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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 198 Bewertungen
Bewertung vom 24.06.2025
Johnston, Bret Anthony

We Burn Daylight


gut

Waco, 1993: Sektenführer Perry Cullen, genannt "Lamb", hat seine Jünger schon lange gewarnt: Das Jüngste Gericht steht bevor. Während vor seiner Farm das FBI aufmarschiert, bewaffnet Lamb die Seinen bis an die Zähne, um die finale Schlacht, wie in der Offenbarung des Johannes vorhergesagt, für sich zu entscheiden. Draußen verfolgt der 14-jährige Roy, Sohn des Sheriffs, die Aktionen rund um die Farm mit besonderem Interesse. Schließlich ist nicht nur sein Vater involviert, sondern auch seine gleichaltrige Freundin Jaye, deren Mutter eine der neuesten Anhängerinnen des Lamms ist....

"We Burn Daylight" ist der neue Roman von Bret Anthony Johnston, der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sylvia Spatz bei C. H. Beck erschienen ist. Johnston vereint darin tatsächliche Vorkommnisse aus dem Jahre 1993 mit einer fiktiven Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen Jaye und Roy. Im texanischen Waco versammelte David Koresh vor gut 30 Jahren seine "Branch Davidians" und sah sich 51 Tage lang einer Belagerung durch das FBI ausgesetzt, nachdem sich die schwer bewaffnete Sekte kurz zuvor mit Waffengewalt gegen eine geplante Razzia wehrte. Nur neun der 85 Sektenmitglieder überlebten das Drama, das zu einem weltweiten medialen Ereignis wurde.

Bereits der Titel unterstreicht die Ambitionen des Autors, bezieht er sich doch auf ein Zitat aus William Shakespeares "Romeo und Julia". Gemeint damit ist, dass in einer dringlichen Situation Zeit verschwendet wird, was man wiederum auf die Lage von Roy und Jaye beziehen kann, die aufgrund der gesellschaftlichen Trennung - hier die Sekte, dort die konservative Familie des Sheriffs - einfach nicht zueinander finden. Damit auch der letzte Leser versteht, dass es sich bei dem Buch um eine "moderne Romeo-und-Julia-Geschichte" handeln soll, erhalten die beiden Hauptfiguren also wenig subtil Namen mit denselben Anfangsbuchstaben. Wobei der Vergleich ein wenig hinkt, denn die Beziehung der beiden Jugendlichen wird eigentlich nur von Lamb mit Argwohn betrachtet, da Johnston ihm andichtet, selbst Interesse an dem Mädchen zu haben.

Seine Stärken hat "We Burn Daylight" vor allem zu Beginn. Bret Anthony Johnston startet mit einer ebenfalls an Koresh erinnernden Radioansprache des Sektenführers und wechselt multiperspektivisch zwischen Roy und Jaye hin und her, wobei er immer wieder Stücke eines 30 Jahre nach den Ereignissen veröffentlichten Podcasts einfließen lässt. Das ist formal durchaus aufregend und abwechslungsreich, verliert aber mit zunehmender Dauer seinen Reiz. Die Podcast-Beiträge werden nämlich zu häufig und auch zu wild durcheinander gewürfelt eingeschoben, so dass man ein wenig Mühe hat, die einzelnen Zeitzeuginnen auseinanderzuhalten. Zudem wiederholt sich vieles und wird dadurch redundant. Ohnehin krankt "We Burn Daylight" an seinem Umfang von fast 500 Seiten, da nicht über die volle Distanz die Spannung aufrechterhalten wird.

Ähnlich wie in seinem Erfolgsroman "Justins Heimkehr" von 2016 nimmt Johnston auch diesmal die Perspektive jugendlicher Hauptfiguren ein. Dies gelingt ihm jedoch nur teilweise ansprechend. Während die Figuren einzeln jeweils zu überzeugen wissen, wird es bei deren Zusammentreffen zum Teil unglaubwürdig. Die innerlich unsichere Jaye präsentiert sich viel zu erwachsen und denkt schon an Hochzeit und Roy nimmt die erste Liebe äußerlich gleichmütig mit großem Interesse an Küssen hin. Hier wirken die beiden viel zu gefestigt.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption nicht immer gelungen. Allen voran Lamb gleicht eher einer Witzfigur, einem stumpfsinnigen Hanswurst, so dass nicht klar wird, was überhaupt das Charisma dieses Gurus ausmacht. Die gelungenste Figur überhaupt ist Roys bester Freund Coop, der die Sorgen und Nöte eines amerikanischen Jugendlichen viel besser repräsentiert als die Protagonisten. Umso trauriger ist, dass sowohl der Autor als auch die anderen Figuren diesen treuen Freund und Gefährten verraten, ohne näher auf die Details eingehen zu können.

Gelungen - und gleichzeitig erschreckend - ist, wie aktuell "We Burn Daylight" wirkt, obwohl der Roman ja überwiegend 1993 spielt. Da sind die Diskussionen um Waffenbesitz, da ist das unreflektierte Folgen von Verschwörungstheorien oder auch, wie weit Medien gehen dürfen. Ebenfalls stark ist, dass Bret Anthony Johnston die Anhänger des Kults nicht per se verurteilt, sondern genauso ambivalent darstellt wie den Einsatz der Behörden. Da kann das Finale leider nicht mithalten, in dem nur noch ein wenig lieb- und einfallslos über die Geschehnisse nach der Belagerung berichtet wird.

Insgesamt ist "We Burn Daylight" eine ambitionierte, aber nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Liebesroman, Sektendrama und Krimi, die jedoch nicht die Tiefe ähnlicher Romane wie beispielsweise Emma Clines "The Girls" erreicht.

Bewertung vom 11.06.2025
Manawatu, Becky

Aue


ausgezeichnet

Nach dem Tod der Eltern lässt Taukiri seinen achtjährigen Bruder Ari bei Tante und Onkel im Süden zurück und flieht auf die Nordinsel Neuseelands. Während Ari unter den Gewaltausbrüchen seines Onkels Stu zu leiden hat, aber immerhin eine tiefe Freundschaft mit der gleichaltrigen Nachbarin Beth schließt, gerät Tauk immer tiefer in einen Strudel aus Drogen und Kriminalität, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Erst als er neue Details über die tragische Geschichte seiner Familie erfährt, kommt er langsam aber sicher zur Besinnung und meldet sich telefonisch bei seinem kleinen Bruder. Wird es ein Wiedersehen geben?

