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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 209 Bewertungen
Bewertung vom 03.12.2025
Banville, John

Schatten der Gondeln


ausgezeichnet

Venedig, zu Beginn des Jahres 1900: Der mäßig erfolgreiche Schriftsteller Evelyn Dolman und seine Frau Laura, Tochter eines verstorbenen Ölmagnaten, verbringen die ersten Monate des 20. Jahrhunderts in der Lagunenstadt. Ihr Gastgeber ist der mysteriöse Graf Barbarigo, der das Paar in seinem Palazzo Dioscuri empfängt. Nicht nur der schwer über der Stadt liegende Nebel drückt auf Evelyns Gemüt. Die Ehe verläuft alles andere als glücklich, und Laura benötigt den Urlaub, um sich vom Tod des Vaters und ihrer dazugehörigen Enterbung zu erholen. Als sich Evelyn auf einen Streifzug durch das Nachtleben Venedigs begibt, kommt es zu einer Begegnung, die nicht nur für ihn gravierende Konsequenzen hat…

“Schatten der Gondeln” ist der neue Roman von John Banville, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Elke Link bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Banville verknüpft darin äußerst gekonnt Themen der Romantik mit Motiven der Genreliteratur und macht daraus eine literarische Liebeserklärung an den klassischen Schauerroman. Nicht von ungefähr ist den “Venetian Vespers”, so der Originaltitel, als Motto ein Auszug aus Henry James’ “Die Drehung der Schraube” vorangestellt.

Schwer wabert der Nebel über Venedig, schwarze Seide legt sich über einen Marmortisch. Quietschende Türen, Frauen in Umhängen, ein Gesicht am Fenster, ein heruntergekommener Palazzo und ein Gastgeber, der sich als eine Art Wiederauferstehung des Grafen Dracula präsentiert. Früh stellt John Banville die Weichen für 380 Seiten feinster literarischer Unterhaltung, die die Leser von Beginn an in ihren Bann ziehen. Auch sprachlich versteht es der Autor gekonnt, sich in die Zeit der Handlung zu versetzen und erinnert nicht selten an Bram Stoker.

Dabei macht es einem die Hauptfigur alles andere als leicht. Denn dieser Evelyn Dolman ist ein Unsympath, wie er im Buche steht. Arrogant, überheblich und mit einer ständigen Klage über seine Opferrolle müsste er einem eigentlich fürchterlich auf die Nerven fallen. Hinzu kommt, dass er sich als Ich-Erzähler äußerst unzuverlässig präsentiert. Dennoch gelingt es Banville auf beeindruckende Weise, dass man diesem Evelyn - natürlich ist bei diesem Vornamen auch seine verletzte Männlichkeit immer wieder Thema - fasziniert folgt. Das liegt auch am Humor Dolmans und der feinen Komik, die Banville immer wieder dosiert einsetzt.

Nun ist es tatsächlich am besten, “Schatten der Gondeln” ohne jegliches Vorwissen über die Handlung zu genießen. Dennoch komme ich nicht umhin, auf zwei weitere zentrale Figuren des Werkes eingehen zu müssen, um Banvilles Verneigung vor den Klassikern zu verdeutlichen. Vorhang auf für Frederick FitzHerbert - mit einem großen H - und seine Schwester Francesca, das vielleicht hinreißendste Zwillingspärchen seit Stephen Kings “The Shining”. Freddie und Cesca mischen nicht nur den armen Evelyn ordentlich auf, sondern beleben den Roman mit ihrer Mischung aus Charisma, Verwegenheit und einer gehörigen Prise ausschweifender Erotik. Gemeinsam sind sie eine Art lebendige Variante von Peter Quint und Miss Jessel aus Henry James’ “Drehung der Schraube”. Womit wir wieder bei der Verneigung vor dem klassischen Schauerroman wären.

Es ist ein großer Spaß, all die kleinen Anspielungen und Verweise auf die literarischen Vorbilder im Text Banvilles zu suchen, und sicherlich habe ich bei Weitem nicht alle entdeckt. Neben den schon erwähnten sei auf jeden Fall noch auf die “Zwergin” hingewiesen, die Evelyn während eines Fieberausbruchs pflegt und Daphne du Mauriers “Don’t Look Now” (Wenn die Gondeln Trauer tragen) gebührende Ehre erweist. Und natürlich darf auch der Ausbruch einer venezianischen Seuche nicht fehlen. Doch anders als bei Thomas Mann ist diesmal kein rettender - oder unheilbringender - Tadzio in Sicht.

Spannend ist auch das Spiel, das Banville mit den Namen betreibt. Als wäre Evelyn nicht schon feminin genug, lautete Dolmans Spottname in der Schule einst Dolly. Der Palazzo Dioscuri erinnert nicht nur an die italienische Dunkelheit “Oscurità”, sondern auch an die Zwillinge Castor und Pollux aus der griechischen Mythologie, Dioskuren genannt. Auch hier greift Banville auf das Symbol der Zwillinge zurück, das Cesca und Freddie ebenso fortführen wie Lauras Schwester Thomasina, deren Name - natürlich - “Zwilling” bedeutet.

Mit “Schatten der Gondeln” gelingt John Banville insgesamt ein großartiger Roman voller literarischer Verweise und Anspielungen, der Lust macht, wirklich jedes einzelne Rätsel des Buches lösen zu wollen. Die immer spannende und mysteriöse Handlung wird durch die bunten und komplexen Figuren wunderbar ergänzt. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass das Werk völlig unvorhersehbar ist, selbst wenn man schon einige Schauergeschichten gelesen haben sollte.

Bewertung vom 27.11.2025
Shelley, Mary

Frankenstein


sehr gut

Irgendwo im arktischen Eis des 18. Jahrhunderts: Als Kapitän Robert Walton und seine Besatzung einen völlig ausgemergelten Mann von einer Eisscholle retten, ahnen sie noch nicht, welch unglaubliche Geschichte der Gerettete ihnen in den nächsten Monaten erzählen wird. Viktor Frankenstein ist sein Name, und er ist nicht allein gekommen...

