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Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 156 Bewertungen
Bewertung vom 02.10.2023
Die November-Schwestern
Johnson, Josephine W.

Die November-Schwestern


ausgezeichnet

Irgendwo in den USA zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise: Das Leben der Familie Haldmarne ist geprägt von Entbehrungen, Armut und harter Arbeit. Die drei ungleichen Schwestern Marget, Merle und Kerrin unterstützen ihre Eltern dabei so gut sie können. Als mit Grant ein junger Mann auf der Farm angestellt wird, gerät das ohnehin fragile Gleichgewicht aus den Fugen. Eine zusätzliche Belastung ist der ausbleibende Regen. Während ein benachbarter Farmer von seinem gepachteten Gut vertrieben wird, rückt das Unglück auch für die Haldmarnes immer näher...

"Die Novemberschwestern" ist der Debütroman von Josephine W. Johnson (1910 - 1990) aus dem Jahre 1934. 1935 erhielt sie dafür den Pulitzer-Preis und ist damit bis heute die jüngste Preisträgerin. Umso überraschender, dass es bisher keine deutsche Übersetzung des Romans auf dem Markt gab. Der Aufbau Verlag hat dies nun glücklicherweise geändert und eine hervorragende Übersetzung von Bettina Abarbanell veröffentlicht.

Es ist ein besonders aus sprachlicher Sicht bemerkenswerter Roman. Gleich die ersten Wörter geben den traurig-poetischen Tonfall vor, den das Werk während seiner gut 220 Seiten auch nicht mehr verlieren wird. "Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen", lautet der erste Satz und nimmt damit direkt Bezug auf den Originaltitel "Now In November". Josephine W. Johnson erschafft mit ihrer Sprache eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Einen ansatzweise ähnlichen Sound las ich zuvor höchstens bei Maria Borrélys „Mistral“ oder „Chita“ von Lafcadio Hearn. Jedem Satz merkt man ihre Liebe zur Natur an, ohne dass dabei etwas verklärt oder beschönigt wird. Denn gerade die Beschreibungen der Natur sind voller Intensität. Sei es der bedrohliche Wirbelsturm, der die Hoffnung auf Regen mit sich bringt. Sei es der Herbst mit seinen welkenden Blättern oder die Sommerhitze, die die Natur mehr und mehr austrocknet. Johnson kann sich getrost als Vorläuferin des modernen "Nature Writing" bezeichnen lassen. Doch die explizite Darstellung klimatischer Verhältnisse ist nicht das einzige heute noch aktuelle gesellschaftliche Thema. Auch Rassismus oder der Umgang mit Diversität machen aus "Die Novemberschwestern" ein überraschend zeitgemäßes Werk.

Erstaunlich sind auch die Erzählperspektive und die daraus resultierende Figurenkonzeption. Denn alles, was wir lesen, erfahren wir lediglich aus der Sicht von Ich-Erzählerin Marget, der mittleren Schwester. Sie ist diejenige, die ihre ältere Schwester Kerrin als krank bezeichnet. Sie ist diejenige, die sich selbst permanent als eine Art Mauerblümchen präsentiert und den Wettbewerb mit ihrer kleinen Schwester Merle um den Farmangestellten Grant scheut, obwohl sie klammheimlich an fast jedem Kapitelende von ihrer Liebe zu diesem erzählt.

Wer sich auf die „Novemberschwestern“ einlässt, und das ist dringend empfohlen, sollte auf jeden Fall geduldig sein. Denn über weite Strecken ist das Erzähltempo sehr langsam, fast entschleunigend, was wegen der fantastischen Sprache aber kein Nachteil ist. Und nach einem kleineren Durchhänger in der Mitte des Romans nimmt die Dramatik im letzten Drittel gewaltig zu, um in einem wahrlich bewegenden Finale zu enden.

Josephine W. Johnson gelingt es auf grandiose Art, ihren tieftraurigen, teils fast schon deprimierenden Inhalt in eine so funkelnd-furiose Sprache zu kleiden, dass durch diesen Kontrast ein wunderbar gelungener Roman entsteht, dem ich viele Leser:innen wünsche. Ein wenig bedauerlich ist nur, dass dem Buch ein einordnendes Nachwort zu Werk und Autorin fehlt.

