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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Als Markus seiner zwölfjährigen Tochter Sofie ein Ticket für das Konzert ihrer Lieblingssängerin in Stuttgart schenkt, ahnt er nicht, dass er damit ihr Todesurteil gesprochen hat. Denn Sofie ist eines der Opfer eines islamistischen Anschlags nach dem Konzert. Wie geht ein Vater mit den Schuldgefühlen um, die ihn nach dem Verlust des einzigen Kindes plagen? Was bedeutet ein solcher Verlust für eine Familie? Und wie kann man überhaupt weiterleben? Darüber schreibt Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman "Eden", erschienen bei Galiani.

Jan Costin Wagner ist ohne Zweifel eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Krimireihe um den pädophilen Ermittler Ben Neven ist wohl so kontrovers und mutig wie derzeit keine andere im Genre. Mit "Eden" bewegt sich Wagner emotional und thematisch eher in Richtung seiner Kurzgeschichtensammlung "Sonnenspiegelung". Denn auch dort geht es um die großen Themen wie Liebe, Trauer, Tod und Schuld.

Wagner setzt in seinem neuen Roman auf eine multiperspektivische Herangehensweise. Hauptfigur ist der hinterbliebene Vater Markus, dessen Perspektive zusammen mit denen von Mutter Kerstin und Schulfreund Tobias ein psychologisch komplexes Bild vom Umgang mit der Trauer zeichnet. Bemerkenswert sind vor allem die Dialoge, die gleichzeitig so wenig wie viel sagen. Wagner deutet an, setzt auf Auslassungen und Satzfragmente, immer wieder stehen drei Pünktchen für das Unsagbare, das Unaussprechliche. Selbst der allwissende Erzähler passt sich dem zeitweise an, weil er selbst nicht aussprechen kann, was nicht sein darf. Es ist erstaunlich, mit welcher Tiefe sich die Emotionen der Figuren nicht nur durch dieses Stilmittel unmittelbar und intensiv auf die Leser übertragen.

Es schmerzt, wenn Markus und Kerstin so mit sich selbst und ihrem Verlust zu kämpfen haben, dass sie sich keinen Trost schenken können. Es schmerzt, wenn Tobias in seiner Trauer allein gelassen wird, weil seine Eltern irgendwo zwischen Alkohol und Arbeitslosigkeit dahindarben. Es ist herzzerreißend, wenn Markus in der leerstehenden Wohnung des Attentäters sitzt und diese für seine verstorbene Tochter anmieten möchte.

Neben den bereits angesprochenen Themen geht es Jan Costin Wagner auch um die Vergänglichkeit und das Ende der Kindheit. Während Tobias beispielsweise dazu gezwungen ist, mit seinen zwölf Jahren erwachsene Aufgaben wie die Pflege von Sofies Grab zu übernehmen, weil kein anderer dazu die Kraft hat, trägt Markus mit seiner Architekturfirma zum Abriss des Freibads bei, in dem er und Kerstin als Jugendliche zueinander fanden. Ganz zu schweigen natürlich vom jähen Ende von Sofies Kindheit. Die vielleicht traurigste Szene überhaupt ist jedoch, als Markus seiner dementen Schwiegermutter Sofies Tod verheimlicht, um diese in ihren letzten Tagen dem Schmerz nicht aussetzen zu wollen. Eher am Rande geht es zudem um die politischen Auswirkungen des Attentats, beispielsweise wenn Markus gemeinsam mit der Vorsitzenden einer rechtsgerichteten Partei an einer Talkshow teilnimmt. Oder wenn Tobias' Vater immer stärker nach rechts driftet und damit seine wenigen Freundschaften aufs Spiel setzt.

Bei aller Traurigkeit ist "Eden" dennoch kein ausschließlich düsteres Buch geworden. Immer wieder schimmert Warmherzigkeit durch, Liebe - und Hoffnung. Denn in der gemeinsamen Trauer bilden sich neue Verbindungen, neue Aussprachen und Chancen. Hier berührt insbesondere die Figur Tobias, die moralisch und emotional wächst und den Roman praktisch überstrahlt.

So ist "Eden" insgesamt ein funkelndes Juwel der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dem es gelingt, die Leserschaft auf ganz verschiedenen Ebenen zu berühren und zum Nachdenken zu bewegen - ein abermals großer Wurf von Jan Costin Wagner.

Bewertung vom 16.07.2025
Morton-Thomas, Sophie

Das Nest


ausgezeichnet

In einem Dorf an der englischen Ostküste betreibt Fran gemeinsam mit ihrem Mann Dom eine Wohnwagensiedlung, doch im Winter bleiben die Touristen eher aus. Umso mehr Zeit hat sie, ihrer eigentlichen Leidenschaft nachzugehen: der Beobachtung von Vögeln im Marschland. Vor allem die seltene Zwergseeschwalbe hat es ihr angetan. Als in der Nähe eine Gruppe von Roma ihr Lager aufschlägt, scheint es mit der winterlichen Ruhe jedoch vorbei zu sein. Spätestens als die Lehrerin ihres Sohnes Bruno vermisst wird, beginnen die Leute zu reden. Und ist es tatsächlich nur Zufall, dass zeitgleich auch ihr alkoholabhängiger Schwager Ellis wie vom Erdboden verschluckt ist?

"Das Nest" ist der zweite Roman von Sophie Morton-Thomas, dessen Originaltitel "Bird Spotting in a Small Town" lautet. In der deutschen Übersetzung von Lea Dunkel ist er bei Pendragon erschienen. Einmal mehr beweist der kleine Bielefelder Verlag damit sein Gespür für besondere, anspruchsvolle Genreliteratur. Schon die Übersetzung des Titels ist hervorragend, fasst er mit dem "Nest" die Vogelthematik und die "Small Town"-Bezeichnung doch genial in einem Begriff zusammen. Nicht zu Unrecht ist der Roman im letzten Monat in die renommierte monatliche Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur aufgenommen worden. Doch, Vorsicht: Wer einen klassischen Krimi erwartet, könnte vielleicht enttäuscht werden.