Mary Shelleys Debütroman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" erschien ursprünglich anonym im Jahr 1818 und wurde 1831 in Teilen geändert und von Shelley mit einer Einführung versehen erneut veröffentlicht. Auf diese zweite Veröffentlichung und die dazugehörige deutsche Übersetzung von Ana Maria Brock von 1987 bezieht sich diese aufwändig gestaltete und illustrierte Schmuckausgabe, die im Coppenrath Verlag erschienen ist. Verantwortlich für die Gestaltung zeichnet das Grafikdesignstudio MinaLima, das unter anderem an den Harry Potter-Filmen mitgearbeitet hat.

Nimmt man das Buch erstmals in die Hand, fällt einem zunächst einmal das Gewicht auf. Denn "Frankenstein" ist nicht nur ein literarisches Schwergewicht, sondern bringt in dieser Ausgabe auch mal eben 1,2 kg auf die Waage. Die Haptik ist hervorragend, den hochwertigen Einband hat man gern zwischen den Fingern, auch farblich gefällt die Mischung aus den Blau-Grün-Tönen der Illustrationen und der goldenen Schrift. Das Cover selbst halte ich für überfrachtet. Gleich neun verschiedene Kästchen befinden sich darauf, und man weiß gar nicht so recht, wo man hinschauen soll.

Dieses Prunkvolle oder Pompöse zieht sich wie ein roter Faden durch die 420 Seiten, und es passt ausgezeichnet zur neuen "Frankenstein"-Verfilmung von Guillermo del Toro, die kürzlich in ausgewählten Kinos lief und aktuell auf Netflix zu sehen ist: aufwändige Bilder, ausgefeilte Tricks, aber von allem auch ein wenig zu viel. Wobei das Buch natürlich dennoch als Gewinner aus diesem Duell hervorgeht, denn von der Eleganz des Romans ist del Toro mit seinem Action-Spektakel doch Lichtjahre entfernt.

Illustrierte Ausgaben und Schmuckausgaben erfreuen sich unter Buch-affinen Menschen mittlerweile ja großer Beliebtheit. Der Coppenrath Verlag hat zusammen mit MinaLima Klassiker wie "Peter Pan", "Das Dschungelbuch" und Grimmsche Märchen herausgegeben - allesamt Werke, die vermutlich ein eher jüngeres Publikum ansprechen. "Frankenstein" ist im Vergleich erwachsener und gruseliger. Allerdings muss ich gestehen, dass die Illustrationen und interaktiven Extras auf meine alt werdenden Augen doch auch sehr verspielt und manchmal ein wenig naiv wirken. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, wie eine wirklich liebevoll inszenierte Karte von Europa oder die Tagebuchaufzeichnungen von Viktor Frankenstein. Vergleiche ich aber die Illustrationen beispielsweise mit den Reclam-Ausgaben von "Das Bildnis des Dorian Gray" oder auch "Der Horla", so fehlt dem MinaLima-Design in meinen Augen eine gewisse Eleganz und Zurückhaltung. Sollte es dem Verlag gelingen, mit der neuen Schmuckausgabe auch jüngere Leserinnen für "Frankenstein" zu begeistern, hat er zweifelsohne jedoch alles richtig gemacht. Schade fand ich zudem, dass einem so aufwändigen Produkt kleine Details dann doch fehlen. Ein Lesebändchen erwarte ich in einer Schmuckausgabe, auch ein einordnendes Nachwort hätte diesem Klassiker gut getan.

Was wäre eine Buchbesprechung ohne das wirklich Wichtige: den Roman selbst. Der ist schlichtweg im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch, und man hält es kaum für möglich, dass es sich dabei um das Debüt einer 20-Jährigen handelt. Eine verschachtelte Erzählstruktur, wie aus dem Nichts eingestreute Gedichte oder auch seitenlange Briefe: Mary Shelley gelingt sprachlich eine furiose Meisterleistung, die aufgrund des langsamen Erzähltempos und den wundervollen Beschreibungen eher der Romantik als dem Horror zuzuordnen ist. Wobei man nicht außer Acht lassen darf, wie revolutionär damals auch der Inhalt war - und wie viele Genre-Autoren sich von ihm haben beeinflussen lassen.

Mit der Schmuckausgabe von Mary Shelleys "Frankenstein" gelingt dem Coppenrath Verlag insgesamt eine Veröffentlichung, die ohne Frage ins Auge sticht und sich für Bibliophile sicherlich auch hervorragend als Weihnachtsgeschenk eignet. Ob man allerdings dafür bereit ist, den stolzen Preis von 38 Euro zu bezahlen, sollte jeder für sich entscheiden. Gerade auch, weil im selben Verlag vor gerade einmal zwei Jahren schon einmal eine "Frankenstein"-Schmuckausgabe erschienen ist. Damals allerdings noch ohne MinaLima, dafür aber auch für "nur" 30 Euro.

Bewertung vom 08.11.2025
McEwan, Ian

Was wir wissen können


sehr gut

England, im Jahre 2119: Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Riesige Flutwellen haben die Kontinente überschwemmt, Europa besteht aus verschiedenen Inseln, die nur noch zu Wasser erreicht werden können. In der Bodleian-Bibliothek sucht Literaturwissenschaftler Tom Metcalfe nach einem über 100 Jahre verschollenen Gedicht. Im Jahre 2014 hatte der Dichter Francis Blundy dieses Meisterwerk seiner Frau Vivien gewidmet und damals nur einmal vorgetragen und als Unikat auf Pergament verewigt. Als der Bibliothekar ihm bei der Entschlüsselung einer kryptischen Botschaft hilft, scheint Tom dem Ziel näher zu kommen. Doch versteckt sich hinter diesem ominösen Gedicht vielleicht ein ganz anderes Geheimnis?

„Was wir wissen können” ist der neue Roman von Ian McEwan, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben bei Diogenes erschienen ist. Der Autor wagt sich ein paar Jahre nach „Maschinen wie ich” also wieder an ein zukünftiges Thema und entwirft eine Dystopie, die erschreckend real wirkt. Ob Klimakatastrophen oder kriegerische Konflikte - McEwan legt den Finger in die gegenwärtigen Wunden der Welt und nennt die Ereignisse kurz „Disruption”. Dennoch ist „Was wir wissen können” kein hoffnungsloses Buch. Die Liebe zur Literatur hat überlebt, die Menschen bilden sich weiterhin auf Universitäten. Es ist bemerkenswert, wie Ian McEwan dieser Spagat gelingt. Liebevoll platziert er fast nebenbei Kleinigkeiten, die diese neue Welt porträtieren. Orte heißen Maentwrog-under-Sea, die Menschen trinken Eichelkaffee und essen ihren Proteinkuchen. Gelungen ist auch der selbstironische Blick auf die Literaturwelt, besonders komisch in der Szene, als Blundy sein Gedicht vorträgt und jeder Gast seinen ganz eigenen Gedanken nachhängt. Eine gelungene Rolle spielt zudem die Doppeldeutigkeit des Titels auf verschiedenen Ebenen. Was können wir über die Zukunft wissen, aber auch: Welchen historischen Quellen können wir vertrauen? Oder ganz pragmatisch für uns Leser: Welche Erzählstimme ist eigentlich glaubwürdig?

