmals vollständig auf Deutsch vor. Und bereits der Beginn ist eine einzige Wonne. Wenn die Fallwinde “mit einem wilden, unbändigen Wiehern die Bergpässe herabkommen” oder wenn der Siedlungsälteste Angelund ein Gefauche von den Bergen hört, wähnt man sich als Leser kurz in Maria Borrélys naturalistischem Roman “Mistral”. So lebendig, metaphorisch und emotionsgeladen sind die Naturbeschreibungen auf den ersten Seiten. Auch wenn sich diese Beschreibungen in der Folge nicht so explizit durch das Romangeschehen ziehen wie bei Borrély, tauchen sie doch immer wieder auf und machen allein schon wegen der Sprache aus “Noatun” ein großes literarisches Vergnügen.

Positiv hervorzuheben ist zudem die Figurenzeichnung. William Heinesen verzichtet über weite Strecken auf einen Protagonisten und setzt auf einen Kollektivroman. Das mag zwar eine größere Identifikation der Leserin verhindern, hat aber den Vorteil, dass man ein so umfangreiches, kauziges und überwiegend liebenswertes Personal in der Literatur wohl so schnell kein zweites Mal findet. Da ist beispielsweise Niels Peter, der von Beginn an als eine Art zentrale Instanz von Noatun präsentiert wird und sich im Laufe der Lektüre dann doch zu einer heimlichen Hauptfigur aufschwingt. Bei Niels Peter laufen sämtliche Fäden zusammen, ob im Privatleben oder mit Blick auf die Fischerei und das Bauernleben in beruflicher Hinsicht. Da ist Sinklar, ein Hansdampf in allen Gassen, der sowohl als männliche Hebamme als auch als Schatzsucher etwas taugt. Und da ist Sara, die vielleicht tragischste Figur des Romans, deren Anwesenheit oder Verwandtschaftsgrad offenbar reicht, um den Tod ständig vor Augen zu haben. Nahezu alle Figuren aus “Noatun” leben zudem eine fast unbändige Solidarität vor, was bei ihnen und dem gesamten Roman für hohe Sympathiewerte sorgt. Einer springt für den anderen ein, die Noatun-Leute begegnen sich untereinander überwiegend mit großem Respekt. Gegen alle Widerstände setzt sich diese Gruppe von Außenseitern für sich und ihre neue Heimat ein. Zentrale Themen sind neben der Heimat aber auch der Umgang mit dem Tod, mit Trauer, aber auch mit der Liebe und der Geburt neuer Noatun-Bewohner.

Inhaltlich und vom Aufbau erinnert “Noatun” stark an Knut Hamsuns Literatur-Nobelpreis-Roman “Segen der Erde”. Irgendwo im Norden lassen sich hier wie da Siedler nieder, die Gemeinschaft steht irgendwo zwischen mythologischem Glauben und Moderne. Auch der technologische Fortschritt ist in beiden Romanen ein zentrales Thema. Anders als im “Segen der Erde” spielt ein beträchtlicher Teil von “Noatun” allerdings direkt auf hoher See. Und, vielleicht noch entscheidender, “Noatun” strahlt nicht diese gewisse Strenge aus, die es bei Hamsun gibt. Verantwortlich dafür sind vor allem die Dialoge, die Heinesen einerseits lebensnäher und andererseits immer wieder auch mit viel Witz präsentiert. Erwähnenswert ist hier vor allem die Figur des klassischen Antihelden Ole, dem nichts gelingen will - und der sich mit einem großen, einst in der deutschen Version gekürzten, Knall aus dem Roman verabschiedet.

Dass “Noatun” auf seinen knapp 400 Seiten vor allem auf anekdotisches Erzählen setzt, hat seine Vor- und Nachteile. Der Roman wirkt dadurch sehr abwechslungsreich und unterhaltsam. Andererseits kann nicht jede Episode gleichermaßen überzeugen, so dass sich vor allem im letzten Drittel die ein oder andere Länge einschleicht.

Insgesamt unterstreicht der Guggolz Verlag mit “Noatun” aber einmal mehr eindringlich sein Gespür für unbedingt lesenswerte Klassiker aus Skandinavien. Auf weitere Veröffentlichungen von William Heinesen darf man hoffen.