"Auē" bedeutet auf Te Reo Māori so viel wie "weinen" oder "klagen" oder bezeichnet einen Ausdruck des Erstaunens oder der Verzweiflung. Es kommt nicht von ungefähr, dass Becky Manawatu ihren Debütroman genau so und nicht anders benannt hat. Denn "Auē" erstaunt einerseits durch seine gelungene Mischung aus höchst emotionalem Familiendrama und harter Gangsterballade und beinhaltet auf der anderen Seite so viel Verzweiflung und Schmerz, dass kein Leser davon unberührt bleiben sollte. Erschienen ist der gut 450 Seiten starke Roman in der deutschen Übersetzung aus dem neuseeländischen Englisch von Jana Grohnert im Alfred Kröner Verlag.

Manawatu setzt auf eine multiperspektivische Herangehensweise und präsentiert der Leserschaft fast abwechselnd die Sichtweisen und Erlebnisse der beiden Brüder Ari und Tauk, der sich bald mit Tauks leiblicher Mutter Jade eine dritte Perspektive hinzugesellt. Viel später gibt es mit Aris leiblicher Mutter Aroha noch eine vierte Perspektive, die sich als besonders poetisch erweist. Denn Aroha tritt als Geist auf und weht wie ein Wind zwischen den Brüdern hin und her und kommentiert die Geschichte. Die Multiperspektivität sorgt einerseits für Spannung, andererseits erweckt Manawatu damit Empathie für alle Figuren, die erstaunlich ambivalent geraten sind. Selbst in der vermeintlich bösesten Nebenfigur gibt es ein Körnchen Gutes zu entdecken, so dass der Verdacht von Schwarz-Weiß-Malerei gar nicht erst aufkommt. Vor allem dem kleinen Ari begegnet die Autorin mit fast überbordender Empathie, die die Herzen der Leserinnen anrührt. So verwundert es nicht, dass sie "Auē" ihrem Cousin Glen Bo Duggan widmet, der im Alter von zehn Jahren 1994 von seinem Stiefvater ermordet wurde.

Eine weitere positive Überraschung ist die Sprache. Diese überzeugt nicht nur durch die immer wieder auftauchenden und im Glossar ausführlich erklärten Begriffe aus dem Te Reo Māori, sondern vor allem in ihrer Mischung aus zärtlicher Poesie und ungewöhnlich explizit geschilderten Szenen der Brutalität, die bisweilen an einen Hard Boiled-Krimi ohne Ermittler erinnern. Diese sind bisweilen kaum aushaltbar, passen aber zur ständig schwankenden Stimmung des Buches. Sehr gelungen ist auch, wie Manawatu zentrale Themen wie (fehlende) Eltern, Schuld und gewalttätige Männer zu einer runden Mischung zusammenfügt.

Jüngst schaffte der Roman den Einstieg in die monatliche renommierte Krimi-Bestenliste, doch "Auē" ist tatsächlich mehr als ein Krimi. Nach dem ebenfalls hervorragenden "Kerbholz" von Carl Nixon ist es schon der zweite neuseeländische Roman innerhalb kürzester Zeit, der sich nicht um Genregrenzen schert und zeigt, wie aufregend und anders Gegenwartsliteratur sein kann.

Bewertung vom 02.06.2025
Heine, Matthias

Verbrannte Wörter


sehr gut

Haben Sie am Wochenende wieder einen Eintopf gekocht und sich gefragt, ob Sie damit eventuell ein braunes Süppchen zu sich genommen haben? Oder haben Sie einen Tag zuvor den Mädels der deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft zugejubelt und beim deutlichen 4:0 gegen die Niederlande etwas übermütig "Sieg" skandiert? Beim Buchstabieren sagen Sie natürlich nicht "S wie Sieg", sondern ganz klar "S wie Siegfried" - oder nicht? Sind Sie jetzt etwa über die Begriffe "Sieg" und "braun" gestolpert, aber nicht über "Siegfried", "Mädels" und "Eintopf"? Dann ist "Verbrannte Wörter" von Matthias Heine genau das richtige Buch für Sie!

Kürzlich ist im Dudenverlag die zweite aktualisierte und erweiterte Auflage des erstmals 2019 veröffentlichten Werkes erschienen. Heine begründet die neue Version damit, dass sich das Buch zu einer Art Standardwerk entwickelt habe und auch Sprache etwas Lebendiges ist, was sich stets weiter- oder eben zurückentwickelt. Der Aufstieg der AfD in den letzten Jahren hat dazu beigetragen, dass Parolen wie "Alles für Deutschland" plötzlich wieder von aktuellem Interesse sind. Die aktualisierte Auflage ist also ohne Zweifel eine sinnvolle Veröffentlichung.

In einer längeren Einführung stellt Heine zunächst die Frage, ob es so etwas wie eine NS-Sprache überhaupt gab und analysiert auf den folgenden 250 Seiten in klassischer Wörterbuchmanier von A wie "Absetzbewegung" bis Z wie "zersetzen" , wo der sprachliche Einfluss des Nationalsozialismus auch heute noch zu finden ist und wo nicht, obwohl man es auf den ersten Blick denken könnte. Dabei gelingt es dem Autoren, sein hintergründiges Fachwissen sprachlich so zugänglich zu präsentieren, dass "Verbrannte Wörter" nicht als trockenes oder gar verkopftes Werk daherkommt, sondern im Gegenteil eine durchaus breite Leserschaft ansprechen sollte. Liest man es als Sachbuch an einem Stück, fühlt man sich am Ende vielleicht selbst ein wenig "verbrannt", aber häppchenweise eignet sich das Buch hervorragend, um die Leserschaft für einen bewussteren Umgang mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte zu sensibilisieren.