Dass „Was wir wissen können” in erster Linie gar kein dystopischer Roman ist, verdanken die Leserinnen vor allem der zweiten Ebene des Buches. Während Toms Suche nach dem Gedicht schon im ersten Teil erheblichen Raum einnimmt, widmet sich die etwas kürzere letzte Hälfte der 470 Seiten nahezu ausnahmslos den Geschehnissen rund um den mittlerweile Club der toten Dichter von 2014. Denn nicht nur Francis Blundy ist der Literatur verfallen, sondern auch Vivien und viele der Gäste des legendären Abends, als Blundy sein Pergament erstmals entrollte. Dieser literarisch recht drastische Schnitt ist zwar einerseits überraschend, sorgt aber auch dafür, dass man die Welt rund um die vermeintliche Hauptfigur Tom Metcalfe komplett aus den Augen verliert.

Problematisch ist zudem die Figurenkonzeption. Fast alle Charaktere auf beiden Erzählebenen sehen sich mindestens einmal genötigt, einen Ehebruch zu begehen. Eine im Grunde unnötige Vereinheitlichung der Figuren, die lediglich einer eventuellen möglichen Annäherung über die Zeitebenen hinweg dient. Und man muss konstatieren, dass der Roman nicht über die volle Distanz trägt. Gerade im ersten Teil strapaziert Ian McEwan die Nerven der Leser mit äußerst kleinteiligen Erzählschritten und Redundanzen, so dass doch eine gewisse Langeweile einsetzt.

Im Großen und Ganzen ist „Was wir wissen können” eine recht gelungene Mischung aus Dystopie, Liebesroman und literarischem Krimi, der etwas weniger Konstruktion und eine gewisse Straffung allerdings gutgetan hätten.

3,5/5

Bewertung vom 04.11.2025
Hertmans, Stefan

Dius


gut

Kunstdozent Anton staunt nicht schlecht, als Student Egidius de Blaeser, genannt Dius, vor seiner Tür steht und nicht nur um Einlass bittet, sondern auch um die Freundschaft des zehn Jahre älteren Mannes. Dius will Anton ein konzentriertes Arbeiten an seiner Dissertation ermöglichen und bietet ihm deshalb die Chance, in einem Atelier fernab der Stadt daran zu arbeiten. Der Dozent ist überwältigt von der Natur rund um das Gutshaus und überrascht von Dius und dessen seltsamer Aura. Welches Geheimnis verbirgt der Student, wenn er sich allein auf den Dachboden zurückzieht, um sich der Kunst zu widmen?

"Dius" ist der neue Roman von Stefan Hertmans, der in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm bei Diogenes erschienen ist. Genau wie im Vorgängerroman "Der Aufgang" geht es auch in "Dius" um ein bemerkenswertes Gebäude und dessen Ausstrahlung. Doch während Hertmans im "Aufgang" noch autofiktional die bewegte und bewegende Geschichte seines erworbenen Stadthauses erzählte, siedelt er die Geschichte rund um die Männerfreundschaft zwischen Anton und Dius diesmal Anfang der 1980er-Jahre auf dem flämischen Land an.

Positiv ins Auge sticht dabei zunächst die elegante Sprache. Mit elegischer Langsamkeit widmet sich Hertmans der bildhaften Beschreibung von Mensch, Haus und Natur, bei dem der Leser sich fast selbst in einem Gemälde wähnt. "Was bedeutet es eigentlich, poetisch zu leben?", fragt sich Ich-Erzähler Anton zu Beginn des Romans und sein auf den folgenden Seiten dargestellter erster Blick auf das Dorfhaus wirkt beinahe mythologisch. Auch Dius, dessen Name natürlich nicht von ungefähr dem allmächtigen Deus ähnelt, ist nicht nur für Anton ein Faszinosum. "Ich möchte Ihr Freund sein", überrumpelt er Anton und welcher Erwachsene wagt es schon, eine solch unvermittelte Aussage zu treffen. Unangepasst, wild, schön und geheimnisvoll - manchmal glaubt man, eine leicht homoerotische Note in Antons Beschreibungen zu lesen. Man schaut sich noch einmal das schöne Cover des Buches an und seufzt.

Eine große Freude ist zunächst auch der Umgang mit Kunstwerken aller Art. Denn Anton und Dius sind nicht nur selbst Freunde der schönen Künste, auch die Leserin sollte ein grundlegendes Interesse daran haben. Was ist eigentlich das Problem an den Hundedarstellungen des Malers Vittore Carpaccio? Und ist die hochgezogene Leiter zum Dachboden die einzige Gemeinsamkeit zwischen Jacopo da Pontormo und unserem Dius? Man beugt sich interessiert über sein Smartphone und schaut sich die entsprechenden Kunstwerke an. Begleitend dazu lauscht man einem klassischen Soundtrack, denn auch die Musik durchzieht "Dius" über weite Strecken.

Problematisch ist, dass es nur sehr wenige Stellen im Text gibt, die die Handlung und Figuren wirklich voranbringen. Einmal gerät Anton in einen schweren Autounfall, in dessen Folge Dius ihm das Leben rettet. Ein anderes Mal unterläuft einer der beiden Männerfiguren ein schwerwiegender Verrat, der alles auf den Kopf stellen könnte. Tut er aber nicht. Stattdessen ergötzt sich Hertmans zunehmend an intellektuellem Namedropping. Welcher Komponist wurde noch nicht erwähnt? Und welche Eigenheit hatte nochmal jener Maler? Man hat das Smartphone mittlerweile längst weggelegt, ein Klingeln könnte den sanften Schlaf stören, in den man bei der Lektüre zu verfallen droht. Das ist außerordentlich schade, denn sprachlich leuchtet "Dius" weiterhin in den schönsten Farben.