4,5/5

Bewertung vom 16.09.2025
Tägder, Susanne

Die Farbe des Schattens


ausgezeichnet

Wechtershagen, im Winter 1992: In der Plattenbausiedlung auf dem Mönkeberg verschwindet der elfjährige Matti auf dem Weg zum Einkaufen. Kurz zuvor hatte er sich noch mit seinem Freund Axel unterhalten, im nächsten Moment fehlt von dem Jungen jede Spur. Hauptkommissar Arno Groth startet umgehend eine großangelegte Suchaktion, die jedoch erfolglos bleibt. Hinzu kommt, dass Groth nicht mehr auf seinen kongenialen Partner Gerstacker setzen kann, dem nach dem Aufdecken seiner Stasitätigkeit gekündigt wurde. Für Groth ein denkbar schlechter Zeitpunkt, sich um die frei werdende Leitungsposition zu bewerben...

"Die Farbe des Schattens" ist nach "Das Schweigen des Wassers" der zweite literarische Kriminalroman von Susanne Tägder, der im Tropen-Verlag erschienen ist. Die Handlung spielt einige Monate nach dem Debütband. Tägder entwickelt darin ihre Hauptfigur Arno Groth konsequent weiter. Wie beim Vorgänger orientiert sich die Autorin an realen Kriminalfällen und verknüpft diese zu einer gelungenen Mischung aus Spannung, Authentizität, Melancholie und Emotionen. Leserinnen anspruchsvoller Kriminalliteratur sollten sich von dem etwas zu sehr auf Thriller gepolten Cover nicht abschrecken lassen. Denn schon die voranstehenden Zitate von Uwe Johnson und Friedrich Dürrenmatt zeigen, dass "Die Farbe des Schattens" mehr ist als nur ein schnöder deutscher Krimi.

Wobei diesmal insbesondere Uwe Johnson im Vordergrund steht. Anders als im ersten Band liest Arno Groth nämlich in dessen Werk und nicht mehr Franz Kafka. Was im Vergleich zum tendenziell leicht stärkeren Vorgänger zudem fehlt, ist der Musikbezug. Während die Leserschaft in "Das Schweigen des Wassers" noch von den Puhdys in deren melancholische Welt hineingezogen wurde, ist diesmal nichts Vergleichbares zu erkennen. Dafür ist der Kriminalfall und dessen Aufarbeitung aber gewohnt stark. Zwar muss man zunächst einmal verdauen, dass die Figur Gerstacker nicht mehr dabei ist, doch bietet die Anknüpfung an einen Cold Case sechs Jahre zuvor Groth zumindest die Gelegenheit, seinen ehemaligen Kollegen diesbezüglich zu kontaktieren. In seiner Melancholie und dem Kriminalfall um einen verschwundenen Jungen erinnert "Die Farbe des Schattens" zudem mehr als einmal in positiver Hinsicht an Friedrich Anis Meisterwerk "Ermordung des Glücks".

Tägder schildert die Arbeit der Kriminalpolizei akribisch. Bei den authentisch wirkenden Verhören ist der Leser genauso nah dabei wie bei den Konferenzen der Polizei mit dem neuen Staatsanwalt. Ein großes Plus ist zudem wie gewohnt die Figurenzeichnung. Ob Ermittler, Zeuginnen und Verdächtige; ob Kinder oder Erwachsene - Susanne Tägder trifft mit ihren bemerkenswert ausgefeilten Charakteren stets den richtigen Ton. Äußerst gelungen ist auch die Aktualität des Romans. Obwohl dieser kurz nach der Wende im Jahr 1992 spielt, finden sich - und man muss es wohl bedauern - erstaunlich viele Anknüpfungspunkte an die Gegenwart. Es gibt die Menschen, die sich in Ostdeutschland als Verlierer der Wende empfinden. Es gibt eine zunehmende Radikalisierung der Kinder und Jugendlichen. Es gibt Grundschüler, die auf dem Schulhof rechtsradikale Parolen brüllen und ältere Schüler, die sich Springerstiefel wünschen. Und es gibt mit der Taxifahrerin Ina eine komplexe Frauenfigur, die sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann versteckt. Und ja, all das spielt 1992 - aber es könnte in dieser Hinsicht genauso gut heute spielen.

Mit "Die Farbe des Schattens" bestätigt Susanne Tägder die Qualität ihres Debütromans und beweist, dass es auch einer Frau gelingen kann, das bislang rein maskuline deutschsprachige Krimi-Triumvirat um Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner zu sprengen. Die Vorfreude auf den dritten Band um den empathischen Ermittler Arno Groth ist jedenfalls groß.