Denn tatsächlich bietet Sophie Morton-Thomas' Werk mehr als einen schnöden Kriminalroman. Fast schon elegisch langsam ist das Erzähltempo in der ersten Hälfte des Buches. In wechselnden Perspektiven erzählen Fran und Tad, ein Rom, von ihren Beobachtungen, ihren Erlebnissen und Gefühlen. Jeder Blick, jede Geste wird gedeutet, immer wieder ergeben sich unterschiedliche Figurenkonstellationen. Durch die genauen Schilderungen bilden sich nach und nach Psychogramme der einzelnen Figuren, wobei die beiden Erzählstimmen und ihre Andeutungen mit größter Vorsicht zu genießen sind.

Das Besondere ist, dass es Morton-Thomas gelingt, eine unterschwellige Spannung zu kreieren, eine höchst bedrohliche Atmosphäre - obwohl zunächst so gut wie gar nichts passiert. Dazu trägt einerseits die seltsame Anspannung der Figuren bei, vor allem aber das wirklich wunderbar ausgewählte und beschriebene Setting. Die raue Küstenlandschaft, das Bangen um das irgendwann auftauchende Nest der seltenen Zwergseeschwalbe: All das schildert die Autorin in ruhigen melancholischen Bildern größtmöglicher Intensität, die ein wenig an Delia Owens' "Gesang der Flusskrebse" erinnern mögen. "Selbst der lauteste Teil der Traurigkeit wird übertönt von meinen klappernden Zähnen und dem eisigen Wind, dem ich nicht entkommen kann", heißt es beispielsweise an einer Stelle. Und genauso wenig entkommt man als Leser diesem Roman, dieser merkwürdigen Protagonistin, die die Vögel mehr zu lieben scheint als die Menschen.

Ein weiteres zentrales Thema des Romans ist die Mutterschaft. Mit zunehmender Dauer entpuppt sich Fran als spröde, lieblose Mutter, die mit dem zehnjährigen Sohn Bruno nichts anzufangen weiß. Immer wieder scheint ihre Unzufriedenheit durch, Fußballspiele des Jungen werden schon mal verpasst und warum schlurft Bruno eigentlich immer als Letzter aus dem Unterricht? Da blickt Fran lieber auf die vernachlässigt wirkende Nichte Sadie, die mit dem bereits erwähnten Ellis und ihrer Mutter Ros derzeit kostenlos in einem der Mobilheime lebt. Und natürlich schaut Fran wie gebannt auf die Zwergseeschwalbenmutter und ihr Nest. Bei der zweiten Erzählstimme Tad ist es die fehlende Mutter, die den Roman prägt. Nach dem Tod seiner Frau ist Tad nämlich dazu gezwungen, die geistig beeinträchtigte Tochter Jade allein großzuziehen und höchstens einmal Hilfe von seinem deutlich jüngeren Bruder Charlie bei der Erziehung zu bekommen.

Morton-Thomas setzt auf ein buntes und vielfältiges Personal, dessen zwischenmenschliche Beziehungen und Begegnungen einen großen Teil des Charmes von "Das Nest" ausmacht. Erst in der zweiten Hälfte erhält der Roman den Charakter eines Krimis, als es die beiden Vermisstenfälle zu lösen gibt. Und man könnte das Buch auf Seite 280 zuschlagen und hätte einen wirklich hervorragenden Roman gelesen. Doch leider verheddert sich Morton-Thomas auf den letzten 20 Seiten und bietet eine dermaßen konstruierte Auflösung des Kriminalfalls an, dass man das Buch in erster Instanz etwas verärgert zuschlägt.

Reflektiert man jedoch noch einmal die kompletten 300 Seiten, muss man konstatieren, dass "Das Nest" letztlich eine äußerst gelungene, atmosphärisch gediegene Mischung aus Psychogramm und Krimi geworden ist, bei der die Autorin ständig die Erwartungen der Leserschaft bricht und sich nicht um Genrekonventionen schert.

4,5/5

Bewertung vom 24.06.2025
Johnston, Bret Anthony

We Burn Daylight


gut

Waco, 1993: Sektenführer Perry Cullen, genannt "Lamb", hat seine Jünger schon lange gewarnt: Das Jüngste Gericht steht bevor. Während vor seiner Farm das FBI aufmarschiert, bewaffnet Lamb die Seinen bis an die Zähne, um die finale Schlacht, wie in der Offenbarung des Johannes vorhergesagt, für sich zu entscheiden. Draußen verfolgt der 14-jährige Roy, Sohn des Sheriffs, die Aktionen rund um die Farm mit besonderem Interesse. Schließlich ist nicht nur sein Vater involviert, sondern auch seine gleichaltrige Freundin Jaye, deren Mutter eine der neuesten Anhängerinnen des Lamms ist....

"We Burn Daylight" ist der neue Roman von Bret Anthony Johnston, der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sylvia Spatz bei C. H. Beck erschienen ist. Johnston vereint darin tatsächliche Vorkommnisse aus dem Jahre 1993 mit einer fiktiven Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen Jaye und Roy. Im texanischen Waco versammelte David Koresh vor gut 30 Jahren seine "Branch Davidians" und sah sich 51 Tage lang einer Belagerung durch das FBI ausgesetzt, nachdem sich die schwer bewaffnete Sekte kurz zuvor mit Waffengewalt gegen eine geplante Razzia wehrte. Nur neun der 85 Sektenmitglieder überlebten das Drama, das zu einem weltweiten medialen Ereignis wurde.

Bereits der Titel unterstreicht die Ambitionen des Autors, bezieht er sich doch auf ein Zitat aus William Shakespeares "Romeo und Julia". Gemeint damit ist, dass in einer dringlichen Situation Zeit verschwendet wird, was man wiederum auf die Lage von Roy und Jaye beziehen kann, die aufgrund der gesellschaftlichen Trennung - hier die Sekte, dort die konservative Familie des Sheriffs - einfach nicht zueinander finden. Damit auch der letzte Leser versteht, dass es sich bei dem Buch um eine "moderne Romeo-und-Julia-Geschichte" handeln soll, erhalten die beiden Hauptfiguren also wenig subtil Namen mit denselben Anfangsbuchstaben. Wobei der Vergleich ein wenig hinkt, denn die Beziehung der beiden Jugendlichen wird eigentlich nur von Lamb mit Argwohn betrachtet, da Johnston ihm andichtet, selbst Interesse an dem Mädchen zu haben.