Über die Frauenfiguren müssen wir eigentlich kaum ein Wort verlieren, sie sind nur Beiwerk dieser seltsamen Männerfreundschaft. Anton lässt seine Frau Nouka widerstandslos ziehen, seine Geliebte Lys ist halt seine Geliebte und diese junge Pia scheint die Freundschaft mit ihrem Interesse an Dius auch nur zu stören. Anton wird zudem immer unausstehlicher, sein permanentes Wehklagen überträgt sich unmittelbar auf den Leser, der den Roman irgendwann nur noch beenden möchte. Und dann auch noch auf Seite 198 das Missgeschick "jedem das Seine", vielleicht ein Übersetzungsproblem? Man greift dann doch noch einmal zum Handy und checkt kurz die Anzahl der Seiten: 340. Ist man dann schlussendlich auf den letzten Seiten angekommen, stellt sich eine gewisse Erleichterung ein. Darüber, dass man das Buch zuschlagen kann und natürlich auch darüber, dass das Finale an den guten Beginn anschließt.

2,5/5

Bewertung vom 16.10.2025
Chalandon, Sorj

Herz in der Faust


ausgezeichnet

Belle-Île-en-Mer, eine bretonische Insel, zu Beginn der 1930er-Jahre: In der Jugendanstalt Haute-Bologne herrschen grausame Zustände. Die Kinder und Jugendlichen werden nicht nur von den Aufsehern und Schließern drangsaliert, sondern gehen auch selbst aufeinander los. Immer gibt es einen Schwächeren, den man quälen und misshandeln kann. Der 19-jährige Jules Bonneau, Spitzname "Kröte", steht in der Hierarchie irgendwo in der Mitte. Von den stubenältesten Kapos erfährt er keine Unterstützung, doch anders als viele der anderen Jungen teilt er nicht nur nach unten aus. Freundschaft ist für die Jugendlichen ein Fremdwort, jeder ist sich selbst der Nächste. Nach einem gewaltvollen Aufstand und anschließenden Ausbruch sieht er sich ausgerechnet mit dem vermeintlich schwächsten Jungen Camille Loiseau auf der Flucht. Doch die Heimleitung hat die Jagd auf die Ausbrecher längst eröffnet und den Inselbewohnern zudem ein Kopfgeld versprochen...

"Herz in der Faust" ist der neue Roman von Sorj Chalandon, der in der deutschen Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große bei dtv erschienen ist. Und wie schon der Vorgänger "Verräterkind" ist es ein großartiger Roman geworden, ein literarischer Wutausbruch erster Güte. Vom ersten Moment an gibt Chalandon Rhythmus und Tempo vor. Kurze, kraftvolle Sätze bestimmen das Leben in der Anstalt, Namen und Ränge sind Schall und Rauch. Die Figuren erhalten zwar welche, doch sind sie schnell wieder vergessen in diesem Rausch aus Gewalt und Erniedrigung. Jede Chance auf Individualität ist dahin, wenn man sich nicht durch Kampfnamen wie "Kröte" auszeichnet oder im schlechtesten Fall auch noch mit einem Nachnamen wie Loiseau, das Vögelchen, gezeichnet ist. "Wir sind der Wildwuchs. Die Quecken. Das Ungeziefer", heißt es an einer Stelle.

Nun ist die Lektüre wahrlich keine leichte Kost, drastisch und explizit sind die Darstellungen im Heim. Geschickt spielt Chalandon mit Perspektivwechseln, auf die ich gerade zu Beginn der Lektüre immer wieder hereingefallen bin. Protagonist und Ich-Erzähler Jules schildert nämlich oftmals übergangslos seine Fantasien, die tatsächlich noch härter ausfallen als die Realität. Trotz dieser Härte und Gewalt gelingt es dem Autor, Empathie für seine Hauptfigur zu wecken. Weil man spürt, wie wichtig es ihm ist, das gesellschaftliche und juristische Unrecht der damaligen Zeit aufzuzeigen und anzuprangern. Und weil sich seine eigene Empathie unmittelbar auf mich übertrug. "Herz in der Faust" setzt ganz eindeutig auf Intensität und Emotion, eben auf Herz und Faust. Manchmal fühlte ich mich fast überwältigt von dieser Wut, diesen überbordenden Gefühlen allüberall. Hinzu kommt, dass das Buch unglaublich mitreißend und mit großem Spannungsbogen erzählt ist.

In der zweiten Hälfte des Romans ändert sich der Ton ein wenig, was auch daran liegt, dass Jules erstmals in seinem jungen Leben so etwas wie Mitgefühl und Nächstenliebe erfährt. Chalandon gelingen hier ambivalente Figuren wie Krankenschwester Sophie oder der gerade im Vergleich zur ersten Hälfte wohltuend warmherzige Sardinenfischer Ronan. Jules kann sich ausprobieren und entfalten und passend zu einem Jugendlichen konnte ich nicht jede seiner Handlungen nachvollziehen. Denn nach wie vor befindet sich das Herz in seiner Faust - oder zumindest ein Teil davon. Das Buch stellt hier die richtigen Fragen nach Moral und vermittelt Werte wie Solidarität und Menschlichkeit. Und würde der Roman auf Seite 395 enden und nicht drei Seiten später, könnte man von einem bewegenden und großen Finale sprechen. Dieses bleibt den Leserinnen jedoch vergönnt, weil es sich Chalandon nicht nehmen lässt, der fiktiven Figur einen etwas überflüssigen Epilog auf den Leib zu schreiben.

Ein kleiner Wermutstropfen eines insgesamt erstaunlich intensiven Romans, der lange in Erinnerung bleibt und in Frankreich das bislang erfolgreichste Werk von Sorj Chalandon ist. Und das obwohl - oder weil - er der Grande Nation deutliche historische Missstände vor Augen führt, die durch die politischen Anspielungen der bretonischen und baskischen Figuren und den Umgang mit Minderheiten durchaus auch einen aktuellen Bezug aufweisen. Nachdem ich von den letzten beiden Romanen Chalandons nun gleichermaßen begeistert bin, bedeutet es für mich persönlich wohl, dass ich nicht umhinkommen werde, mich früher oder später auch mit seinen älteren Werken zu befassen.