Bewertung vom 02.09.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


ausgezeichnet

Ungarn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Baron Sándor von Lázár traut seinen Augen nicht. Dieser hellblonde Junge mit den seltsamen blauen Augen und der durchsichtigen Haut soll sein Sohn sein? Ganz geheuer ist ihm der kleine Lajos jedenfalls nicht. Lieber setzt er ihn zunächst einmal an den Esstisch zu seinem minderbemittelten Bruder Imre. So gehen die Jahre im Waldschloss der adeligen Familie dahin. Lajos wächst im Schatten des ungeliebten Vaters zu einem jungen Mann heran und zieht ins Internat. Irgendwann ist das Kaiserreich Geschichte und der Krieg steht vor der Tür. Und es dauert nicht mehr lange, bis Lajos selbst Verantwortung übernehmen muss. Für das Waldschloss und für die Geschicke der Familie von Lázár...

"Lázár" ist der neue Roman von Nelio Biedermann, der bei Rowohlt Berlin erschienen ist. Es ist sein zweiter Roman nach "Anton will bleiben", der 2023 im Schweizer Arisverlag seine Premiere feierte.

Nun ist es ja immer eine solche Sache mit den Vorschusslorbeeren. Was ist es wert, dass Daniel Kehlmann auf der Rückseites des Buches schreibt, dessen Erscheinen wäre ein "Donnerschlag"? Die "Süddeutsche Zeitung" fragt sich, ob es sich bei dem gerade einmal 22-jährigen Nelio Biedermann um den neuen Thomas Mann handele. Und in der "Zeit" übertitelt mit Adam Soboczynski immerhin einer der angesehensten Literaturkritiker das Porträt des jungen Schweizers mit "Der neue Zauberer". Noch dazu erscheint das Buch in mehr als 20 Ländern und 18 Sprachen. Don't believe the Hype - oder?

Nach der Lektüre stellt man fest: Alles ist wahr! "Lázár" ist schlichtweg fantastisch geworden. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob Sätze wie "Sie sehnte sich nach dem Meer und fürchtete den herannahenden Winter, der wie ein wilder Reiter mit eisiger Klinge aus dem Nordosten auf sie zupreschte" wirklich aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stammen. Oder auch: "Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie." Was wie ein Klassiker anmutet, ist in Wahrheit ein 22-jähriger Schweizer, der mit seiner Sprache völlig aus der Zeit gefallen scheint.

Auf 330 Seiten erzählt Biedermann mit großer Geste und sprachlichem Überschwang von mehr als 50 Jahren des 20. Jahrhunderts, von zwei Weltkriegen, dem Verfall der Monarchie und dem Niedergang einer Familie, die ein bisschen auch seine eigene ist. Schließlich stammen der Autor und seine Familie selbst aus dem ungarischen Adel.

Gerade zu Beginn erinnern Sprache und Motive an ein düsteres Märchen, wie wir es zuletzt vielleicht am ehesten bei Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" kennenlernen durften: das Schloss, der Wald, der noch dazu offenbar von einem seltsamen Waldvolk bewohnt wird, dem ein ganz besonderer an den "Erlkönig" erinnernder Auftritt gelingt. Mit zunehmender Dauer kommen zahlreiche literarische Verweise hinzu. Lajos' verrückt-kluger Onkel Imre erhält nächtlichen Besuch von einem Mann, der ihm ein Buch von E. T. A. Hoffmann aufs Bett legt. In einem Zug treffen die Hauptfiguren Carl Zuckmayer. Der "Tod in Venedig" ist genauso präsent wie Marcel Proust und Virginia Woolf. Und erinnert die Szene, in der Sándor seine Geliebte durch die Stadt verfolgt nicht ein wenig an Knut Hamsuns "Hunger"? Das Besondere ist, dass Nelio Biedermann aus all diesen Verweisen etwas so Originäres und Originelles schafft, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, hier wolle jemand seinen Idolen nacheifern.

Doch, Vorsicht: Wer sich von der Schönheit der Sprache zu sehr einlullen lässt, stolpert womöglich etwas unvermittelt über die ein oder andere Vulgarität. In den adeligen Betten geht es manchmal bis zur Ekelgrenze zur Sache. Eine Figur kotzt der Leserin auch mal vor die Füße. Vielleicht trifft man auch auf Charaktere, denen man lieber nicht begegnet wäre. Dem sich einnässenden Stalin beispielsweise. Oder Caspar, Balthasar und Melker, einer pervertierten Art der Heiligen Drei Könige.