Seine Stärken hat "We Burn Daylight" vor allem zu Beginn. Bret Anthony Johnston startet mit einer ebenfalls an Koresh erinnernden Radioansprache des Sektenführers und wechselt multiperspektivisch zwischen Roy und Jaye hin und her, wobei er immer wieder Stücke eines 30 Jahre nach den Ereignissen veröffentlichten Podcasts einfließen lässt. Das ist formal durchaus aufregend und abwechslungsreich, verliert aber mit zunehmender Dauer seinen Reiz. Die Podcast-Beiträge werden nämlich zu häufig und auch zu wild durcheinander gewürfelt eingeschoben, so dass man ein wenig Mühe hat, die einzelnen Zeitzeuginnen auseinanderzuhalten. Zudem wiederholt sich vieles und wird dadurch redundant. Ohnehin krankt "We Burn Daylight" an seinem Umfang von fast 500 Seiten, da nicht über die volle Distanz die Spannung aufrechterhalten wird.

Ähnlich wie in seinem Erfolgsroman "Justins Heimkehr" von 2016 nimmt Johnston auch diesmal die Perspektive jugendlicher Hauptfiguren ein. Dies gelingt ihm jedoch nur teilweise ansprechend. Während die Figuren einzeln jeweils zu überzeugen wissen, wird es bei deren Zusammentreffen zum Teil unglaubwürdig. Die innerlich unsichere Jaye präsentiert sich viel zu erwachsen und denkt schon an Hochzeit und Roy nimmt die erste Liebe äußerlich gleichmütig mit großem Interesse an Küssen hin. Hier wirken die beiden viel zu gefestigt.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption nicht immer gelungen. Allen voran Lamb gleicht eher einer Witzfigur, einem stumpfsinnigen Hanswurst, so dass nicht klar wird, was überhaupt das Charisma dieses Gurus ausmacht. Die gelungenste Figur überhaupt ist Roys bester Freund Coop, der die Sorgen und Nöte eines amerikanischen Jugendlichen viel besser repräsentiert als die Protagonisten. Umso trauriger ist, dass sowohl der Autor als auch die anderen Figuren diesen treuen Freund und Gefährten verraten, ohne näher auf die Details eingehen zu können.

Gelungen - und gleichzeitig erschreckend - ist, wie aktuell "We Burn Daylight" wirkt, obwohl der Roman ja überwiegend 1993 spielt. Da sind die Diskussionen um Waffenbesitz, da ist das unreflektierte Folgen von Verschwörungstheorien oder auch, wie weit Medien gehen dürfen. Ebenfalls stark ist, dass Bret Anthony Johnston die Anhänger des Kults nicht per se verurteilt, sondern genauso ambivalent darstellt wie den Einsatz der Behörden. Da kann das Finale leider nicht mithalten, in dem nur noch ein wenig lieb- und einfallslos über die Geschehnisse nach der Belagerung berichtet wird.

Insgesamt ist "We Burn Daylight" eine ambitionierte, aber nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Liebesroman, Sektendrama und Krimi, die jedoch nicht die Tiefe ähnlicher Romane wie beispielsweise Emma Clines "The Girls" erreicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.06.2025
Manawatu, Becky

Aue


ausgezeichnet

Nach dem Tod der Eltern lässt Taukiri seinen achtjährigen Bruder Ari bei Tante und Onkel im Süden zurück und flieht auf die Nordinsel Neuseelands. Während Ari unter den Gewaltausbrüchen seines Onkels Stu zu leiden hat, aber immerhin eine tiefe Freundschaft mit der gleichaltrigen Nachbarin Beth schließt, gerät Tauk immer tiefer in einen Strudel aus Drogen und Kriminalität, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Erst als er neue Details über die tragische Geschichte seiner Familie erfährt, kommt er langsam aber sicher zur Besinnung und meldet sich telefonisch bei seinem kleinen Bruder. Wird es ein Wiedersehen geben?

"Auē" bedeutet auf Te Reo Māori so viel wie "weinen" oder "klagen" oder bezeichnet einen Ausdruck des Erstaunens oder der Verzweiflung. Es kommt nicht von ungefähr, dass Becky Manawatu ihren Debütroman genau so und nicht anders benannt hat. Denn "Auē" erstaunt einerseits durch seine gelungene Mischung aus höchst emotionalem Familiendrama und harter Gangsterballade und beinhaltet auf der anderen Seite so viel Verzweiflung und Schmerz, dass kein Leser davon unberührt bleiben sollte. Erschienen ist der gut 450 Seiten starke Roman in der deutschen Übersetzung aus dem neuseeländischen Englisch von Jana Grohnert im Alfred Kröner Verlag.

Manawatu setzt auf eine multiperspektivische Herangehensweise und präsentiert der Leserschaft fast abwechselnd die Sichtweisen und Erlebnisse der beiden Brüder Ari und Tauk, der sich bald mit Tauks leiblicher Mutter Jade eine dritte Perspektive hinzugesellt. Viel später gibt es mit Aris leiblicher Mutter Aroha noch eine vierte Perspektive, die sich als besonders poetisch erweist. Denn Aroha tritt als Geist auf und weht wie ein Wind zwischen den Brüdern hin und her und kommentiert die Geschichte. Die Multiperspektivität sorgt einerseits für Spannung, andererseits erweckt Manawatu damit Empathie für alle Figuren, die erstaunlich ambivalent geraten sind. Selbst in der vermeintlich bösesten Nebenfigur gibt es ein Körnchen Gutes zu entdecken, so dass der Verdacht von Schwarz-Weiß-Malerei gar nicht erst aufkommt. Vor allem dem kleinen Ari begegnet die Autorin mit fast überbordender Empathie, die die Herzen der Leserinnen anrührt. So verwundert es nicht, dass sie "Auē" ihrem Cousin Glen Bo Duggan widmet, der im Alter von zehn Jahren 1994 von seinem Stiefvater ermordet wurde.