Bewertung vom 14.10.2025
Heinesen, William

Noatun


ausgezeichnet

Das Leben in Noatun ist hart und beschwerlich. Die Menschen in der neu gegründeten Siedlung auf den Färöer Inseln leben vom Fischfang und von der Ernte. Größere Orte sind entweder nur mit dem Boot oder zu Fuß über die Berge zu erreichen. Doch Angelund, Niels Peter und die anderen sahen in ihrem vorherigen färöischen Kleinstadtleben einfach keine Perspektive mehr und ließen sich auf dem neuen Land nieder. Als ein Steinschlag das Haus von Sara und Halvdan beschädigt, kommen den Siedlern erste Zweifel: War es wirklich die richtige Entscheidung, nach Noatun zu ziehen?

“Noatun” ist das zweite Buch des färöischen Autors William Heinesen (1900 - 1991) nach der Erzählsammlung “Hier wird getanzt!”, das bei Guggolz erschienen ist. Übersetzt wurde der Roman aus dem Dänischen von der leider verstorbenen Inga Meincke und Verena Stössinger. Ergänzt wird die einmal mehr gelungene Ausgabe des Verlags durch ein informatives und einordnendes Nachwort des Skandinavisten Klaus Müller-Wille und einen emotionalen Brief der färöischen Autorin Sólrún Michelsen an Inga Meincke. “Noatun” stammt aus dem Jahre 1938 und wurde bereits 1940 erstmals ins Deutsche übersetzt - allerdings offenbar aus politisch-ideologischen Gründen entscheidend gekürzt.

Nun liegt der Roman also erstmals vollständig auf Deutsch vor. Und bereits der Beginn ist eine einzige Wonne. Wenn die Fallwinde “mit einem wilden, unbändigen Wiehern die Bergpässe herabkommen” oder wenn der Siedlungsälteste Angelund ein Gefauche von den Bergen hört, wähnt man sich als Leser kurz in Maria Borrélys naturalistischem Roman “Mistral”. So lebendig, metaphorisch und emotionsgeladen sind die Naturbeschreibungen auf den ersten Seiten. Auch wenn sich diese Beschreibungen in der Folge nicht so explizit durch das Romangeschehen ziehen wie bei Borrély, tauchen sie doch immer wieder auf und machen allein schon wegen der Sprache aus “Noatun” ein großes literarisches Vergnügen.

Positiv hervorzuheben ist zudem die Figurenzeichnung. William Heinesen verzichtet über weite Strecken auf einen Protagonisten und setzt auf einen Kollektivroman. Das mag zwar eine größere Identifikation der Leserin verhindern, hat aber den Vorteil, dass man ein so umfangreiches, kauziges und überwiegend liebenswertes Personal in der Literatur wohl so schnell kein zweites Mal findet. Da ist beispielsweise Niels Peter, der von Beginn an als eine Art zentrale Instanz von Noatun präsentiert wird und sich im Laufe der Lektüre dann doch zu einer heimlichen Hauptfigur aufschwingt. Bei Niels Peter laufen sämtliche Fäden zusammen, ob im Privatleben oder mit Blick auf die Fischerei und das Bauernleben in beruflicher Hinsicht. Da ist Sinklar, ein Hansdampf in allen Gassen, der sowohl als männliche Hebamme als auch als Schatzsucher etwas taugt. Und da ist Sara, die vielleicht tragischste Figur des Romans, deren Anwesenheit oder Verwandtschaftsgrad offenbar reicht, um den Tod ständig vor Augen zu haben. Nahezu alle Figuren aus “Noatun” leben zudem eine fast unbändige Solidarität vor, was bei ihnen und dem gesamten Roman für hohe Sympathiewerte sorgt. Einer springt für den anderen ein, die Noatun-Leute begegnen sich untereinander überwiegend mit großem Respekt. Gegen alle Widerstände setzt sich diese Gruppe von Außenseitern für sich und ihre neue Heimat ein. Zentrale Themen sind neben der Heimat aber auch der Umgang mit dem Tod, mit Trauer, aber auch mit der Liebe und der Geburt neuer Noatun-Bewohner.

Inhaltlich und vom Aufbau erinnert “Noatun” stark an Knut Hamsuns Literatur-Nobelpreis-Roman “Segen der Erde”. Irgendwo im Norden lassen sich hier wie da Siedler nieder, die Gemeinschaft steht irgendwo zwischen mythologischem Glauben und Moderne. Auch der technologische Fortschritt ist in beiden Romanen ein zentrales Thema. Anders als im “Segen der Erde” spielt ein beträchtlicher Teil von “Noatun” allerdings direkt auf hoher See. Und, vielleicht noch entscheidender, “Noatun” strahlt nicht diese gewisse Strenge aus, die es bei Hamsun gibt. Verantwortlich dafür sind vor allem die Dialoge, die Heinesen einerseits lebensnäher und andererseits immer wieder auch mit viel Witz präsentiert. Erwähnenswert ist hier vor allem die Figur des klassischen Antihelden Ole, dem nichts gelingen will - und der sich mit einem großen, einst in der deutschen Version gekürzten, Knall aus dem Roman verabschiedet.

Dass “Noatun” auf seinen knapp 400 Seiten vor allem auf anekdotisches Erzählen setzt, hat seine Vor- und Nachteile. Der Roman wirkt dadurch sehr abwechslungsreich und unterhaltsam. Andererseits kann nicht jede Episode gleichermaßen überzeugen, so dass sich vor allem im letzten Drittel die ein oder andere Länge einschleicht.

Insgesamt unterstreicht der Guggolz Verlag mit “Noatun” aber einmal mehr eindringlich sein Gespür für unbedingt lesenswerte Klassiker aus Skandinavien. Auf weitere Veröffentlichungen von William Heinesen darf man hoffen.

4,5/5

Bewertung vom 16.09.2025
Tägder, Susanne

Die Farbe des Schattens


ausgezeichnet

Wechtershagen, im Winter 1992: In der Plattenbausiedlung auf dem Mönkeberg verschwindet der elfjährige Matti auf dem Weg zum Einkaufen. Kurz zuvor hatte er sich noch mit seinem Freund Axel unterhalten, im nächsten Moment fehlt von dem Jungen jede Spur. Hauptkommissar Arno Groth startet umgehend eine großangelegte Suchaktion, die jedoch erfolglos bleibt. Hinzu kommt, dass Groth nicht mehr auf seinen kongenialen Partner Gerstacker setzen kann, dem nach dem Aufdecken seiner Stasitätigkeit gekündigt wurde. Für Groth ein denkbar schlechter Zeitpunkt, sich um die frei werdende Leitungsposition zu bewerben...