Hervorzuheben ist unbedingt auch noch die formale Besonderheit des Romans. Biedermann bricht schon mal mit der klassischen Erzählstruktur und platziert recht unvermittelt ein Gedicht mitten im Kapitel. Oder er lässt auf knapp zwei Seiten einen einzigen Satz dahinwabern, um eine der wichtigsten Figuren in den Tod zu begleiten. Die Chronologie der Ereignisse hält er auch nicht immer ein. Nicht zu vergessen die Ausflüge auf die Metaebene, bei denen der Schrifsteller schon einmal angeklagt wird, die Privatsphäre seiner Figuren zu missachten und für diese Schicksal zu spielen.

All das fügt sich so wundervoll und ideenreich zusammen, dass man nicht umhinkommt, "Lázár" als Meisterwerk zu bezeichnen. Am Ende stellt sich eigentlich nur noch die Frage, warum dem Roman kein Stammbaum hinzugefügt wurde, um die recht komplexen Familienstrukturen auch mal bildlich vor Augen zu haben. Und warum das Buch nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht. Ganz ehrlich. Believe the Hype!

Bewertung vom 29.08.2025
Perry, Rob

Der Große Gary


gut

Der 18-jährige Benjamin Glass leidet an verschiedenen Phobien. Wenn ein Lieferant ihm Essen bringt, setzt er vorsichtshalber schon einmal den Mundschutz auf. Kontakt zu Tieren meidet er völlig, sie könnten ja Bazillenschleudern sein. Umso ärgerlicher für Benjamin, dass der Windhund, den er am Strand irgendwo an der englischen Küste trifft, ausgerechnet an seiner Hand leckt. Noch dazu, weil der Hund sich zuvor an einem toten Wal zu schaffen gemacht hatte. Da das Tier ihm fortan nicht mehr von der Seite weicht, sieht Benjamin sich gezwungen, es mit nach Hause in den Caravan Park zu nehmen, wo er alleine lebt, seitdem seine Großmutter im Krankenhaus liegt. "Der große Gary", so steht es auf dem teuren Halsband des Hundes, hat offenbar einen Narren an dem jungen Außenseiter gefressen. Doch als klar wird, dass Gary ein äußerst erfolgreicher Rennhund ist, nehmen die Probleme ihren Lauf. Denn Besitzer Alf will auf keinen Fall auf das Geld bringende Tier verzichten, und ihm scheint dabei jedes Mittel recht...

"Der große Gary" ist der Debütroman des englischen Autors Rob Perry, der in der deutschen Übersetzung von Hanna Große bei Dumont erschienen ist. Das Cover des Buches ist wunderbar gewählt, sogar besser als beim englischen Original "Dog". Sogleich möchte man als Leser diesen verletzlich wirkenden Hund in seine Arme schließen. Und so geht es irgendwann natürlich auch Benjamin, das ist von der ersten Zeile an abzusehen. In Gary findet Benjamin einen treuen Gefährten, einen verlässlichen Begleiter in seiner Einsamkeit. Hinzu kommt, dass man unweigerlich an die vielleicht bemerkenswerteste Szene des großartigen "Kriegslicht" von Michael Ondaatje denkt, in der Protagonist Nathaniel eben einen solchen Windhund auf seinen 14-jährigen Armen die Treppen hochträgt. Nun ist Benjamin Glass geringfügig älter, aber irgendwann trägt auch er den Hund. Trotz seiner Phobien. Und trotz seiner Zerbrechlichkeit, die man nicht nur in seinem Nachnamen findet.

Die erste Hälfte des Romans funktioniert ganz wunderbar. Mit Leonard hat die wohl interessanteste Figur des Buches ihren großen Auftritt. Der besagte Essenslieferant teilt Benjamin nämlich erst mit, in welcher Gefahr dieser steckt. Fortan entwickelt sich eine Art Road Novel, in der die beiden Figuren starke Dialoge führen, die eine gelungene Mischung aus Albernheiten und Tiefsinn, aus Philosophie und Blödsinn sind. Dabei können sich sowohl Benjamin als auch die Leserinnen nie ganz sicher sein, ob man diesem Leonard überhaupt trauen kann. Zu ambivalent scheint er mit seiner Geldnot und seinen Andeutungen, doch gleichzeitig strahlt dieser Mann eine melancholische Wärme und Tiefe aus. Rob Perry findet hier nahezu immer die Balance zwischen Witz, Spannung und Emotionen.