Eine weitere positive Überraschung ist die Sprache. Diese überzeugt nicht nur durch die immer wieder auftauchenden und im Glossar ausführlich erklärten Begriffe aus dem Te Reo Māori, sondern vor allem in ihrer Mischung aus zärtlicher Poesie und ungewöhnlich explizit geschilderten Szenen der Brutalität, die bisweilen an einen Hard Boiled-Krimi ohne Ermittler erinnern. Diese sind bisweilen kaum aushaltbar, passen aber zur ständig schwankenden Stimmung des Buches. Sehr gelungen ist auch, wie Manawatu zentrale Themen wie (fehlende) Eltern, Schuld und gewalttätige Männer zu einer runden Mischung zusammenfügt.

Jüngst schaffte der Roman den Einstieg in die monatliche renommierte Krimi-Bestenliste, doch "Auē" ist tatsächlich mehr als ein Krimi. Nach dem ebenfalls hervorragenden "Kerbholz" von Carl Nixon ist es schon der zweite neuseeländische Roman innerhalb kürzester Zeit, der sich nicht um Genregrenzen schert und zeigt, wie aufregend und anders Gegenwartsliteratur sein kann.

Bewertung vom 02.06.2025
Heine, Matthias

Verbrannte Wörter


sehr gut

Haben Sie am Wochenende wieder einen Eintopf gekocht und sich gefragt, ob Sie damit eventuell ein braunes Süppchen zu sich genommen haben? Oder haben Sie einen Tag zuvor den Mädels der deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft zugejubelt und beim deutlichen 4:0 gegen die Niederlande etwas übermütig "Sieg" skandiert? Beim Buchstabieren sagen Sie natürlich nicht "S wie Sieg", sondern ganz klar "S wie Siegfried" - oder nicht? Sind Sie jetzt etwa über die Begriffe "Sieg" und "braun" gestolpert, aber nicht über "Siegfried", "Mädels" und "Eintopf"? Dann ist "Verbrannte Wörter" von Matthias Heine genau das richtige Buch für Sie!

Kürzlich ist im Dudenverlag die zweite aktualisierte und erweiterte Auflage des erstmals 2019 veröffentlichten Werkes erschienen. Heine begründet die neue Version damit, dass sich das Buch zu einer Art Standardwerk entwickelt habe und auch Sprache etwas Lebendiges ist, was sich stets weiter- oder eben zurückentwickelt. Der Aufstieg der AfD in den letzten Jahren hat dazu beigetragen, dass Parolen wie "Alles für Deutschland" plötzlich wieder von aktuellem Interesse sind. Die aktualisierte Auflage ist also ohne Zweifel eine sinnvolle Veröffentlichung.

In einer längeren Einführung stellt Heine zunächst die Frage, ob es so etwas wie eine NS-Sprache überhaupt gab und analysiert auf den folgenden 250 Seiten in klassischer Wörterbuchmanier von A wie "Absetzbewegung" bis Z wie "zersetzen" , wo der sprachliche Einfluss des Nationalsozialismus auch heute noch zu finden ist und wo nicht, obwohl man es auf den ersten Blick denken könnte. Dabei gelingt es dem Autoren, sein hintergründiges Fachwissen sprachlich so zugänglich zu präsentieren, dass "Verbrannte Wörter" nicht als trockenes oder gar verkopftes Werk daherkommt, sondern im Gegenteil eine durchaus breite Leserschaft ansprechen sollte. Liest man es als Sachbuch an einem Stück, fühlt man sich am Ende vielleicht selbst ein wenig "verbrannt", aber häppchenweise eignet sich das Buch hervorragend, um die Leserschaft für einen bewussteren Umgang mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte zu sensibilisieren.

Positiv anzumerken ist zudem, dass es am Ende eines jeden Wortes eine persönliche Empfehlung des Autors gibt. Diese kommt im Gegensatz zu anderen aktuellen Werken Heines ohne erhobenen Zeigefinger daher. Es braucht sich also niemand nach dem allgegenwärtig scheinenden Motto "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" echauffieren.

Was dem Autor nicht ganz so gut gelingt, ist eine saubere Quellenarbeit. Zwar gibt es am Ende des Buches eine kommentierte Auswahlbibliografie, doch manchmal hätte man eben gern unmittelbar gewusst, aus welcher Quelle dies oder jenes Zitat stammt. Ein wenig unangenehm ist auch die Auswahl an Negativbeispielen aus der Presse, bei denen der "Welt"-Kulturredakteur liebend gern die "Zeit" und den "Spiegel" zitiert, dabei aber die Springer-Presse verschont, obwohl er mit Sicherheit mindestens bei der "großen Schwester" auch fündig geworden wäre. Negativ stößt zudem auf, dass Heine manchmal rechts blinkt, aber links abbiegt. So tut die populistische Gleichsetzung von Marxismus und Nationalsozialismus als "zwei Ideologien mit massenmörderischen Folgen" ohne weitere Abstufung fast schon körperlich weh.

Größere Wermutstropfen eines insgesamt aber lehrreichen und informativen Nachschlagewerks, dessen Erscheinen zum richtigen Zeitpunkt erfolgt.

3,5/5

Bewertung vom 21.05.2025
Oates, Joyce Carol

Der Schlächter


gut

Mitte des 19. Jahrhunderts gilt Dr. Silas Aloysius Weir in den USA als Reformer des Medizinwesens. Seine Behandlungen von Frauen in einer Nervenheilanstalt in Pennsylvania gelten als bahnbrechend, er selbst wird als Erfinder der "Gynäkopsychiatrie" gefeiert. Und tatsächlich rettet Weir mit seinen unkonventionellen Methoden einigen Frauen das Leben. Doch mindestens genauso hoch ist die Anzahl der Patientinnen, die seine Experimente nicht überstehen. Seien es Formfehler oder sei es einfach nur die Experimentierfreudigkeit des Arztes: Keine der Frauen kann sich sicher sein, den OP-Saal lebendig zu verlassen...