Positiv anzumerken ist zudem, dass es am Ende eines jeden Wortes eine persönliche Empfehlung des Autors gibt. Diese kommt im Gegensatz zu anderen aktuellen Werken Heines ohne erhobenen Zeigefinger daher. Es braucht sich also niemand nach dem allgegenwärtig scheinenden Motto "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" echauffieren.

Was dem Autor nicht ganz so gut gelingt, ist eine saubere Quellenarbeit. Zwar gibt es am Ende des Buches eine kommentierte Auswahlbibliografie, doch manchmal hätte man eben gern unmittelbar gewusst, aus welcher Quelle dies oder jenes Zitat stammt. Ein wenig unangenehm ist auch die Auswahl an Negativbeispielen aus der Presse, bei denen der "Welt"-Kulturredakteur liebend gern die "Zeit" und den "Spiegel" zitiert, dabei aber die Springer-Presse verschont, obwohl er mit Sicherheit mindestens bei der "großen Schwester" auch fündig geworden wäre. Negativ stößt zudem auf, dass Heine manchmal rechts blinkt, aber links abbiegt. So tut die populistische Gleichsetzung von Marxismus und Nationalsozialismus als "zwei Ideologien mit massenmörderischen Folgen" ohne weitere Abstufung fast schon körperlich weh.

Größere Wermutstropfen eines insgesamt aber lehrreichen und informativen Nachschlagewerks, dessen Erscheinen zum richtigen Zeitpunkt erfolgt.

3,5/5

Bewertung vom 21.05.2025
Oates, Joyce Carol

Der Schlächter


gut

Mitte des 19. Jahrhunderts gilt Dr. Silas Aloysius Weir in den USA als Reformer des Medizinwesens. Seine Behandlungen von Frauen in einer Nervenheilanstalt in Pennsylvania gelten als bahnbrechend, er selbst wird als Erfinder der "Gynäkopsychiatrie" gefeiert. Und tatsächlich rettet Weir mit seinen unkonventionellen Methoden einigen Frauen das Leben. Doch mindestens genauso hoch ist die Anzahl der Patientinnen, die seine Experimente nicht überstehen. Seien es Formfehler oder sei es einfach nur die Experimentierfreudigkeit des Arztes: Keine der Frauen kann sich sicher sein, den OP-Saal lebendig zu verlassen...

Über die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn und über die vielen Frauen, die diesen Grenzen zum Opfer gefallen sind, schreibt Joyce Carol Oates in ihrem neuen Roman "Der Schlächter", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz bei Blessing erschienen ist. Die mittlerweile fast 87-jährige Grande Dame der gehobenen amerikanischen Spannungsliteratur erzählt die Geschichte eines misogynen Arztes, der seine erkrankten Patientinnen lediglich als Versuchskaninchen ansieht, als Experimente auf dem Weg zum Ruhm. Todesopfer oder andere Verletzungen oder Erkrankungen nimmt er dabei von Beginn an in Kauf. Oates setzt in ihrem neuen Roman auf einen klassischen Antihelden und eine authentisch-elegante Sprache. Ein wenig anstrengend ist gerade zu Beginn, dass sie dabei konstant auf das &-Zeichen setzt, anstatt "und" auszuschreiben. Eine kleine Verbeugung vor der Schriftsprache des 19. Jahrhunderts, an die man sich mit der Zeit gewöhnt oder auch nicht.

Ansonsten ist gerade der Beginn des Romans auch dessen stärkster Teil. Jonathan Weir, Sohn des Protagonisten, nimmt auf einer Metaebene die Rolle des Herausgebers ein und präsentiert den Lesern eine "Biografie, bestehend aus verschiedenen Stimmen". Und tatsächlich liest sich das zunächst sehr abwechslungsreich. Der junge Dr. Weir wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, er selbst kommt auch zu Wort und fast regt sich so etwas wie Mitleid bei der Leserschaft. Weir ist hier noch ein unsicherer junger Mann, der sowohl bei den Frauen als auch im Beruf als Arzt überhaupt nicht vorankommt. Erst mit zunehmendem Erfolg wird der Protagonist selbstbewusster, und Joyce Carol Oates setzt immer stärker auf eine sprachliche Mischung aus Drastik und Eleganz. Provokativ explizit wird jeder Eingriff beschrieben, Oates macht aus dem Ärztedrama einen psychologischen Horrorroman.

Problematisch ist, dass sich diese Herangehensweise mit der Zeit so stark abnutzt, dass man einzelne Textabschnitte auch einmal überfliegt. Aus faszinierendem Ekel wird irgendwann gepflegte Langeweile. Experiment reiht sich an Experiment und noch nie zuvor las ich in einem Roman so oft den Begriff "Fistel" - alles natürlich haarklein festgehalten in der Chronik des Dr. Weir. In seinem Menschenbild und dem bürokratischen Drang erinnert Weir bisweilen an die Methoden und Einstellungen des Nationalsozialismus. Bei aller Explizität stumpft man als Leserin irgendwann ab, was mit Sicherheit nicht im Sinne der Autorin war. Ein ganz besonders schreckliches Experiment mit Zwillingskindern, das in seiner Grausamkeit an die Versuche Friedrichs II. erinnert, beendet Oates glücklicherweise schnell, indem sie die beiden Säuglinge kurzerhand zur Adoption freigibt.

Eine Schwäche des Romans ist außerdem, dass die anfängliche Vielstimmigkeit überhaupt nicht durchgehalten wird. Von den insgesamt 450 Romanseiten werden wohl rund 75 Prozent von Dr. Weir selbst befüllt. Und selbst als es zum erhofften Perspektivwechsel kommt, erzählt Weirs Patientin Brigit, der in dem Buch eine ganz besondere Rolle zugedacht ist, eigentlich die gleichen Sachen noch einmal und fügt fast nur Dinge hinzu, die man auch ohne die neue Perspektive ohnehin schon geahnt hatte. Keine gute Entscheidung ist es zudem, die Folgen eines für das Buch zentralen Ereignissen vom Herausgeber Jonathan Weir nur stakkato-artig heruntererzählen zu lassen, anstatt diese literarisch aufzuzeigen. Da stört es hingegen gar nicht, dass es sich bei allen Erzählstimmen um unzuverlässige Erzähler handelt und man als Leser selbst überlegen muss, wem man denn nun glauben möchte. Immerhin findet das Buch im Finale zu seiner Ausgangsstärke zurück, wenn in einer bemerkenswerten Szene die Figur des Jonathan Weir sich plötzlich ganz anders zeigt als erwartet und den Roman mit einem überraschenden Twist enden lässt.