Doch nimmt man das durchaus überraschende Finale einmal aus, verliert "Der große Gary" in der zweiten Hälfte der 300 Seiten diese Balance völlig. Fast wirkt es so, als wollte Perry bewusst überdrehen, als wollte er eine Unglaubwürdigkeit durch die nächste noch toppen. Das ist schade, denn die Coming-of-Age-Geschichte zeigt über weite Strecken, welch großes Potenzial in ihr steckt. Insbesondere die Figur Camille, Benjamins Chefin im Supermarkt, zerstört das Gefüge, zerstört vielleicht sogar den Roman. Plötzlich wirken die Dialoge lächerlich und ärgerlich. Wenn diese Camille darüber schwadroniert, ob Gary eventuell der wiedergeborene Großvater Benjamins ist und sich im nächsten Moment todesmutig auf die Hunderennbahn begibt, bleibt kein Auge trocken. Zumindest, wenn man Slapstick-Humor oder Belanglosigkeiten mag. Mich haben diese Auftritte völlig rausgebracht. Und so dauert es bis zum wieder gelungeneren Ende, bis man als Leser zumindest ansatzweise wieder die Warmherzigkeit spürt, mit der "Der große Gary" auf den ersten 100 Seiten noch punkten konnte.

Insgesamt ist "Der große Gary" ein Coming-of-Age-Roman mit gelungenen Männerfiguren, einem liebenswerten Hund, viel Potenzial, aber einer völlig überdrehten und unglaubwürdigen zweiten Hälfte. Wer Windhunde mag, greife lieber doch erst einmal zu "Kriegslicht".

Bewertung vom 24.07.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Als Markus seiner zwölfjährigen Tochter Sofie ein Ticket für das Konzert ihrer Lieblingssängerin in Stuttgart schenkt, ahnt er nicht, dass er damit ihr Todesurteil gesprochen hat. Denn Sofie ist eines der Opfer eines islamistischen Anschlags nach dem Konzert. Wie geht ein Vater mit den Schuldgefühlen um, die ihn nach dem Verlust des einzigen Kindes plagen? Was bedeutet ein solcher Verlust für eine Familie? Und wie kann man überhaupt weiterleben? Darüber schreibt Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman "Eden", erschienen bei Galiani.

Jan Costin Wagner ist ohne Zweifel eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Krimireihe um den pädophilen Ermittler Ben Neven ist wohl so kontrovers und mutig wie derzeit keine andere im Genre. Mit "Eden" bewegt sich Wagner emotional und thematisch eher in Richtung seiner Kurzgeschichtensammlung "Sonnenspiegelung". Denn auch dort geht es um die großen Themen wie Liebe, Trauer, Tod und Schuld.

Wagner setzt in seinem neuen Roman auf eine multiperspektivische Herangehensweise. Hauptfigur ist der hinterbliebene Vater Markus, dessen Perspektive zusammen mit denen von Mutter Kerstin und Schulfreund Tobias ein psychologisch komplexes Bild vom Umgang mit der Trauer zeichnet. Bemerkenswert sind vor allem die Dialoge, die gleichzeitig so wenig wie viel sagen. Wagner deutet an, setzt auf Auslassungen und Satzfragmente, immer wieder stehen drei Pünktchen für das Unsagbare, das Unaussprechliche. Selbst der allwissende Erzähler passt sich dem zeitweise an, weil er selbst nicht aussprechen kann, was nicht sein darf. Es ist erstaunlich, mit welcher Tiefe sich die Emotionen der Figuren nicht nur durch dieses Stilmittel unmittelbar und intensiv auf die Leser übertragen.

Es schmerzt, wenn Markus und Kerstin so mit sich selbst und ihrem Verlust zu kämpfen haben, dass sie sich keinen Trost schenken können. Es schmerzt, wenn Tobias in seiner Trauer allein gelassen wird, weil seine Eltern irgendwo zwischen Alkohol und Arbeitslosigkeit dahindarben. Es ist herzzerreißend, wenn Markus in der leerstehenden Wohnung des Attentäters sitzt und diese für seine verstorbene Tochter anmieten möchte.