"Die Farbe des Schattens" ist nach "Das Schweigen des Wassers" der zweite literarische Kriminalroman von Susanne Tägder, der im Tropen-Verlag erschienen ist. Die Handlung spielt einige Monate nach dem Debütband. Tägder entwickelt darin ihre Hauptfigur Arno Groth konsequent weiter. Wie beim Vorgänger orientiert sich die Autorin an realen Kriminalfällen und verknüpft diese zu einer gelungenen Mischung aus Spannung, Authentizität, Melancholie und Emotionen. Leserinnen anspruchsvoller Kriminalliteratur sollten sich von dem etwas zu sehr auf Thriller gepolten Cover nicht abschrecken lassen. Denn schon die voranstehenden Zitate von Uwe Johnson und Friedrich Dürrenmatt zeigen, dass "Die Farbe des Schattens" mehr ist als nur ein schnöder deutscher Krimi.

Wobei diesmal insbesondere Uwe Johnson im Vordergrund steht. Anders als im ersten Band liest Arno Groth nämlich in dessen Werk und nicht mehr Franz Kafka. Was im Vergleich zum tendenziell leicht stärkeren Vorgänger zudem fehlt, ist der Musikbezug. Während die Leserschaft in "Das Schweigen des Wassers" noch von den Puhdys in deren melancholische Welt hineingezogen wurde, ist diesmal nichts Vergleichbares zu erkennen. Dafür ist der Kriminalfall und dessen Aufarbeitung aber gewohnt stark. Zwar muss man zunächst einmal verdauen, dass die Figur Gerstacker nicht mehr dabei ist, doch bietet die Anknüpfung an einen Cold Case sechs Jahre zuvor Groth zumindest die Gelegenheit, seinen ehemaligen Kollegen diesbezüglich zu kontaktieren. In seiner Melancholie und dem Kriminalfall um einen verschwundenen Jungen erinnert "Die Farbe des Schattens" zudem mehr als einmal in positiver Hinsicht an Friedrich Anis Meisterwerk "Ermordung des Glücks".

Tägder schildert die Arbeit der Kriminalpolizei akribisch. Bei den authentisch wirkenden Verhören ist der Leser genauso nah dabei wie bei den Konferenzen der Polizei mit dem neuen Staatsanwalt. Ein großes Plus ist zudem wie gewohnt die Figurenzeichnung. Ob Ermittler, Zeuginnen und Verdächtige; ob Kinder oder Erwachsene - Susanne Tägder trifft mit ihren bemerkenswert ausgefeilten Charakteren stets den richtigen Ton. Äußerst gelungen ist auch die Aktualität des Romans. Obwohl dieser kurz nach der Wende im Jahr 1992 spielt, finden sich - und man muss es wohl bedauern - erstaunlich viele Anknüpfungspunkte an die Gegenwart. Es gibt die Menschen, die sich in Ostdeutschland als Verlierer der Wende empfinden. Es gibt eine zunehmende Radikalisierung der Kinder und Jugendlichen. Es gibt Grundschüler, die auf dem Schulhof rechtsradikale Parolen brüllen und ältere Schüler, die sich Springerstiefel wünschen. Und es gibt mit der Taxifahrerin Ina eine komplexe Frauenfigur, die sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann versteckt. Und ja, all das spielt 1992 - aber es könnte in dieser Hinsicht genauso gut heute spielen.

Mit "Die Farbe des Schattens" bestätigt Susanne Tägder die Qualität ihres Debütromans und beweist, dass es auch einer Frau gelingen kann, das bislang rein maskuline deutschsprachige Krimi-Triumvirat um Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner zu sprengen. Die Vorfreude auf den dritten Band um den empathischen Ermittler Arno Groth ist jedenfalls groß.

Bewertung vom 02.09.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


ausgezeichnet

Ungarn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Baron Sándor von Lázár traut seinen Augen nicht. Dieser hellblonde Junge mit den seltsamen blauen Augen und der durchsichtigen Haut soll sein Sohn sein? Ganz geheuer ist ihm der kleine Lajos jedenfalls nicht. Lieber setzt er ihn zunächst einmal an den Esstisch zu seinem minderbemittelten Bruder Imre. So gehen die Jahre im Waldschloss der adeligen Familie dahin. Lajos wächst im Schatten des ungeliebten Vaters zu einem jungen Mann heran und zieht ins Internat. Irgendwann ist das Kaiserreich Geschichte und der Krieg steht vor der Tür. Und es dauert nicht mehr lange, bis Lajos selbst Verantwortung übernehmen muss. Für das Waldschloss und für die Geschicke der Familie von Lázár...

"Lázár" ist der neue Roman von Nelio Biedermann, der bei Rowohlt Berlin erschienen ist. Es ist sein zweiter Roman nach "Anton will bleiben", der 2023 im Schweizer Arisverlag seine Premiere feierte.

Nun ist es ja immer eine solche Sache mit den Vorschusslorbeeren. Was ist es wert, dass Daniel Kehlmann auf der Rückseites des Buches schreibt, dessen Erscheinen wäre ein "Donnerschlag"? Die "Süddeutsche Zeitung" fragt sich, ob es sich bei dem gerade einmal 22-jährigen Nelio Biedermann um den neuen Thomas Mann handele. Und in der "Zeit" übertitelt mit Adam Soboczynski immerhin einer der angesehensten Literaturkritiker das Porträt des jungen Schweizers mit "Der neue Zauberer". Noch dazu erscheint das Buch in mehr als 20 Ländern und 18 Sprachen. Don't believe the Hype - oder?

Nach der Lektüre stellt man fest: Alles ist wahr! "Lázár" ist schlichtweg fantastisch geworden. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob Sätze wie "Sie sehnte sich nach dem Meer und fürchtete den herannahenden Winter, der wie ein wilder Reiter mit eisiger Klinge aus dem Nordosten auf sie zupreschte" wirklich aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stammen. Oder auch: "Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie." Was wie ein Klassiker anmutet, ist in Wahrheit ein 22-jähriger Schweizer, der mit seiner Sprache völlig aus der Zeit gefallen scheint.