Insgesamt ist "Der Schlächter" ein durchaus wichtiges Buch, mit dem Joyce Carol Oates den zahlreichen weiblichen Opfern der Medizin eine Stimme gibt. Mit seinen 450 Seiten ist es aufgrund der monothematischen Darstellung aber mindestens 200 Seiten zu lang geraten. Zudem kann es auch formal nicht ganz überzeugen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.05.2025
Vesaas, Tarjei

Frühlingsnacht


ausgezeichnet

Als die Eltern des 14-jährigen Hallstein ihn und seine vier Jahre ältere Schwester Sissel in einer warmen Frühlingsnacht zuhause allein lassen, ahnt der kindlich-naive Junge noch nicht, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommen wird. Zunächst scheint es aufregend genug, den Flirt seiner Schwester mit Tore, einem Jugendlichen aus dem Ort, zu beobachten, sich gemeinsam mit Sissel der Natur zu widmen und einen Plausch mit seiner imaginären Freundin Gudrun zu halten. Doch spätestens als es ihm scheinbar gelingt, den Regen zu beherrschen, weiß Hallstein: "In dieser Nacht schien alles möglich!" Und tatsächlich steht nur wenige Momente später im strömenden Regen eine Familie vor der Tür und bittet nach einer Autopanne um Einlass, den Hallstein und Sissel ihr auch gewähren. Eine fatale Entscheidung, deren Folgen nicht nur Hallsteins bisheriges Leben komplett aus den Fugen geraten lässt...

"Frühlingsnacht" ist der vierte Roman von Tarjei Vesaas, der in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel bei Guggolz erschienen ist. Das Original erschien 1954 unter dem Titel "Värnatt" und wurde 1976 in Norwegen von Erik Solbakken verfilmt. Was das Buch mit "Die Vögel", "Das Eis-Schloss" und "Der Keim" gemein hat, ist die Fähigkeit Vesaas' sich der Innenwelt der zumeist jugendlichen Hauptfigur so stark anzunähern, dass der Leser das Gefühl bekommt, mit Hallstein eins zu werden. Es gibt keine einzige Szene in "Frühlingsnacht", die ohne Hallstein auskommt, und der 14-Jährige hält diesen Druck auf seinen schmalen Schultern mit Verve aus. So wie er ohnehin einiges auszuhalten hat in dieser verrückten Nacht, in der er den unterschiedlichen Familienmitgliedern vieles verspricht und bald gar nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht.

Und genauso geht es auch der Leserin, der im Gegensatz zu den erwähnten Vesaas-Romanen bei der Lektüre doch einiges abverlangt wird. Denn das, was Vesaas so meisterlich beherrscht, treibt er in "Frühlingsnacht" auf die Spitze - und damit den einen oder die andere an den Rande des Wahnsinns. Vesaas deutet an, lässt Raum für die Gedanken der Leserschaft und damit eben auch für Hallstein. Die Ankunft der seltsamen Familie, die sich alles andere als höflich zeigt und fordernd bis unverschämt auftritt, macht aus "Frühlingsnacht" eine Art Kammerspiel und erinnert ein wenig an die zahlreichen "Home Invasion"-Filme, wobei lange unklar bleibt, was eigentlich das Unbehagen ausmacht. Eine Hochschwangere, deren kriegstraumatisierter Ehemann, das ständig redende und Unruhe verbreitende Familienoberhaupt und dessen offenbar stumme und gelähmte Ehefrau, sowie die 13-jährige - Achtung - Gudrun: Vorhang auf für eine schrecklich nette Familie!

In der Folge sind es insbesondere die beiden Ältesten, Hjalmar und Kristine, deren Motive über lange Zeit vollkommen unklar bleiben und - so viel sei verraten - bis zum Ende nicht wirklich aufgeklärt werden. Die vermeintlich stumme Kristine fordert gleich zu Beginn die bedingungslose Unterstützung Hallsteins, doch wobei genau bleibt ebenso rätselhaft wie der Konflikt, der vor der Ankunft der Familie im Auto offenbar vonstatten ging. Hjalmar selbst ist für den Leser überhaupt nicht greifbar, was nicht nur an seinem Bewegungsradius liegt. In einer grotesk komisch anmutenden Szene repariert er kurzerhand das Auto, um es im Anschluss fast an die Hauswand seiner Herberge zu fahren. Diese Szene nimmt in "Frühlingsnacht" eine Schlüsselposition ein. Einerseits zeigt sie die Ambivalenz Hjalmars, andererseits denkt sich Vesaas im Anschluss daran ein Ereignis aus, das nicht nur Hallstein den Boden unter den Füßen wegzieht.

Wer diese Nacht gemeinsam mit Hallstein durchhält, wird letztlich belohnt. Immer wieder gelingt es Tarjei Vesaas, die Leser für den jungen Helden einzunehmen. Seien es die hinreißend zärtlichen Momente, die Hallstein mit der echten Gudrun durchlebt oder dieses fast körperlich spürbare Hin- und Hergerissensein des Protagonisten, der wortwörtlich von einem Raum in den anderen rast, um jeder Figur gerecht zu werden. Und so scheint das Ende der Kindheit gekommen nach dieser Frühlingsnacht, in der Hallstein die vielleicht prägendsten Ereignisse eines Menschenlebens kennenlernt: Geburt, Liebe und Tod.