Neben den bereits angesprochenen Themen geht es Jan Costin Wagner auch um die Vergänglichkeit und das Ende der Kindheit. Während Tobias beispielsweise dazu gezwungen ist, mit seinen zwölf Jahren erwachsene Aufgaben wie die Pflege von Sofies Grab zu übernehmen, weil kein anderer dazu die Kraft hat, trägt Markus mit seiner Architekturfirma zum Abriss des Freibads bei, in dem er und Kerstin als Jugendliche zueinander fanden. Ganz zu schweigen natürlich vom jähen Ende von Sofies Kindheit. Die vielleicht traurigste Szene überhaupt ist jedoch, als Markus seiner dementen Schwiegermutter Sofies Tod verheimlicht, um diese in ihren letzten Tagen dem Schmerz nicht aussetzen zu wollen. Eher am Rande geht es zudem um die politischen Auswirkungen des Attentats, beispielsweise wenn Markus gemeinsam mit der Vorsitzenden einer rechtsgerichteten Partei an einer Talkshow teilnimmt. Oder wenn Tobias' Vater immer stärker nach rechts driftet und damit seine wenigen Freundschaften aufs Spiel setzt.

Bei aller Traurigkeit ist "Eden" dennoch kein ausschließlich düsteres Buch geworden. Immer wieder schimmert Warmherzigkeit durch, Liebe - und Hoffnung. Denn in der gemeinsamen Trauer bilden sich neue Verbindungen, neue Aussprachen und Chancen. Hier berührt insbesondere die Figur Tobias, die moralisch und emotional wächst und den Roman praktisch überstrahlt.

So ist "Eden" insgesamt ein funkelndes Juwel der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dem es gelingt, die Leserschaft auf ganz verschiedenen Ebenen zu berühren und zum Nachdenken zu bewegen - ein abermals großer Wurf von Jan Costin Wagner.

Bewertung vom 16.07.2025
Morton-Thomas, Sophie

Das Nest


ausgezeichnet

In einem Dorf an der englischen Ostküste betreibt Fran gemeinsam mit ihrem Mann Dom eine Wohnwagensiedlung, doch im Winter bleiben die Touristen eher aus. Umso mehr Zeit hat sie, ihrer eigentlichen Leidenschaft nachzugehen: der Beobachtung von Vögeln im Marschland. Vor allem die seltene Zwergseeschwalbe hat es ihr angetan. Als in der Nähe eine Gruppe von Roma ihr Lager aufschlägt, scheint es mit der winterlichen Ruhe jedoch vorbei zu sein. Spätestens als die Lehrerin ihres Sohnes Bruno vermisst wird, beginnen die Leute zu reden. Und ist es tatsächlich nur Zufall, dass zeitgleich auch ihr alkoholabhängiger Schwager Ellis wie vom Erdboden verschluckt ist?

"Das Nest" ist der zweite Roman von Sophie Morton-Thomas, dessen Originaltitel "Bird Spotting in a Small Town" lautet. In der deutschen Übersetzung von Lea Dunkel ist er bei Pendragon erschienen. Einmal mehr beweist der kleine Bielefelder Verlag damit sein Gespür für besondere, anspruchsvolle Genreliteratur. Schon die Übersetzung des Titels ist hervorragend, fasst er mit dem "Nest" die Vogelthematik und die "Small Town"-Bezeichnung doch genial in einem Begriff zusammen. Nicht zu Unrecht ist der Roman im letzten Monat in die renommierte monatliche Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur aufgenommen worden. Doch, Vorsicht: Wer einen klassischen Krimi erwartet, könnte vielleicht enttäuscht werden.

Denn tatsächlich bietet Sophie Morton-Thomas' Werk mehr als einen schnöden Kriminalroman. Fast schon elegisch langsam ist das Erzähltempo in der ersten Hälfte des Buches. In wechselnden Perspektiven erzählen Fran und Tad, ein Rom, von ihren Beobachtungen, ihren Erlebnissen und Gefühlen. Jeder Blick, jede Geste wird gedeutet, immer wieder ergeben sich unterschiedliche Figurenkonstellationen. Durch die genauen Schilderungen bilden sich nach und nach Psychogramme der einzelnen Figuren, wobei die beiden Erzählstimmen und ihre Andeutungen mit größter Vorsicht zu genießen sind.