Über die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn und über die vielen Frauen, die diesen Grenzen zum Opfer gefallen sind, schreibt Joyce Carol Oates in ihrem neuen Roman "Der Schlächter", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz bei Blessing erschienen ist. Die mittlerweile fast 87-jährige Grande Dame der gehobenen amerikanischen Spannungsliteratur erzählt die Geschichte eines misogynen Arztes, der seine erkrankten Patientinnen lediglich als Versuchskaninchen ansieht, als Experimente auf dem Weg zum Ruhm. Todesopfer oder andere Verletzungen oder Erkrankungen nimmt er dabei von Beginn an in Kauf. Oates setzt in ihrem neuen Roman auf einen klassischen Antihelden und eine authentisch-elegante Sprache. Ein wenig anstrengend ist gerade zu Beginn, dass sie dabei konstant auf das &-Zeichen setzt, anstatt "und" auszuschreiben. Eine kleine Verbeugung vor der Schriftsprache des 19. Jahrhunderts, an die man sich mit der Zeit gewöhnt oder auch nicht.

Ansonsten ist gerade der Beginn des Romans auch dessen stärkster Teil. Jonathan Weir, Sohn des Protagonisten, nimmt auf einer Metaebene die Rolle des Herausgebers ein und präsentiert den Lesern eine "Biografie, bestehend aus verschiedenen Stimmen". Und tatsächlich liest sich das zunächst sehr abwechslungsreich. Der junge Dr. Weir wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, er selbst kommt auch zu Wort und fast regt sich so etwas wie Mitleid bei der Leserschaft. Weir ist hier noch ein unsicherer junger Mann, der sowohl bei den Frauen als auch im Beruf als Arzt überhaupt nicht vorankommt. Erst mit zunehmendem Erfolg wird der Protagonist selbstbewusster, und Joyce Carol Oates setzt immer stärker auf eine sprachliche Mischung aus Drastik und Eleganz. Provokativ explizit wird jeder Eingriff beschrieben, Oates macht aus dem Ärztedrama einen psychologischen Horrorroman.

Problematisch ist, dass sich diese Herangehensweise mit der Zeit so stark abnutzt, dass man einzelne Textabschnitte auch einmal überfliegt. Aus faszinierendem Ekel wird irgendwann gepflegte Langeweile. Experiment reiht sich an Experiment und noch nie zuvor las ich in einem Roman so oft den Begriff "Fistel" - alles natürlich haarklein festgehalten in der Chronik des Dr. Weir. In seinem Menschenbild und dem bürokratischen Drang erinnert Weir bisweilen an die Methoden und Einstellungen des Nationalsozialismus. Bei aller Explizität stumpft man als Leserin irgendwann ab, was mit Sicherheit nicht im Sinne der Autorin war. Ein ganz besonders schreckliches Experiment mit Zwillingskindern, das in seiner Grausamkeit an die Versuche Friedrichs II. erinnert, beendet Oates glücklicherweise schnell, indem sie die beiden Säuglinge kurzerhand zur Adoption freigibt.

Eine Schwäche des Romans ist außerdem, dass die anfängliche Vielstimmigkeit überhaupt nicht durchgehalten wird. Von den insgesamt 450 Romanseiten werden wohl rund 75 Prozent von Dr. Weir selbst befüllt. Und selbst als es zum erhofften Perspektivwechsel kommt, erzählt Weirs Patientin Brigit, der in dem Buch eine ganz besondere Rolle zugedacht ist, eigentlich die gleichen Sachen noch einmal und fügt fast nur Dinge hinzu, die man auch ohne die neue Perspektive ohnehin schon geahnt hatte. Keine gute Entscheidung ist es zudem, die Folgen eines für das Buch zentralen Ereignissen vom Herausgeber Jonathan Weir nur stakkato-artig heruntererzählen zu lassen, anstatt diese literarisch aufzuzeigen. Da stört es hingegen gar nicht, dass es sich bei allen Erzählstimmen um unzuverlässige Erzähler handelt und man als Leser selbst überlegen muss, wem man denn nun glauben möchte. Immerhin findet das Buch im Finale zu seiner Ausgangsstärke zurück, wenn in einer bemerkenswerten Szene die Figur des Jonathan Weir sich plötzlich ganz anders zeigt als erwartet und den Roman mit einem überraschenden Twist enden lässt.

Insgesamt ist "Der Schlächter" ein durchaus wichtiges Buch, mit dem Joyce Carol Oates den zahlreichen weiblichen Opfern der Medizin eine Stimme gibt. Mit seinen 450 Seiten ist es aufgrund der monothematischen Darstellung aber mindestens 200 Seiten zu lang geraten. Zudem kann es auch formal nicht ganz überzeugen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.05.2025
Vesaas, Tarjei

Frühlingsnacht


ausgezeichnet

Als die Eltern des 14-jährigen Hallstein ihn und seine vier Jahre ältere Schwester Sissel in einer warmen Frühlingsnacht zuhause allein lassen, ahnt der kindlich-naive Junge noch nicht, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommen wird. Zunächst scheint es aufregend genug, den Flirt seiner Schwester mit Tore, einem Jugendlichen aus dem Ort, zu beobachten, sich gemeinsam mit Sissel der Natur zu widmen und einen Plausch mit seiner imaginären Freundin Gudrun zu halten. Doch spätestens als es ihm scheinbar gelingt, den Regen zu beherrschen, weiß Hallstein: "In dieser Nacht schien alles möglich!" Und tatsächlich steht nur wenige Momente später im strömenden Regen eine Familie vor der Tür und bittet nach einer Autopanne um Einlass, den Hallstein und Sissel ihr auch gewähren. Eine fatale Entscheidung, deren Folgen nicht nur Hallsteins bisheriges Leben komplett aus den Fugen geraten lässt...

"Frühlingsnacht" ist der vierte Roman von Tarjei Vesaas, der in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel bei Guggolz erschienen ist. Das Original erschien 1954 unter dem Titel "Värnatt" und wurde 1976 in Norwegen von Erik Solbakken verfilmt. Was das Buch mit "Die Vögel", "Das Eis-Schloss" und "Der Keim" gemein hat, ist die Fähigkeit Vesaas' sich der Innenwelt der zumeist jugendlichen Hauptfigur so stark anzunähern, dass der Leser das Gefühl bekommt, mit Hallstein eins zu werden. Es gibt keine einzige Szene in "Frühlingsnacht", die ohne Hallstein auskommt, und der 14-Jährige hält diesen Druck auf seinen schmalen Schultern mit Verve aus. So wie er ohnehin einiges auszuhalten hat in dieser verrückten Nacht, in der er den unterschiedlichen Familienmitgliedern vieles verspricht und bald gar nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht.