Bewertung vom 29.09.2023
Absturz
Kristensen, Tom

Absturz


ausgezeichnet

Kopenhagen, Mitte der 1920er-Jahre: Der Kulturredakteur Ole Jastrau lebt mit seiner Frau Johanne und Söhnchen Oluf eigentlich in geregelten Verhältnissen. In seiner Tätigkeit für die Zeitung "Dagbladet" bespricht er Bücher, er hat einen intakten Freundeskreis. Doch passend zu den politisch unruhigen Verhältnissen ergreift auch Ole eine innere Unruhe. Als sich zwei ehemalige Weggefährten im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm einnisten, nimmt das Unheil seinen Lauf. Ole Jastrau verfällt mehr und mehr dem Alkohol und sieht sich und sein Leben dem Absturz entgegentaumeln...

Tom Kristensen (1893 - 1974) schrieb den Roman "an seinem eigenen Leben entlang", heißt es im Klappentext von "Absturz", das jüngst in der deutschen Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg bei Guggolz erschienen ist. Das dänische Epos sollte trotz seiner Länge mühelos an die Erfolge, die der Verlag beispielsweise mit den Vesaas-Übersetzungen erzielte, anknüpfen können. Denn der laut Guggolz "bedrohlich funkelnde dänische Monumentalroman" ist nicht weniger als ein Meisterwerk der Literatur.

"Bedrohlich funkelnd" trifft den Kern von "Absturz" dann tatsächlich auch hervorragend. Man könnte auch sagen: Ein Prosit der Ungemütlichkeit! Nahezu von Beginn an legt sich nämlich eine Noir-Atmosphäre über den Roman. Das abendliche Kopenhagen wird vom verschwommenen Licht der Straßenbahnen reflektiert. Irgendwo leuchtet ein Neonschild. In der "Bar des Artistes" - was für ein Name - sitzen die Männer des Kopenhagener Kulturbetriebs mit ihren Hüten zusammen, sie rauchen und trinken. Irgendwann setzt natürlich auch der Regen ein und prasselt gegen die nächtlichen Scheiben der "Dagbladet"-Redaktion. Tom Kristensen gelingt es, das gesellschaftliche und politische Kopenhagen der 1920er-Jahre zum Leben zu erwecken und die Leserschaft direkt um 100 Jahre zurückzukatapultieren.

Zu Beginn des Romans fühlt man sich wie in einem Theaterstück, einer Art Kammerspiel. Kristensen lässt die Leserschaft teilhaben an Jastraus Überforderung, an seiner Zerrissenheit. Jede Regung, jeder Gesichtsausdruck werden beschrieben. Als schaute man auf eine Bühne. "Jastrau starrte an die weiße viereckige Decke. Leer wie seine Weltanschauung", heißt es gleich auf der ersten Seite des Romans. Durch diese zwei kleinen prägnanten Sätze ist der Tonfall für die kommenden fast 660 Seiten vorgegeben. Man wird den leeren Ole Jastrau keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Keine einzige Szene in "Absturz" kommt ohne diesen klassischen Antihelden aus.

Äußerst gelungen ist es auch, wie Kristensen es versteht, die drei literarischen Textgattungen Epik, Lyrik und Dramatik kongenial miteinander zu verbinden. Die dramatischen Elemente finden sich nicht nur in den zahlreichen Dialogen, sondern auch in der oben geschilderten Detailverliebtheit in Bezug auf Räume und Orte. Sprachliche Höhepunkte sind die seltenen lyrischen Passagen. Kristensen legt dabei beispielsweise sein eigenes Gedicht "Angst" dem rebellischen Kommunisten Steffensen, einer der schillerndsten Figuren des Romans, in den Mund.

Ein weiteres Plus von "Absturz" ist die Figurenkonzeption. Neben dem wunderbar ambivalenten Jastrau ist dabei vor allem der schon erwähnte Stefan Steffensen zu nennen. Steffensen ist der rebellische Sohn des Apothekers und Autors H.C. Stefani, dem wiederum in diesem gesamten Drama trotz nur weniger Auftritte eine ganz besondere Rolle zufällt. Steffensen ist so etwas wie der wilde Gegenpol zu Ole Jastrau. Eine Art kommunistisches Gespenst aus dessen Jugend. Steffensen verkörpert all das, wofür Ole selbst einst stand. Für Poesie, für Idealismus und Kommunismus. Auf der anderen Seite ist er ein Schmarotzer, der Jastrau nach Strich und Faden ausnimmt und irgendwann sogar dessen Wohnung übernimmt. Die beiden verbindet eine herzliche Hassliebe, über weite Strecken des Romans können sie weder ohne- noch miteinander und trauen sich gegenseitig das Schlimmste zu.