"Um nichts in der Welt wünschte er, der Wagen wäre gestern Abend vorbeigefahren", heißt es über Hallstein in einem eigentlich furchtbaren Moment. Und man kann ihm nur beipflichten, denn ohne dieses Ereignis wäre dieser wunderbare Roman wohl kaum entstanden. Am Ende der 240 Seiten wartet auf den Leser noch ein ungewöhnliches Nachwort der Autorin Hanne Ørstavik, das zum eigentlichen Roman zwar nichts beiträgt, aber mit seiner persönlichen Note und der Literarizität durchaus mit Gewinn gelesen werden kann. Es weckt in jedem Fall die Vorfreude auf weitere Vesaas-Werke, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft bei Guggolz erscheinen werden.

Bewertung vom 28.04.2025
Turtschaninoff, Maria

Moorhöhe


ausgezeichnet

Dieser Roman hat mich sehr beeindruckt und berührt. Maria Turtschaninoff war bislang für ihre Jugendbücher bekannt, "Moorhöhe" ist nun der erste Roman für Erwachsene. Turtschaninoff gehört der schwedisch-sprachigen Minderheit in Finnland an, das Buch spielt dann auch in Österbotten, von wo aus man Schweden vermutlich sogar sieht.

Auf knapp 450 Seiten spinnt Turtschaninoff darin die Geschichte eines Hofs in Nordfinnland, die vom 17. bis ins 21. Jahrhundert andauert. Nevabacka, übersetzt "Moorhöhe", heißt dieser Hof, der in Wald- und Moorlandschaften eingebettet ist. Episodenhaft blickt die Autorin auf die verschiedenen Bewohnerinnen dieses Gehöfts und verknüpft die Geschichten auf wunderbare Weise miteinander. Obwohl die Zeit recht zügig voranschreitet, erfährt man als Leser immer, was mit den Figuren der vorherigen Kapitel passiert ist. Man muss dabei allerdings ein wenig aufpassen, nicht den Überblick zu verlieren.

Man kann aber auch einfach genießen: die unglaublich bildhafte Sprache, die voller Liebe und Poesie die Tiere und Menschen des Waldes beschreibt, die wunderbar entschleunigenden Geschichten, die einen den Alltag vergessen lassen, die Warmherzigkeit und Empathie der Autorin für ihre Figuren und für die Natur.

Ein umfassendes Thema ist die Liebe - und zwar nicht nur unter den Figuren, sondern auch die Liebe zum Wald, aber tatsächlich auch die Liebe, die der Wald den Menschen zurückgibt. Manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn gerade im 17. und 18. Jahrhundert gibt es durchaus überraschende Waldbewohnerinnen, bei denen die Leserin zumindest ein kleines Maß an Fantastik akzeptieren sollte.

"Moorhöhe" zeigt dadurch auch fast nebenbei auf, wie sich andere Themen entwickeln, wie sich die Menschheit als Ganzes entwickelt. Die Unterscheidung zwischen Naturglauben und christlichen Glauben als eines der zentralen Themen zu Beginn, später das Streben nach Bildung und Wissenschaft, die gesellschaftliche Akzeptanz von Frauen. Nicht nur deshalb nimmt Turtschaninoff vornehmlich die Perspektiven von Frauen und Kindern ein.

Unbedingt erwähnenswert ist zudem die formale Originalität. Turtschaninoff baut zu Beginn und ganz am Ende des Buches Versformen ein, zwischendrin gibt es neben erzählerischer Prosa auch Tagebucheinträge, Briefe und im Kapitel "Brot und Stein" ein an die Dramatik erinnerndes Experiment, in dem positive und negative Erlebnisse der Hauptfigur abwechselnd gegenübergestellt werden. Dennoch wirkt alles wie aus einem Guss, weil Nevabacka als verbindendes Element stets im Vordergrund steht.

Insgesamt erinnert "Moorhöhe" thematisch und formal ein wenig an die starken Momente in Daniel Masons "Oben in den Wäldern", ohne allerdings jemals ins Komische oder Groteske abzudriften. Neben dem tollen Cover ist noch hervorzuheben, dass sich der Verlag auch bei der Gestaltung richtig viel Mühe gegeben hat. Den einzelnen Jahrhunderten sind kurze Texte skandinavischer Dichter vorangestellt und bilden eine liebevolle Einheit mit Zeichnungen verschiedener Pflanzen aus dem Wald und aus dem Moor.

Erschienen ist "Moorhöhe" in der großartigen deutschen Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann bei Rowohlt Kindler. Für mich ist es eines der schönsten Bücher, das ich in den letzten Jahren lesen durfte.

Bewertung vom 14.04.2025
Leitner, Maria

Elisabeth, ein Hitlermädchen. Roman der deutschen Jugend


ausgezeichnet

Berlin, am 1. Mai 1933: Die junge Schuhverkäuferin Elisabeth ist überzeugt davon, dass Adolf Hitler Deutschlands Rettung in schwierigen Zeiten ist. Beseelt läuft sie durch die wie hypnotisiert wirkenden Menschenmassen und wartet auf die Rede des geliebten Führers. Als sie dann auch noch am selben Tag den SA-Mann Erwin kennenlernt, scheint das Glück perfekt. Doch weder die unverhoffte Schwangerschaft, noch ihre berufliche Karriere laufen wie geplant. In einem Arbeitslager kommen Elisabeth erste Zweifel: Ist der Nationalsozialismus wirklich die Lösung aller Probleme?

"Elisabeth, ein Hitlermädchen" ist nach "Hotel Amerika" der zweite Roman von Maria Leitner, der in der Reihe "Reclams Klassikerinnen" veröffentlicht wurde. Die Erstausgabe erschien 1937 als Fortsetzungsroman in der deutschsprachigen Exilzeitung "Pariser Tagblatt". Der "Roman der deutschen Jugend", so der Untertitel, lässt sich in zwei große Abschnitte unterteilen. Im ersten Teil schildert Leitner episodenhaft den Alltag in den frühen Jahren des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die jungen Menschen. Im zweiten Teil begleiten wir Elisabeth in ein Arbeitslager, in das sie sich mehr oder weniger freiwillig begeben hat, nachdem ihre Arbeit als Schuhverkäuferin einem "verdienten Frontsoldaten" aus dem Ersten Weltkrieg zugesprochen wurde.