Auf 330 Seiten erzählt Biedermann mit großer Geste und sprachlichem Überschwang von mehr als 50 Jahren des 20. Jahrhunderts, von zwei Weltkriegen, dem Verfall der Monarchie und dem Niedergang einer Familie, die ein bisschen auch seine eigene ist. Schließlich stammen der Autor und seine Familie selbst aus dem ungarischen Adel.

Gerade zu Beginn erinnern Sprache und Motive an ein düsteres Märchen, wie wir es zuletzt vielleicht am ehesten bei Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" kennenlernen durften: das Schloss, der Wald, der noch dazu offenbar von einem seltsamen Waldvolk bewohnt wird, dem ein ganz besonderer an den "Erlkönig" erinnernder Auftritt gelingt. Mit zunehmender Dauer kommen zahlreiche literarische Verweise hinzu. Lajos' verrückt-kluger Onkel Imre erhält nächtlichen Besuch von einem Mann, der ihm ein Buch von E. T. A. Hoffmann aufs Bett legt. In einem Zug treffen die Hauptfiguren Carl Zuckmayer. Der "Tod in Venedig" ist genauso präsent wie Marcel Proust und Virginia Woolf. Und erinnert die Szene, in der Sándor seine Geliebte durch die Stadt verfolgt nicht ein wenig an Knut Hamsuns "Hunger"? Das Besondere ist, dass Nelio Biedermann aus all diesen Verweisen etwas so Originäres und Originelles schafft, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, hier wolle jemand seinen Idolen nacheifern.

Doch, Vorsicht: Wer sich von der Schönheit der Sprache zu sehr einlullen lässt, stolpert womöglich etwas unvermittelt über die ein oder andere Vulgarität. In den adeligen Betten geht es manchmal bis zur Ekelgrenze zur Sache. Eine Figur kotzt der Leserin auch mal vor die Füße. Vielleicht trifft man auch auf Charaktere, denen man lieber nicht begegnet wäre. Dem sich einnässenden Stalin beispielsweise. Oder Caspar, Balthasar und Melker, einer pervertierten Art der Heiligen Drei Könige.

Hervorzuheben ist unbedingt auch noch die formale Besonderheit des Romans. Biedermann bricht schon mal mit der klassischen Erzählstruktur und platziert recht unvermittelt ein Gedicht mitten im Kapitel. Oder er lässt auf knapp zwei Seiten einen einzigen Satz dahinwabern, um eine der wichtigsten Figuren in den Tod zu begleiten. Die Chronologie der Ereignisse hält er auch nicht immer ein. Nicht zu vergessen die Ausflüge auf die Metaebene, bei denen der Schrifsteller schon einmal angeklagt wird, die Privatsphäre seiner Figuren zu missachten und für diese Schicksal zu spielen.

All das fügt sich so wundervoll und ideenreich zusammen, dass man nicht umhinkommt, "Lázár" als Meisterwerk zu bezeichnen. Am Ende stellt sich eigentlich nur noch die Frage, warum dem Roman kein Stammbaum hinzugefügt wurde, um die recht komplexen Familienstrukturen auch mal bildlich vor Augen zu haben. Und warum das Buch nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht. Ganz ehrlich. Believe the Hype!

Bewertung vom 29.08.2025
Perry, Rob

Der Große Gary


gut

Der 18-jährige Benjamin Glass leidet an verschiedenen Phobien. Wenn ein Lieferant ihm Essen bringt, setzt er vorsichtshalber schon einmal den Mundschutz auf. Kontakt zu Tieren meidet er völlig, sie könnten ja Bazillenschleudern sein. Umso ärgerlicher für Benjamin, dass der Windhund, den er am Strand irgendwo an der englischen Küste trifft, ausgerechnet an seiner Hand leckt. Noch dazu, weil der Hund sich zuvor an einem toten Wal zu schaffen gemacht hatte. Da das Tier ihm fortan nicht mehr von der Seite weicht, sieht Benjamin sich gezwungen, es mit nach Hause in den Caravan Park zu nehmen, wo er alleine lebt, seitdem seine Großmutter im Krankenhaus liegt. "Der große Gary", so steht es auf dem teuren Halsband des Hundes, hat offenbar einen Narren an dem jungen Außenseiter gefressen. Doch als klar wird, dass Gary ein äußerst erfolgreicher Rennhund ist, nehmen die Probleme ihren Lauf. Denn Besitzer Alf will auf keinen Fall auf das Geld bringende Tier verzichten, und ihm scheint dabei jedes Mittel recht...

"Der große Gary" ist der Debütroman des englischen Autors Rob Perry, der in der deutschen Übersetzung von Hanna Große bei Dumont erschienen ist. Das Cover des Buches ist wunderbar gewählt, sogar besser als beim englischen Original "Dog". Sogleich möchte man als Leser diesen verletzlich wirkenden Hund in seine Arme schließen. Und so geht es irgendwann natürlich auch Benjamin, das ist von der ersten Zeile an abzusehen. In Gary findet Benjamin einen treuen Gefährten, einen verlässlichen Begleiter in seiner Einsamkeit. Hinzu kommt, dass man unweigerlich an die vielleicht bemerkenswerteste Szene des großartigen "Kriegslicht" von Michael Ondaatje denkt, in der Protagonist Nathaniel eben einen solchen Windhund auf seinen 14-jährigen Armen die Treppen hochträgt. Nun ist Benjamin Glass geringfügig älter, aber irgendwann trägt auch er den Hund. Trotz seiner Phobien. Und trotz seiner Zerbrechlichkeit, die man nicht nur in seinem Nachnamen findet.

Die erste Hälfte des Romans funktioniert ganz wunderbar. Mit Leonard hat die wohl interessanteste Figur des Buches ihren großen Auftritt. Der besagte Essenslieferant teilt Benjamin nämlich erst mit, in welcher Gefahr dieser steckt. Fortan entwickelt sich eine Art Road Novel, in der die beiden Figuren starke Dialoge führen, die eine gelungene Mischung aus Albernheiten und Tiefsinn, aus Philosophie und Blödsinn sind. Dabei können sich sowohl Benjamin als auch die Leserinnen nie ganz sicher sein, ob man diesem Leonard überhaupt trauen kann. Zu ambivalent scheint er mit seiner Geldnot und seinen Andeutungen, doch gleichzeitig strahlt dieser Mann eine melancholische Wärme und Tiefe aus. Rob Perry findet hier nahezu immer die Balance zwischen Witz, Spannung und Emotionen.