Und genauso geht es auch der Leserin, der im Gegensatz zu den erwähnten Vesaas-Romanen bei der Lektüre doch einiges abverlangt wird. Denn das, was Vesaas so meisterlich beherrscht, treibt er in "Frühlingsnacht" auf die Spitze - und damit den einen oder die andere an den Rande des Wahnsinns. Vesaas deutet an, lässt Raum für die Gedanken der Leserschaft und damit eben auch für Hallstein. Die Ankunft der seltsamen Familie, die sich alles andere als höflich zeigt und fordernd bis unverschämt auftritt, macht aus "Frühlingsnacht" eine Art Kammerspiel und erinnert ein wenig an die zahlreichen "Home Invasion"-Filme, wobei lange unklar bleibt, was eigentlich das Unbehagen ausmacht. Eine Hochschwangere, deren kriegstraumatisierter Ehemann, das ständig redende und Unruhe verbreitende Familienoberhaupt und dessen offenbar stumme und gelähmte Ehefrau, sowie die 13-jährige - Achtung - Gudrun: Vorhang auf für eine schrecklich nette Familie!

In der Folge sind es insbesondere die beiden Ältesten, Hjalmar und Kristine, deren Motive über lange Zeit vollkommen unklar bleiben und - so viel sei verraten - bis zum Ende nicht wirklich aufgeklärt werden. Die vermeintlich stumme Kristine fordert gleich zu Beginn die bedingungslose Unterstützung Hallsteins, doch wobei genau bleibt ebenso rätselhaft wie der Konflikt, der vor der Ankunft der Familie im Auto offenbar vonstatten ging. Hjalmar selbst ist für den Leser überhaupt nicht greifbar, was nicht nur an seinem Bewegungsradius liegt. In einer grotesk komisch anmutenden Szene repariert er kurzerhand das Auto, um es im Anschluss fast an die Hauswand seiner Herberge zu fahren. Diese Szene nimmt in "Frühlingsnacht" eine Schlüsselposition ein. Einerseits zeigt sie die Ambivalenz Hjalmars, andererseits denkt sich Vesaas im Anschluss daran ein Ereignis aus, das nicht nur Hallstein den Boden unter den Füßen wegzieht.

Wer diese Nacht gemeinsam mit Hallstein durchhält, wird letztlich belohnt. Immer wieder gelingt es Tarjei Vesaas, die Leser für den jungen Helden einzunehmen. Seien es die hinreißend zärtlichen Momente, die Hallstein mit der echten Gudrun durchlebt oder dieses fast körperlich spürbare Hin- und Hergerissensein des Protagonisten, der wortwörtlich von einem Raum in den anderen rast, um jeder Figur gerecht zu werden. Und so scheint das Ende der Kindheit gekommen nach dieser Frühlingsnacht, in der Hallstein die vielleicht prägendsten Ereignisse eines Menschenlebens kennenlernt: Geburt, Liebe und Tod.

"Um nichts in der Welt wünschte er, der Wagen wäre gestern Abend vorbeigefahren", heißt es über Hallstein in einem eigentlich furchtbaren Moment. Und man kann ihm nur beipflichten, denn ohne dieses Ereignis wäre dieser wunderbare Roman wohl kaum entstanden. Am Ende der 240 Seiten wartet auf den Leser noch ein ungewöhnliches Nachwort der Autorin Hanne Ørstavik, das zum eigentlichen Roman zwar nichts beiträgt, aber mit seiner persönlichen Note und der Literarizität durchaus mit Gewinn gelesen werden kann. Es weckt in jedem Fall die Vorfreude auf weitere Vesaas-Werke, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft bei Guggolz erscheinen werden.

Bewertung vom 28.04.2025
Turtschaninoff, Maria

Moorhöhe


ausgezeichnet

Dieser Roman hat mich sehr beeindruckt und berührt. Maria Turtschaninoff war bislang für ihre Jugendbücher bekannt, "Moorhöhe" ist nun der erste Roman für Erwachsene. Turtschaninoff gehört der schwedisch-sprachigen Minderheit in Finnland an, das Buch spielt dann auch in Österbotten, von wo aus man Schweden vermutlich sogar sieht.

Auf knapp 450 Seiten spinnt Turtschaninoff darin die Geschichte eines Hofs in Nordfinnland, die vom 17. bis ins 21. Jahrhundert andauert. Nevabacka, übersetzt "Moorhöhe", heißt dieser Hof, der in Wald- und Moorlandschaften eingebettet ist. Episodenhaft blickt die Autorin auf die verschiedenen Bewohnerinnen dieses Gehöfts und verknüpft die Geschichten auf wunderbare Weise miteinander. Obwohl die Zeit recht zügig voranschreitet, erfährt man als Leser immer, was mit den Figuren der vorherigen Kapitel passiert ist. Man muss dabei allerdings ein wenig aufpassen, nicht den Überblick zu verlieren.

Man kann aber auch einfach genießen: die unglaublich bildhafte Sprache, die voller Liebe und Poesie die Tiere und Menschen des Waldes beschreibt, die wunderbar entschleunigenden Geschichten, die einen den Alltag vergessen lassen, die Warmherzigkeit und Empathie der Autorin für ihre Figuren und für die Natur.

Ein umfassendes Thema ist die Liebe - und zwar nicht nur unter den Figuren, sondern auch die Liebe zum Wald, aber tatsächlich auch die Liebe, die der Wald den Menschen zurückgibt. Manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn gerade im 17. und 18. Jahrhundert gibt es durchaus überraschende Waldbewohnerinnen, bei denen die Leserin zumindest ein kleines Maß an Fantastik akzeptieren sollte.