Das Besondere ist, dass es Morton-Thomas gelingt, eine unterschwellige Spannung zu kreieren, eine höchst bedrohliche Atmosphäre - obwohl zunächst so gut wie gar nichts passiert. Dazu trägt einerseits die seltsame Anspannung der Figuren bei, vor allem aber das wirklich wunderbar ausgewählte und beschriebene Setting. Die raue Küstenlandschaft, das Bangen um das irgendwann auftauchende Nest der seltenen Zwergseeschwalbe: All das schildert die Autorin in ruhigen melancholischen Bildern größtmöglicher Intensität, die ein wenig an Delia Owens' "Gesang der Flusskrebse" erinnern mögen. "Selbst der lauteste Teil der Traurigkeit wird übertönt von meinen klappernden Zähnen und dem eisigen Wind, dem ich nicht entkommen kann", heißt es beispielsweise an einer Stelle. Und genauso wenig entkommt man als Leser diesem Roman, dieser merkwürdigen Protagonistin, die die Vögel mehr zu lieben scheint als die Menschen.

Ein weiteres zentrales Thema des Romans ist die Mutterschaft. Mit zunehmender Dauer entpuppt sich Fran als spröde, lieblose Mutter, die mit dem zehnjährigen Sohn Bruno nichts anzufangen weiß. Immer wieder scheint ihre Unzufriedenheit durch, Fußballspiele des Jungen werden schon mal verpasst und warum schlurft Bruno eigentlich immer als Letzter aus dem Unterricht? Da blickt Fran lieber auf die vernachlässigt wirkende Nichte Sadie, die mit dem bereits erwähnten Ellis und ihrer Mutter Ros derzeit kostenlos in einem der Mobilheime lebt. Und natürlich schaut Fran wie gebannt auf die Zwergseeschwalbenmutter und ihr Nest. Bei der zweiten Erzählstimme Tad ist es die fehlende Mutter, die den Roman prägt. Nach dem Tod seiner Frau ist Tad nämlich dazu gezwungen, die geistig beeinträchtigte Tochter Jade allein großzuziehen und höchstens einmal Hilfe von seinem deutlich jüngeren Bruder Charlie bei der Erziehung zu bekommen.

Morton-Thomas setzt auf ein buntes und vielfältiges Personal, dessen zwischenmenschliche Beziehungen und Begegnungen einen großen Teil des Charmes von "Das Nest" ausmacht. Erst in der zweiten Hälfte erhält der Roman den Charakter eines Krimis, als es die beiden Vermisstenfälle zu lösen gibt. Und man könnte das Buch auf Seite 280 zuschlagen und hätte einen wirklich hervorragenden Roman gelesen. Doch leider verheddert sich Morton-Thomas auf den letzten 20 Seiten und bietet eine dermaßen konstruierte Auflösung des Kriminalfalls an, dass man das Buch in erster Instanz etwas verärgert zuschlägt.

Reflektiert man jedoch noch einmal die kompletten 300 Seiten, muss man konstatieren, dass "Das Nest" letztlich eine äußerst gelungene, atmosphärisch gediegene Mischung aus Psychogramm und Krimi geworden ist, bei der die Autorin ständig die Erwartungen der Leserschaft bricht und sich nicht um Genrekonventionen schert.

4,5/5

Bewertung vom 24.06.2025
Johnston, Bret Anthony

We Burn Daylight


gut

Waco, 1993: Sektenführer Perry Cullen, genannt "Lamb", hat seine Jünger schon lange gewarnt: Das Jüngste Gericht steht bevor. Während vor seiner Farm das FBI aufmarschiert, bewaffnet Lamb die Seinen bis an die Zähne, um die finale Schlacht, wie in der Offenbarung des Johannes vorhergesagt, für sich zu entscheiden. Draußen verfolgt der 14-jährige Roy, Sohn des Sheriffs, die Aktionen rund um die Farm mit besonderem Interesse. Schließlich ist nicht nur sein Vater involviert, sondern auch seine gleichaltrige Freundin Jaye, deren Mutter eine der neuesten Anhängerinnen des Lamms ist....

"We Burn Daylight" ist der neue Roman von Bret Anthony Johnston, der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sylvia Spatz bei C. H. Beck erschienen ist. Johnston vereint darin tatsächliche Vorkommnisse aus dem Jahre 1993 mit einer fiktiven Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen Jaye und Roy. Im texanischen Waco versammelte David Koresh vor gut 30 Jahren seine "Branch Davidians" und sah sich 51 Tage lang einer Belagerung durch das FBI ausgesetzt, nachdem sich die schwer bewaffnete Sekte kurz zuvor mit Waffengewalt gegen eine geplante Razzia wehrte. Nur neun der 85 Sektenmitglieder überlebten das Drama, das zu einem weltweiten medialen Ereignis wurde.