Genau wie in ihrem Debüt "Hotel Amerika" berichtet Leitner ausführlich und schonungslos über die prekären Bedingungen der Arbeiterinnen und setzt dabei durchgehend auf eine weibliche Perspektive. Auffallend dabei ist die Empathie für ihre Figuren und für die Jugend im Allgemeinen. Leitner verurteilt insbesondere Elisabeth trotz deren Bekenntnis zum Nationalsozialismus nie, sondern zeichnet sie als ikonische Frauenfigur für das Lebensgefühl der frühen 1930er-Jahre. Umso stärker verurteilt die Autorin das System. Vorbereitende Kriegsübungen mit Gasmasken sind ebenso grauenvoll geschildert wie Elisabeths Aufenthalt in einer klandestinen Abtreibungsklinik. Ganz erstaunlich ist, wie es Maria Leitner gelingt, die Leserschaft für ihre verblendete Antiheldin einzunehmen.

Der zweite Teil des 230 Seiten umfassenden Romans macht noch deutlicher, wie sehr der Nationalsozialismus die "deutsche Jugend" ausnutzte, um sie zu einem gefügigen Rädchen im System zu machen. Die Mädchen im Arbeitslager sind aus ganz unterschiedlichen Gründen dort, viele von ihnen auch zwangsweise. Leitner stellt sich klar auf die Seite der Jugend und greift bei Figuren wie der auffällig böse porträtierten Lageraufseherin Kuczynski auch einmal zum Stilmittel der Überzeichnung. Genau wie in "Hotel Amerika" gibt es eine Schlüsselszene, in der die Figuren aufbegehren und ihre Kraft überhaupt erst aus dem Gemeinschaftssinn ziehen. Eine Szene, die sinnbildlich auch für die politischen Überzeugungen Maria Leitners steht.

Man könnte der Autorin vorwerfen, dass "Elisabeth, ein Hitlermädchen" zu dialoglastig und überhaupt wenig subtil geraten sei. Doch im Kontext der Zeit war kein Platz für Subtilität. Mit erhobenem Zeigefinger und dabei erstaunlich hellsichtig war es Maria Leitner ein Anliegen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und gemeinsam mit anderen Schriftstellern und Künstlerinnen aus dem Exil heraus, den Sturz des Nationalsozialismus herbeizuführen, um bald nach Deutschland zurückkehren zu können. So erfahren wir es aus dem informativen Nachwort des Literaturkritikers Philipp Haibach, unter Bezugnahme auf die Recherchen der Autorin Helga W. Schwarz.

Und während Elisabeth auch am Ende des Romans noch immer nach dem Glück sucht, hat Leitner ihres leider nicht mehr gefunden. Beim vergeblichen Warten auf ein Visum für die USA starb die Sozialistin 1942 vereinsamt und vergessen vor einer Psychiatrie in Marseille den Hungertod. Neuveröffentlichungen wie "Elisabeth, ein Hitlermädchen" tragen dazu bei, diese mutige und kluge Frau kein zweites Mal zu vergessen.

Bewertung vom 31.03.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


sehr gut

Hanna Krause kann sich in den 1930er-Jahren endlich ihren Traum vom eigenen Blumenladen erfüllen. Zwar liegt das Geschäft im Magdeburger Armenviertel Knattergebirge, doch Männer mit einem schlechten Gewissen gibt es schließlich überall. So war es schon, als sie noch bei ihrer Halbschwester aushalf, und so ist es auch hier. In den Wirren und Bomben des Zweiten Weltkriegs verliert sie jedoch mehr als nur den Laden. Doch Hanna lässt sich nicht unterkriegen. Viele Jahre später ist der Nationalsozialismus längst Geschichte. Im Gegensatz zu Hanna, die in der DDR mittlerweile als Kranführerin tätig ist. Was hält ein Menschenleben aus, wie viel Leid, wie viele Verluste? Und was bringt eine Frau dazu, tagtäglich aufs Neue zu kämpfen? Darüber schreibt Annett Gröschner in ihrem neuen Roman "Schwebende Lasten", der bei C. H. Beck erschienen ist.

Ganze 13 Jahre ist es her, dass Gröschner mit "Walpurgisnacht" ihren bis dato letzten Roman vorlegte. Dass sie bereits vor zehn Jahren aus einem Manuskript von "Schwebende Lasten" vorlas, zeigt, wie lange sie an diesem Werk gearbeitet hat. Eine lohnenswerte Arbeit, denn das Buch ist mehr als ein Gesellschaftsbild oder das Porträt einer einzelnen starken Frau. Vielmehr setzt Gröschner indirekt damit all den Frauen und Arbeiterinnen ein Denkmal, die wie Hanna genau dieses wahnwitzige 20. Jahrhundert durch- und erleben mussten, ihre Kinder oftmals allein großzogen und dennoch zum Wiederaufbau des einen oder anderen Staates beitrugen. Dabei ist Hanna keine klassische Heldin, möchte sie auch gar nicht sein. Zum Schutz ihrer Familie schickt sie beispielsweise ein jüdisches Mädchen lieber zu den Nachbarn. Vielmehr ist Hanna Krause eine Kämpferin und Pragmatikerin, die sich aber stets das Gute bewahrt und - was schwierig genug war in jenen Zeiten - ihr moralisches Handeln nicht aus den Augen verlor.

Annett Gröschner zeichnet diese Hanna Krause mit wenigen Strichen lakonisch und mit einem rauen Charme, wie ihn nur die Menschen in Magdeburg aufweisen. Bereits der eindringliche Prolog setzt den Ton für die kommenden 280 Seiten. In ihm blickt Gröschner ohne große Ausschweifungen mal eben auf das, was da kommt - für Hanna, aber auch für die Leserinnen. Zwei Diktaturen, zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, sechs Kinder: All das erlebt Hanna Krause, aber all das erleben sehr viele Frauen dieser Jahre. Und Hanna wird in diesen Zeiten viel verlieren: Kinder, ihr Geschäft, verschiedene Wohnungen, ihren Mann. Gröschner erzählt dies meist nüchtern, was erstaunlicherweise dennoch oder gerade deswegen wahnsinnig erschütternd oder auch mal komisch ist.