"Moorhöhe" zeigt dadurch auch fast nebenbei auf, wie sich andere Themen entwickeln, wie sich die Menschheit als Ganzes entwickelt. Die Unterscheidung zwischen Naturglauben und christlichen Glauben als eines der zentralen Themen zu Beginn, später das Streben nach Bildung und Wissenschaft, die gesellschaftliche Akzeptanz von Frauen. Nicht nur deshalb nimmt Turtschaninoff vornehmlich die Perspektiven von Frauen und Kindern ein.

Unbedingt erwähnenswert ist zudem die formale Originalität. Turtschaninoff baut zu Beginn und ganz am Ende des Buches Versformen ein, zwischendrin gibt es neben erzählerischer Prosa auch Tagebucheinträge, Briefe und im Kapitel "Brot und Stein" ein an die Dramatik erinnerndes Experiment, in dem positive und negative Erlebnisse der Hauptfigur abwechselnd gegenübergestellt werden. Dennoch wirkt alles wie aus einem Guss, weil Nevabacka als verbindendes Element stets im Vordergrund steht.

Insgesamt erinnert "Moorhöhe" thematisch und formal ein wenig an die starken Momente in Daniel Masons "Oben in den Wäldern", ohne allerdings jemals ins Komische oder Groteske abzudriften. Neben dem tollen Cover ist noch hervorzuheben, dass sich der Verlag auch bei der Gestaltung richtig viel Mühe gegeben hat. Den einzelnen Jahrhunderten sind kurze Texte skandinavischer Dichter vorangestellt und bilden eine liebevolle Einheit mit Zeichnungen verschiedener Pflanzen aus dem Wald und aus dem Moor.

Erschienen ist "Moorhöhe" in der großartigen deutschen Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann bei Rowohlt Kindler. Für mich ist es eines der schönsten Bücher, das ich in den letzten Jahren lesen durfte.

Bewertung vom 14.04.2025
Leitner, Maria

Elisabeth, ein Hitlermädchen. Roman der deutschen Jugend


ausgezeichnet

Berlin, am 1. Mai 1933: Die junge Schuhverkäuferin Elisabeth ist überzeugt davon, dass Adolf Hitler Deutschlands Rettung in schwierigen Zeiten ist. Beseelt läuft sie durch die wie hypnotisiert wirkenden Menschenmassen und wartet auf die Rede des geliebten Führers. Als sie dann auch noch am selben Tag den SA-Mann Erwin kennenlernt, scheint das Glück perfekt. Doch weder die unverhoffte Schwangerschaft, noch ihre berufliche Karriere laufen wie geplant. In einem Arbeitslager kommen Elisabeth erste Zweifel: Ist der Nationalsozialismus wirklich die Lösung aller Probleme?

"Elisabeth, ein Hitlermädchen" ist nach "Hotel Amerika" der zweite Roman von Maria Leitner, der in der Reihe "Reclams Klassikerinnen" veröffentlicht wurde. Die Erstausgabe erschien 1937 als Fortsetzungsroman in der deutschsprachigen Exilzeitung "Pariser Tagblatt". Der "Roman der deutschen Jugend", so der Untertitel, lässt sich in zwei große Abschnitte unterteilen. Im ersten Teil schildert Leitner episodenhaft den Alltag in den frühen Jahren des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die jungen Menschen. Im zweiten Teil begleiten wir Elisabeth in ein Arbeitslager, in das sie sich mehr oder weniger freiwillig begeben hat, nachdem ihre Arbeit als Schuhverkäuferin einem "verdienten Frontsoldaten" aus dem Ersten Weltkrieg zugesprochen wurde.

Genau wie in ihrem Debüt "Hotel Amerika" berichtet Leitner ausführlich und schonungslos über die prekären Bedingungen der Arbeiterinnen und setzt dabei durchgehend auf eine weibliche Perspektive. Auffallend dabei ist die Empathie für ihre Figuren und für die Jugend im Allgemeinen. Leitner verurteilt insbesondere Elisabeth trotz deren Bekenntnis zum Nationalsozialismus nie, sondern zeichnet sie als ikonische Frauenfigur für das Lebensgefühl der frühen 1930er-Jahre. Umso stärker verurteilt die Autorin das System. Vorbereitende Kriegsübungen mit Gasmasken sind ebenso grauenvoll geschildert wie Elisabeths Aufenthalt in einer klandestinen Abtreibungsklinik. Ganz erstaunlich ist, wie es Maria Leitner gelingt, die Leserschaft für ihre verblendete Antiheldin einzunehmen.

Der zweite Teil des 230 Seiten umfassenden Romans macht noch deutlicher, wie sehr der Nationalsozialismus die "deutsche Jugend" ausnutzte, um sie zu einem gefügigen Rädchen im System zu machen. Die Mädchen im Arbeitslager sind aus ganz unterschiedlichen Gründen dort, viele von ihnen auch zwangsweise. Leitner stellt sich klar auf die Seite der Jugend und greift bei Figuren wie der auffällig böse porträtierten Lageraufseherin Kuczynski auch einmal zum Stilmittel der Überzeichnung. Genau wie in "Hotel Amerika" gibt es eine Schlüsselszene, in der die Figuren aufbegehren und ihre Kraft überhaupt erst aus dem Gemeinschaftssinn ziehen. Eine Szene, die sinnbildlich auch für die politischen Überzeugungen Maria Leitners steht.

Man könnte der Autorin vorwerfen, dass "Elisabeth, ein Hitlermädchen" zu dialoglastig und überhaupt wenig subtil geraten sei. Doch im Kontext der Zeit war kein Platz für Subtilität. Mit erhobenem Zeigefinger und dabei erstaunlich hellsichtig war es Maria Leitner ein Anliegen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und gemeinsam mit anderen Schriftstellern und Künstlerinnen aus dem Exil heraus, den Sturz des Nationalsozialismus herbeizuführen, um bald nach Deutschland zurückkehren zu können. So erfahren wir es aus dem informativen Nachwort des Literaturkritikers Philipp Haibach, unter Bezugnahme auf die Recherchen der Autorin Helga W. Schwarz.