Bereits der Titel unterstreicht die Ambitionen des Autors, bezieht er sich doch auf ein Zitat aus William Shakespeares "Romeo und Julia". Gemeint damit ist, dass in einer dringlichen Situation Zeit verschwendet wird, was man wiederum auf die Lage von Roy und Jaye beziehen kann, die aufgrund der gesellschaftlichen Trennung - hier die Sekte, dort die konservative Familie des Sheriffs - einfach nicht zueinander finden. Damit auch der letzte Leser versteht, dass es sich bei dem Buch um eine "moderne Romeo-und-Julia-Geschichte" handeln soll, erhalten die beiden Hauptfiguren also wenig subtil Namen mit denselben Anfangsbuchstaben. Wobei der Vergleich ein wenig hinkt, denn die Beziehung der beiden Jugendlichen wird eigentlich nur von Lamb mit Argwohn betrachtet, da Johnston ihm andichtet, selbst Interesse an dem Mädchen zu haben.

Seine Stärken hat "We Burn Daylight" vor allem zu Beginn. Bret Anthony Johnston startet mit einer ebenfalls an Koresh erinnernden Radioansprache des Sektenführers und wechselt multiperspektivisch zwischen Roy und Jaye hin und her, wobei er immer wieder Stücke eines 30 Jahre nach den Ereignissen veröffentlichten Podcasts einfließen lässt. Das ist formal durchaus aufregend und abwechslungsreich, verliert aber mit zunehmender Dauer seinen Reiz. Die Podcast-Beiträge werden nämlich zu häufig und auch zu wild durcheinander gewürfelt eingeschoben, so dass man ein wenig Mühe hat, die einzelnen Zeitzeuginnen auseinanderzuhalten. Zudem wiederholt sich vieles und wird dadurch redundant. Ohnehin krankt "We Burn Daylight" an seinem Umfang von fast 500 Seiten, da nicht über die volle Distanz die Spannung aufrechterhalten wird.

Ähnlich wie in seinem Erfolgsroman "Justins Heimkehr" von 2016 nimmt Johnston auch diesmal die Perspektive jugendlicher Hauptfiguren ein. Dies gelingt ihm jedoch nur teilweise ansprechend. Während die Figuren einzeln jeweils zu überzeugen wissen, wird es bei deren Zusammentreffen zum Teil unglaubwürdig. Die innerlich unsichere Jaye präsentiert sich viel zu erwachsen und denkt schon an Hochzeit und Roy nimmt die erste Liebe äußerlich gleichmütig mit großem Interesse an Küssen hin. Hier wirken die beiden viel zu gefestigt.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption nicht immer gelungen. Allen voran Lamb gleicht eher einer Witzfigur, einem stumpfsinnigen Hanswurst, so dass nicht klar wird, was überhaupt das Charisma dieses Gurus ausmacht. Die gelungenste Figur überhaupt ist Roys bester Freund Coop, der die Sorgen und Nöte eines amerikanischen Jugendlichen viel besser repräsentiert als die Protagonisten. Umso trauriger ist, dass sowohl der Autor als auch die anderen Figuren diesen treuen Freund und Gefährten verraten, ohne näher auf die Details eingehen zu können.

Gelungen - und gleichzeitig erschreckend - ist, wie aktuell "We Burn Daylight" wirkt, obwohl der Roman ja überwiegend 1993 spielt. Da sind die Diskussionen um Waffenbesitz, da ist das unreflektierte Folgen von Verschwörungstheorien oder auch, wie weit Medien gehen dürfen. Ebenfalls stark ist, dass Bret Anthony Johnston die Anhänger des Kults nicht per se verurteilt, sondern genauso ambivalent darstellt wie den Einsatz der Behörden. Da kann das Finale leider nicht mithalten, in dem nur noch ein wenig lieb- und einfallslos über die Geschehnisse nach der Belagerung berichtet wird.

Insgesamt ist "We Burn Daylight" eine ambitionierte, aber nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Liebesroman, Sektendrama und Krimi, die jedoch nicht die Tiefe ähnlicher Romane wie beispielsweise Emma Clines "The Girls" erreicht.

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