In der stärksten und zugleich schrecklichsten Szene des Romans wird Hanna im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie in einer Magdeburger Kirche verschüttet. Was folgt, brennt sich im wahrsten Sinne des Wortes in das Gedächtnis der Leserschaft ein und dürfte so schnell nicht wieder vergessen werden. Was hält eine Frau wie Hanna aus, aber was hält auch der Leser aus? In "Schwebende Lasten" machen beide weiter, um der Dinge zu trotzen, die da kommen, aber auch um Hanna und ihrer Familie beizustehen.

Blumig wird "Schwebende Lasten" im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich nur in den kleinen Notizbucheinträgen Hannas, die jedem der 25 Kapitel vorangestellt sind. Die Blumen sind Hannas große Liebe - mehr jedenfalls als ihr Ehemann Karl, ein Trinker und schwacher Mensch, aber einer mit dem Herzen am rechten oder linken Fleck. Die Blumen sind fast schon eigene kleine Hauptdarstellerinnen in diesem an Nebenfiguren reichen Werk. Da kann man als Leser schon mal durcheinanderkommen - bei den Blumen und bei den Menschen.

Und das ist dann auch schon der einzige kleinere Kritikpunkt an diesem Roman. Ist die erste Hälfte des Buches fast schon so etwas wie eine große Schulung in Empathie, zerfasert das Werk in der zweiten Hälfte an der ein oder anderen Stelle. Die Lebensläufe der Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen werden etwas stakkatohaft abgehandelt. Bei dieser überbordenden Weiblichkeit wusste ich plötzlich nicht mehr, wer nun Barbaras Kind war und wer Elisabeths. Und hatte Judith eigentlich eine Tochter oder Selma? Ein wenig aufgelockert werden können hätte der Text auch durch ein paar mehr Dialoge und weniger Nacherzählung.

Vor einigen Wochen las Annett Gröschner in Magdeburg von einem Kran. Sie hat es trotz Bauchschmerzen nicht bereut. Denn auch Hanna Krause, die Blumenbinderin und Kranführerin, hätte hier stehen können. Vielleicht hätte sie aus Thomas Manns "Buddenbrooks" vorgelesen, dem Buch, das sie so beeindruckte, weil die Probleme ihrer eigenen Familie ihrer Meinung nach so klein wirkten im Vergleich zu den Lübeckerinnen. Vielleicht hätte sie aber einfach auch nur ihre Schicht beendet und auf dem Rückweg nach Hause ein paar Setzlinge gestohlen. Denn eine Heldin war sie nicht, diese Hanna Krause.

Bewertung vom 20.03.2025
Bilkau, Kristine

Halbinsel


sehr gut

Bibliothekarin Annett glaubt, ihren Ohren nicht zu trauen: Ihre Tochter Linn, die ein so erfolgreiches Studium absolviert und vermeintlich den Job gefunden hat, der genau zu ihr passt, hat einen Zusammenbruch erlitten, während sie in einem Hotel einen Vortrag halten sollte. Um sich zu erholen, zieht die junge Berlinerin für eine Woche wieder zuhause ein: auf der Halbinsel am Wattenmeer mit gerade einmal 1.300 Einwohnerinnen. Das Haus weckt bei Linn Erinnerungen an ihre Kindheit und den viel zu früh verstorbenen Vater. Sie merkt, dass sie ihr Leben nicht so weiterführen möchte wie bisher. Wie geht eine Mutter damit um, wenn sie erkennt, dass die Tochter ausgebrannt ist und nicht mehr alleine wohnen möchte? Und wie ändert sich dadurch Annetts Leben selbst? Darüber und über viel mehr schreibt Kristine Bilkau in ihrem neuen Roman "Halbinsel", erschienen bei Luchterhand, der jüngst für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

Genau wie im Vorgänger "Nebenan" setzt Bilkau in "Halbinsel" auf eine ruhige und schnörkellose Sprache, die sich vor allem mit der Innenschau der Figuren befasst. Ich-Erzählerin Annett ist zu Beginn des Romans eine einsame, recht antriebslose Endvierzigerin, die gar nicht so recht weiß, wie sie mit der neuen Zweisamkeit mit ihrer Tochter umzugehen hat. Schließlich wollte sie immer nur das Beste für Linn und nun scheint diese sich mit einem Aushilfsjob in der Bäckerei zufriedenzugeben und kann das mütterliche Nest auch nicht mehr so schnell verlassen wie geplant. Erst nach und nach kommen sich die beiden näher, was Kristine Bilkau einfühlsam und unprätentiös in Szene setzt. Eine große Rolle für Annetts Entwicklung spielen auch die jungen Nachbarinnen, die für sie mit zunehmender Dauer einen immer wichtigeren Einfluss darstellen. Zu Levin entwickelt sie sogar mehr als freundschaftliche Kontakte, die Bilkau mit großer Sensibilität verfolgt.

Zu der insgesamt recht melancholischen Stimmung des Buches trägt natürlich auch das Setting bei. Das Wattenmeer, das verhältnismäßig spät seinen ersten Auftritt hat, zieht die Leserinnen unmittelbar hinein in diese norddeutsche Landschaft zwischen Kargheit und Schönheit. Bilkau verbindet es auf gelungene und unaufdringliche Weise mit literarischen Bezügen wie Theodor Storms "Schimmelreiter" oder Gedichten über die im Mittelalter versunkene Stadt Rungholt. Diese Schilderungen der Natur und die Ereignisse, die Linn und Annett bei ihren Wattwanderungen erleben, sind zweifelsohne die sprachlichen Höhepunkte von "Halbinsel".

Anders als der von Beginn an präsente Vorgänger "Nebenan" braucht "Halbinsel" auf seinen 220 Seiten allerdings eine Weile, um seine Stärken ausspielen zu können. Ein wenig träge und handlungsarm fließen die Geschehnisse um Annett und Linn im ersten Drittel dahin. Doch fast unmerklich gelingt es Kristine Bilkau irgendwann, die Leserschaft so von ihren Figuren einzunehmen, dass gar nicht mehr viel passieren muss, um ihnen mit Interesse und Empathie zu folgen.