Wer diese Tour de Force bis zum Ende durchhält - und das sei dringend empfohlen -, wird im Finale noch einmal mit einem absoluten Höhepunkt des Romans belohnt. Denn, was Kristensen in seinem letzten Kapitel und dem Epilog gelingt, ist mehr als der buchstäbliche "Absturz", sondern ein geniales Vexierspiel, das die hoffentlich nüchterne Leserschaft zum Nachdenken bringen und zu einer permanenten Gänsehaut führen wird.

Mit Tom Kristensens "Absturz" gelingt es dem Guggolz Verlag einmal mehr, einen nahezu in Vergessenheit geratenen Klassiker der Weltliteratur wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Nicht nur Freunde von Knut Hamsun und Jón Kalman Stefanssón sollten sich diesen Roman zu Gemüte führen. Belohnt werden sie mit einem sprachlichen Meisterwerk, das zwar anstrengend ist, dabei aber auch unheimlich intensiv und aufregend. Ein Hoch auf Tom Kristensen!

Bewertung vom 15.09.2023
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


sehr gut

Kanada, im Jahre 1929: Schlafwagendiener Baxter rattert im Nachtzug von Montréal nach Vancouver. Mit ihm an Bord sind unter anderem ein Schauspieler, eine Schriftstellerin, ein Medium und eine Oma mit ihrer Enkelin. Niemand der Fahrgäste kennt den Traum des Dieners. Denn Baxter nimmt diesen Knochenjob nur in Kauf, weil er auf sein Zahnmedizinstudium spart. Bis dahin heißt es also Schuhe wienern, die Toilette putzen und manchmal sogar - natürlich heimlich - sexuelle Dienstleistungen übernehmen. Wobei Baxter noch mehr verheimlichen muss, denn er steht im gesellschaftlichen System nicht nur wegen seiner Hautfarbe ganz unten, sondern ist zudem auch noch homosexuell. Als der Zug jäh durch eine Schlammlawine gebremst wird, überwältigt der Schlafmangel Baxter immer stärker. Geplagt von Halluzinationen sehnt der Schlafwagendiener das Ende der Reise herbei - wohl das Einzige, was ihn mit den Fahrgästen eint....

Liest man etwas von einem Schlafwagen, mag einen selbst gleich die Müdigkeit überfallen. Bei Suzette Mayr ist das hingegen ausgeschlossen, denn die Autorin wirft die Leserschaft sofort hinein in eine schier unglaubliche Hektik. Gemeinsam mit Baxter wird hier noch die letzte Koje vorbereitet, während dort schon der erste Fahrgast wartet. Wann trifft der Zug wo ein, wann fahren wir endlich ab und wo, verdammt nochmal, ist eigentlich mein Abteil? In diesem Stil merkt man von Beginn an, welch aufreibenden Job Baxter und seine Kollegen dort verrichten müssen. Passend dazu setzt Mayr auf das erzählerische Präsens, das immer eine besondere Unmittelbarkeit ausdrückt. Dabei befinden wir uns bisher lediglich im "Vorher", einem langen Epilog, der den Protagonisten seinem Publikum näher vorstellt.

Und dieser Baxter ist zweifelsohne ein Sympathieträger. Nach außen hin erträgt er stoisch sämtliche Erniedrigungen und Demütigungen, doch innerlich brodelt auch er. Wir werden diesen Baxter den gesamten Roman über nicht aus den Augen verlieren. Keine Szene funktioniert ohne ihn, und wir wissen über die Fahrgäste immer genau das, was auch Baxter weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist von Suzette Mayr äußerst klug konzipiert, denn dadurch wachsen nicht nur Sympathie und Empathie für den Helden, sondern es sorgt auch für Spannung, da man nie weiß, was hinter welcher Tür eigentlich gerade geschieht. Es sei denn, Baxter blickt hinein...

Züge sind ja oftmals ein dankbares Setting für gute Romane, wie beispielsweise zuletzt auch "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov oder "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron. So auch hier, wo im Hauptstrang der Zug bzw. sein Umfeld sogar überhaupt nicht verlassen werden. Fernab jeglicher Eisenbahnromantik sollte Suzette Mayr somit auch passionierte Bahnfahrer:innen ansprechen. Und dennoch kommt nicht nur der Zug zwischenzeitlich zum Stillstand, sondern auch die Dynamik des Romans. Die Fahrgäste wenden sich mit immer den gleichen Fragen und Problemen an Baxter, was nicht nur ihn, sondern auch die Leser:innen zunehmend nervt. Hier hätte dem "Schlafwagendiener" eine Straffung oder andere Entwicklung gut getan. Hinzu kommt, dass von den zahlreich eingesetzten bildhaften Vergleichen nicht jeder gleichermaßen passt. Insbesondere die anfänglich immer wiederkehrenden Eisenbahn-Bilder wirken teilweise etwas bemüht oder repetitiv.

Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn im Finale legt nicht nur der Zug noch einmal zu, sondern auch Suzette Mayr. Nachdem die Leserschaft eine recht alberne Séance ertragen musste, besinnt sich der Roman nämlich seiner Stärken: der Empathie, Solidarität und Warmherzigkeit, die Mayr mit dem Buch Minderheiten entgegenbringt. Sicherlich sah man schon Schlafwagendiener in Filmen durchs Bild huschen, aber wer schrieb jemals so ernsthaft und ausführlich über sie? Zeitgleich behandelt Mayr auch heute noch gesellschaftlich wichtige Themen wie Rassismus und den Umgang mit Homosexualität, der in der historischen Perspektive aufgrund der Strafbarkeit ungleich dramatischer war. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die sage und schreibe drei Seiten lange Literaturliste, die Mayr bei der Recherche für das Schreiben eines Romans (!) aufgewendet hat. Dies unterstreicht, wie sehr ihr dieses Thema am Herzen lag und sorgt für zahlreiche zusätzliche Sympathiepunkte. Erwähnt werden sollte auch die formal liebevolle Aufmachung. Da gibt es die Jobanzeige für Schlafwagendiener, den Aufbau eines Waggons oder auch mal ein kleines Schriftbild, wenn die ihrerseits kleine Esme etwas flüstert.

Insgesamt ist "Der Schlafwagendiener" eine liebevolle und unterhaltsame Zugreise in eine Zeit, in der sich in Kanada ein Schwarzer darüber Gedanken machen musste, ob er in einer öffentlichen Toilette neben einem Weißen stehen darf. In eine Zeit, in der ein Diener in einem Zug den Dreck anderer Menschen entfernen musste, ohne dafür kaum mehr als ein mickriges Trinkgeld zu erhalten. Und in eine Zeit, in der ein Homosexueller für Sexualkontakte mit anderen Männern ins Gefängnis musste.

Bewertung vom 05.09.2023
Die Jungfrau
Helfer, Monika

Die Jungfrau


sehr gut

Als Monika Helfer am 70. Geburtstag Post von ihrer langjährigen Schulfreundin Gloria erhält, ist sie überrascht, denn zu dieser hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Nun ist die Frau offenbar schwer erkrankt und wünscht sich, dass die Autorin über sie schreibt, bevor Gloria stirbt. Kein leichtes Unterfangen für Monika, denn die Beziehung zu der einst so glamourösen und exzentrischen Frau war einerseits durch Nähe und Vertrauen geprägt, andererseits aber auch durch Lügen und Wut. Doch Monika stellt sich dieser Herausforderung und begibt sich zurück in die 60er-Jahre, als ein Mädchen wie Gloria immer nur auffiel und nicht hineinpassen wollte in die verstaubte Nachkriegsgesellschaft...

Nach der Trilogie um Monika Helfers "Bagage" ist "Die Jungfrau" der neueste Roman der Bestseller-Autorin, der kürzlich bei Hanser erschienen ist. Erneut ist er im Bereich der Autofiktion anzusiedeln, doch anstatt eines Familienmitglieds steht diesmal mit Gloria eine höchst ambivalente Freundin im Mittelpunkt des Interesses. Stilistisch bleibt sich Helfer mit ihren kurzen, prägnanten Sätzen und den pointierten und unprätentiösen Beobachtungen hingegen treu. Dabei schont sie weder sich noch die Freundin.

Der Roman beginnt im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knalleffekt, der bezeichnend für den Rest des Buches ist. In einer beschaulichen, fast schon transzendentalen Szene, in der zwei Mädchen in ihrer Reinheit einen sommerlichen Sonnenaufgang erwarten - bis ein Schuss den Morgen zerreißt. In der Folge wird es immer wieder so sein, dass die Beziehung der beiden Mädchen durch Aktionen der einen oder der anderen gestört werden. Die reine, freundschaftliche Liebe bleibt so wie das Bild der beiden Mädchen beim Sonnenaufgang eine Illusion.