Doch nimmt man das durchaus überraschende Finale einmal aus, verliert "Der große Gary" in der zweiten Hälfte der 300 Seiten diese Balance völlig. Fast wirkt es so, als wollte Perry bewusst überdrehen, als wollte er eine Unglaubwürdigkeit durch die nächste noch toppen. Das ist schade, denn die Coming-of-Age-Geschichte zeigt über weite Strecken, welch großes Potenzial in ihr steckt. Insbesondere die Figur Camille, Benjamins Chefin im Supermarkt, zerstört das Gefüge, zerstört vielleicht sogar den Roman. Plötzlich wirken die Dialoge lächerlich und ärgerlich. Wenn diese Camille darüber schwadroniert, ob Gary eventuell der wiedergeborene Großvater Benjamins ist und sich im nächsten Moment todesmutig auf die Hunderennbahn begibt, bleibt kein Auge trocken. Zumindest, wenn man Slapstick-Humor oder Belanglosigkeiten mag. Mich haben diese Auftritte völlig rausgebracht. Und so dauert es bis zum wieder gelungeneren Ende, bis man als Leser zumindest ansatzweise wieder die Warmherzigkeit spürt, mit der "Der große Gary" auf den ersten 100 Seiten noch punkten konnte.

Insgesamt ist "Der große Gary" ein Coming-of-Age-Roman mit gelungenen Männerfiguren, einem liebenswerten Hund, viel Potenzial, aber einer völlig überdrehten und unglaubwürdigen zweiten Hälfte. Wer Windhunde mag, greife lieber doch erst einmal zu "Kriegslicht".

Bewertung vom 24.07.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Als Markus seiner zwölfjährigen Tochter Sofie ein Ticket für das Konzert ihrer Lieblingssängerin in Stuttgart schenkt, ahnt er nicht, dass er damit ihr Todesurteil gesprochen hat. Denn Sofie ist eines der Opfer eines islamistischen Anschlags nach dem Konzert. Wie geht ein Vater mit den Schuldgefühlen um, die ihn nach dem Verlust des einzigen Kindes plagen? Was bedeutet ein solcher Verlust für eine Familie? Und wie kann man überhaupt weiterleben? Darüber schreibt Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman "Eden", erschienen bei Galiani.

Jan Costin Wagner ist ohne Zweifel eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Krimireihe um den pädophilen Ermittler Ben Neven ist wohl so kontrovers und mutig wie derzeit keine andere im Genre. Mit "Eden" bewegt sich Wagner emotional und thematisch eher in Richtung seiner Kurzgeschichtensammlung "Sonnenspiegelung". Denn auch dort geht es um die großen Themen wie Liebe, Trauer, Tod und Schuld.

Wagner setzt in seinem neuen Roman auf eine multiperspektivische Herangehensweise. Hauptfigur ist der hinterbliebene Vater Markus, dessen Perspektive zusammen mit denen von Mutter Kerstin und Schulfreund Tobias ein psychologisch komplexes Bild vom Umgang mit der Trauer zeichnet. Bemerkenswert sind vor allem die Dialoge, die gleichzeitig so wenig wie viel sagen. Wagner deutet an, setzt auf Auslassungen und Satzfragmente, immer wieder stehen drei Pünktchen für das Unsagbare, das Unaussprechliche. Selbst der allwissende Erzähler passt sich dem zeitweise an, weil er selbst nicht aussprechen kann, was nicht sein darf. Es ist erstaunlich, mit welcher Tiefe sich die Emotionen der Figuren nicht nur durch dieses Stilmittel unmittelbar und intensiv auf die Leser übertragen.

Es schmerzt, wenn Markus und Kerstin so mit sich selbst und ihrem Verlust zu kämpfen haben, dass sie sich keinen Trost schenken können. Es schmerzt, wenn Tobias in seiner Trauer allein gelassen wird, weil seine Eltern irgendwo zwischen Alkohol und Arbeitslosigkeit dahindarben. Es ist herzzerreißend, wenn Markus in der leerstehenden Wohnung des Attentäters sitzt und diese für seine verstorbene Tochter anmieten möchte.

Neben den bereits angesprochenen Themen geht es Jan Costin Wagner auch um die Vergänglichkeit und das Ende der Kindheit. Während Tobias beispielsweise dazu gezwungen ist, mit seinen zwölf Jahren erwachsene Aufgaben wie die Pflege von Sofies Grab zu übernehmen, weil kein anderer dazu die Kraft hat, trägt Markus mit seiner Architekturfirma zum Abriss des Freibads bei, in dem er und Kerstin als Jugendliche zueinander fanden. Ganz zu schweigen natürlich vom jähen Ende von Sofies Kindheit. Die vielleicht traurigste Szene überhaupt ist jedoch, als Markus seiner dementen Schwiegermutter Sofies Tod verheimlicht, um diese in ihren letzten Tagen dem Schmerz nicht aussetzen zu wollen. Eher am Rande geht es zudem um die politischen Auswirkungen des Attentats, beispielsweise wenn Markus gemeinsam mit der Vorsitzenden einer rechtsgerichteten Partei an einer Talkshow teilnimmt. Oder wenn Tobias' Vater immer stärker nach rechts driftet und damit seine wenigen Freundschaften aufs Spiel setzt.

Bei aller Traurigkeit ist "Eden" dennoch kein ausschließlich düsteres Buch geworden. Immer wieder schimmert Warmherzigkeit durch, Liebe - und Hoffnung. Denn in der gemeinsamen Trauer bilden sich neue Verbindungen, neue Aussprachen und Chancen. Hier berührt insbesondere die Figur Tobias, die moralisch und emotional wächst und den Roman praktisch überstrahlt.

So ist "Eden" insgesamt ein funkelndes Juwel der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dem es gelingt, die Leserschaft auf ganz verschiedenen Ebenen zu berühren und zum Nachdenken zu bewegen - ein abermals großer Wurf von Jan Costin Wagner.