Zudem vereint "Halbinsel" ohnehin viel mehr Themen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ob Klimawandel, Trauerbewältigung, die Teilhabe an einer Leistungsgesellschaft oder das wechselvolle Geben und Nehmen einer Mutter-Tochter-Beziehung: Kristine Bilkau schafft es, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen, ohne dabei den Zeigefinger zu erheben. Dies macht aus dem Buch einen klugen und lesenswerten Roman, dem ich eine breite Leserschaft wünsche.

Bewertung vom 05.03.2025
Avdic, Åsa

Hinters Licht


gut

Detroit, 1921: Schon seit zwei Jahren forschen Professor Thomas Bradford und seine Assistentin Ruth Doran daran, Kontakt mit Verstorbenen aufzunehmen. Zwar gab es bei einigen Séancen schon erste Annäherungen, doch der Beweis der Existenz eines Lebens nach dem Tod steht noch aus. Als Bradfords Tochter Annabelle nach kurzer Krankheit plötzlich verstirbt, macht der Professor sich schwere Vorwürfe. Wegen seiner Forschungen hat er sich kaum um das Kind gekümmert. Umso drängender ist sein Bestreben, Kontakt zu dem Mädchen herzustellen. Während Thomas einen aberwitzigen Plan schmiedet, macht sich Ruth Sorgen um den Mann, den sie so verehrt. Wie kann sie ihm nur helfen, ohne seinem Wahn zu verfallen?

"Hinters Licht" ist der neue Roman von Åsa Avdic, der in der deutschen Übersetzung aus dem Schwedischen von Stefanie Werner im Arche Verlag erschienen ist. Bereits in ihrem frechen Vorwort macht sie darauf aufmerksam, dass es sich bei den Hauptfiguren um historische Persönlichkeiten handele und einige der erzählten Dinge wirklich so vorgefallen seien. Allerdings habe sie sich für den Roman auch eine "fast haarsträubende Freiheit" beim Erzählen genommen. Und dies merkt man dem Buch im positiven wie im negativen Sinne an. Denn "Hinters Licht" glänzt zwar mit erzählerischen Überraschungen, hat aber auch die ein oder andere "haarsträubende" Unglaubwürdigkeit in petto.

Hervorzuheben ist in jedem Fall die Sprache, die vor allem durch eine sehr originelle Erzählstimme auffällt. Die allwissende Erzählerin kommentiert lapidar die Ereignisse, blickt schon mal voraus, wehklagt ob der Handlungen der Figuren, seufzt hier mal ein "Ach, Thomas" oder ein "Oh, Ruth" in die Handlung. Das sorgt einerseits für Spannung, andererseits auch für eine gewisse Distanz, da man von Beginn an das Gefühl hat, die spiritistische Forschung werde ohnehin nicht sonderlich ernst genommen. Sprachlich toll sind auch die Tagebucheinträge Ruths, die besonders zu Beginn des Romans eine große Rolle spielen. Völlig entfesselt schreibt Ruth darin über ihre Begehrlichkeiten und über die Liebe zu Thomas, der - so viel sei verraten - zu Beginn des Buches verschwunden ist und auf dessen Rückkehr seine Assistentin nun sehnlichst wartet. Die Wörter, die dabei entstehen, sind so voller überbordender Emotionalität, dass man sich manchmal in Zeiten des Sturm und Drang wähnt.

Leider hat "Hinters Licht" jedoch auch einige Schwächen. Dies fängt bei der Figurenzeichnung an. Die oben geschilderten Gefühle von Ruth bleiben nämlich völlig unverständlich. Thomas Bradford wird als ein Mann gezeichnet, der zu jedem anderen Menschen nett ist, doch woher die Liebe und die Faszination für ihn stammen, bleibt ein Geheimnis. Auch die Nebenfiguren bleiben vage, beispielsweise Thomas' Ehefrau, eine Schauspielerin, die gnadenlos unsympathisch überzeichnet wird. Oder Ruths mittlerweile verstorbener Ehemann Frederic, dem sich die Erzählstimme ähnlich respektlos nähert. Ein größeres Problem ist zudem die Struktur des Textes. Avdic springt nämlich ziemlich wahl- und ziellos zwischen den Jahren hin und her. Lasen wir eben noch in Ruths Tagebuch von 1921, befinden wir uns plötzlich in ihrer Vorgeschichte von 1905. Das kann man natürlich so machen, würde es nicht auch innerhalb des Tagebuchs selbst Zeitsprünge geben, die den Lese- und Erzählfluss doch erheblich stören.

Enttäuschend ist auch der Umgang mit dem Thema Spiritimus. Schon Ulla Lenzes "Das Wohlbefinden" konnte das Interesse an diesem Thema nur in der ersten Hälfte wecken. Bei Åsa Avdic muss man fast die Hälfte des Buches gelesen haben, um zum ersten Mal überhaupt etwas über die Arbeit von Ruth und Thomas zu erfahren. Denn die ersten 140 der insgesamt 300 Seiten entpuppen sich letztlich als zwar emotional erzählter, aber im Grunde recht seichter Liebesroman mit Hang zum Kitsch. Und richtig ernsthaft wird auch in der zweiten Hälfte kein Spiritismus betrieben, die geschilderten Experimente gleichen eher einem bunten Hokuspokus. Das Finale wartet schließlich mit einer wahrlich überraschenden Wendung auf, die hier natürlich nicht verraten werden soll. Diese wirkt einerseits konsequent, andererseits fühlt man sich als Leser nicht bloß "hinters Licht" geführt, sondern aufgrund der Folgen dieses Ereignisses regelrecht veräppelt.

So ist "Hinters Licht" insgesamt ein zwiespältiges Vergnügen. Wer sich an originell und sprachlich fein erzählten Liebesromanen mit historischen Figuren erfreut, darf ohne zu zögern zugreifen. Wer sich einen unterhaltsamen, aber durchaus wissenschaftlich basierten Roman über Spiritismus lesen möchte, dürfte ein wenig enttäuscht sein.