Und während Elisabeth auch am Ende des Romans noch immer nach dem Glück sucht, hat Leitner ihres leider nicht mehr gefunden. Beim vergeblichen Warten auf ein Visum für die USA starb die Sozialistin 1942 vereinsamt und vergessen vor einer Psychiatrie in Marseille den Hungertod. Neuveröffentlichungen wie "Elisabeth, ein Hitlermädchen" tragen dazu bei, diese mutige und kluge Frau kein zweites Mal zu vergessen.

Bewertung vom 31.03.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


sehr gut

Hanna Krause kann sich in den 1930er-Jahren endlich ihren Traum vom eigenen Blumenladen erfüllen. Zwar liegt das Geschäft im Magdeburger Armenviertel Knattergebirge, doch Männer mit einem schlechten Gewissen gibt es schließlich überall. So war es schon, als sie noch bei ihrer Halbschwester aushalf, und so ist es auch hier. In den Wirren und Bomben des Zweiten Weltkriegs verliert sie jedoch mehr als nur den Laden. Doch Hanna lässt sich nicht unterkriegen. Viele Jahre später ist der Nationalsozialismus längst Geschichte. Im Gegensatz zu Hanna, die in der DDR mittlerweile als Kranführerin tätig ist. Was hält ein Menschenleben aus, wie viel Leid, wie viele Verluste? Und was bringt eine Frau dazu, tagtäglich aufs Neue zu kämpfen? Darüber schreibt Annett Gröschner in ihrem neuen Roman "Schwebende Lasten", der bei C. H. Beck erschienen ist.

Ganze 13 Jahre ist es her, dass Gröschner mit "Walpurgisnacht" ihren bis dato letzten Roman vorlegte. Dass sie bereits vor zehn Jahren aus einem Manuskript von "Schwebende Lasten" vorlas, zeigt, wie lange sie an diesem Werk gearbeitet hat. Eine lohnenswerte Arbeit, denn das Buch ist mehr als ein Gesellschaftsbild oder das Porträt einer einzelnen starken Frau. Vielmehr setzt Gröschner indirekt damit all den Frauen und Arbeiterinnen ein Denkmal, die wie Hanna genau dieses wahnwitzige 20. Jahrhundert durch- und erleben mussten, ihre Kinder oftmals allein großzogen und dennoch zum Wiederaufbau des einen oder anderen Staates beitrugen. Dabei ist Hanna keine klassische Heldin, möchte sie auch gar nicht sein. Zum Schutz ihrer Familie schickt sie beispielsweise ein jüdisches Mädchen lieber zu den Nachbarn. Vielmehr ist Hanna Krause eine Kämpferin und Pragmatikerin, die sich aber stets das Gute bewahrt und - was schwierig genug war in jenen Zeiten - ihr moralisches Handeln nicht aus den Augen verlor.

Annett Gröschner zeichnet diese Hanna Krause mit wenigen Strichen lakonisch und mit einem rauen Charme, wie ihn nur die Menschen in Magdeburg aufweisen. Bereits der eindringliche Prolog setzt den Ton für die kommenden 280 Seiten. In ihm blickt Gröschner ohne große Ausschweifungen mal eben auf das, was da kommt - für Hanna, aber auch für die Leserinnen. Zwei Diktaturen, zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, sechs Kinder: All das erlebt Hanna Krause, aber all das erleben sehr viele Frauen dieser Jahre. Und Hanna wird in diesen Zeiten viel verlieren: Kinder, ihr Geschäft, verschiedene Wohnungen, ihren Mann. Gröschner erzählt dies meist nüchtern, was erstaunlicherweise dennoch oder gerade deswegen wahnsinnig erschütternd oder auch mal komisch ist.

In der stärksten und zugleich schrecklichsten Szene des Romans wird Hanna im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie in einer Magdeburger Kirche verschüttet. Was folgt, brennt sich im wahrsten Sinne des Wortes in das Gedächtnis der Leserschaft ein und dürfte so schnell nicht wieder vergessen werden. Was hält eine Frau wie Hanna aus, aber was hält auch der Leser aus? In "Schwebende Lasten" machen beide weiter, um der Dinge zu trotzen, die da kommen, aber auch um Hanna und ihrer Familie beizustehen.

Blumig wird "Schwebende Lasten" im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich nur in den kleinen Notizbucheinträgen Hannas, die jedem der 25 Kapitel vorangestellt sind. Die Blumen sind Hannas große Liebe - mehr jedenfalls als ihr Ehemann Karl, ein Trinker und schwacher Mensch, aber einer mit dem Herzen am rechten oder linken Fleck. Die Blumen sind fast schon eigene kleine Hauptdarstellerinnen in diesem an Nebenfiguren reichen Werk. Da kann man als Leser schon mal durcheinanderkommen - bei den Blumen und bei den Menschen.

Und das ist dann auch schon der einzige kleinere Kritikpunkt an diesem Roman. Ist die erste Hälfte des Buches fast schon so etwas wie eine große Schulung in Empathie, zerfasert das Werk in der zweiten Hälfte an der ein oder anderen Stelle. Die Lebensläufe der Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen werden etwas stakkatohaft abgehandelt. Bei dieser überbordenden Weiblichkeit wusste ich plötzlich nicht mehr, wer nun Barbaras Kind war und wer Elisabeths. Und hatte Judith eigentlich eine Tochter oder Selma? Ein wenig aufgelockert werden können hätte der Text auch durch ein paar mehr Dialoge und weniger Nacherzählung.

Vor einigen Wochen las Annett Gröschner in Magdeburg von einem Kran. Sie hat es trotz Bauchschmerzen nicht bereut. Denn auch Hanna Krause, die Blumenbinderin und Kranführerin, hätte hier stehen können. Vielleicht hätte sie aus Thomas Manns "Buddenbrooks" vorgelesen, dem Buch, das sie so beeindruckte, weil die Probleme ihrer eigenen Familie ihrer Meinung nach so klein wirkten im Vergleich zu den Lübeckerinnen. Vielleicht hätte sie aber einfach auch nur ihre Schicht beendet und auf dem Rückweg nach Hause ein paar Setzlinge gestohlen. Denn eine Heldin war sie nicht, diese Hanna Krause.