Gloria ist keine einfache Person. Das Mädchen lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter in einem riesigen Haus inklusive Hausangestellter. Sie ist reich und verschwenderisch und zieht mit ihrer glamourösen Art die Blicke der Jungen und Männer auf sich. Dennoch bleibt sie laut eigener Aussage bis zum Wiedertreffen der mittlerweile 70-jährigen Frauen die titelgebende Jungfrau. Dieser Widerspruch bleibt nicht der einzige dieses zutiefst zerrissenen Charakters. So wie auch die Freundschaft mit Monika eine widersprüchliche ist. Die beiden können nicht mit-, aber auch nicht ohneinander. Für Monika ist Gloria eine Art Flucht aus dem Alltag und aus der Armut. Andersherum ist Monika für Gloria die Flucht aus der Einsamkeit und Langeweile.

Bei der Beurteilung des Romans sollte man bedenken, dass er zwar autobiografische Anteile enthält, aber eben ein Roman ist. Ansonsten könnte man Helfer dafür kritisieren, eine Freundin in manchen Szenen doch einigermaßen bloßzustellen. Schon der Beginn spielt mit Fakt und Fiktion. Die Post zum 70. Geburtstag müsste die Schrifstellerin Helfer nämlich 2017 erreicht haben, was in "Die Jungfrau" unmöglich ist, da es später beispielsweise um eine Corona-Infektion geht. In einem Interview mit dem "Standard" stellt Helfer klar, dass Gloria ihre "erfundene Freundin" und aus verschiedenen zusammengesetzt sei.

Insgesamt beweist Monika Helfer mit "Die Jungfrau" einmal mehr ihr großes schriftstellerisches Können, ihre Weisheit und ihre Begabung, tiefgehende Beobachtungen und Gefühle in wenigen Worten präzise und pointiert wiederzugeben. Was im Vergleich zur Familien-Trilogie fehlt, sind die Empathie und die großen Emotionen, die sich insbesondere in "Die Bagage" und "Löwenherz" so unmittelbar auf die Leserschaft übertrugen. Dennoch ist auch der neue Roman ein sehr lesenswertes Buch, das insbesondere mit der Darstellung der pubertären Monika auch einmal eine ganz andere Seite der Autorin bzw. ihres romanhaften Ichs präsentiert.

Bewertung vom 26.08.2023
Einer von den Guten / Ben-Neven-Krimis Bd.3
Wagner, Jan Costin

Einer von den Guten / Ben-Neven-Krimis Bd.3


ausgezeichnet

Der BKA-Ermittler Ben Neven, selbst verheiratet und Familienvater, arbeitet mit seinem Kollegen Christian Sander und dem weiteren Team an einem spektakulären Fall des Kindesmissbrauchs, der die ganze Abteilung schon seit einiger Zeit beschäftigt. Während die Hauptschuldigen ermittelt wurden, sind die Polizist:innen dabei, ein regelrechtes Netzwerk aufzudecken. In den Blick gerät dabei der Parkplatz eines Schwimmbads in Dortmund. Dort soll es Fälle von Kinderprostitution geben. Was niemand weiß: Ben ist selbst einer der Freier. Wöchentlich trifft er sich dort mit dem 13-jährigen Adrian. Und während die Ermittlungen voranschreiten, zieht sich die Schlinge um Bens Doppelleben immer weiter zu...

"Einer von den Guten" ist der dritte Band der Ben-Neven-Reihe von Jan Costin Wagner, der jetzt bei Galiani erschienen ist. Zwar ist es für die Lektüre nicht zwingend notwendig, die Vorgängerbände "Sommer bei Nacht" und "Am roten Strand" zu kennen, sie erleichtert aber das Verständnis für die Figuren und deren Zusammenhänge. Davon abgesehen sind sie von so hoher Qualität, dass man sie eigentlich ohnehin gelesen haben sollte.

Manchmal ist Literatur schmerzhaft. Sie führt dich an Abgründe, an die du dich normalerweise nicht herantrauen würdest. Sie packt dich und reißt dich mit. Du leidest mit den Figuren und freust dich mit ihnen. Du wünschst ihnen das Beste oder hoffst, dass sie mit ihrem Verhalten und ihrem Tun nicht durchkommen werden. Du bist meistens auf Seiten der Guten. Doch was ist, wenn die Figuren so zerrissen sind, dass es dir schwerfällt, sie zu beurteilen? Oder sie zu verurteilen? Ein solches Buch ist "Einer von den Guten".

Wie schon in den beiden Vorgänger-Bänden gelingt es Jan Costin Wagner auch in diesem Buch vortrefflich, die Zerrissenheit seiner Figuren intensiv erlebbar zu machen. In kurzen, meist traurigen und atmosphärischen Sätzen nähert er sich insbesondere seinem Protagonisten Ben Neven, der stärker als je zuvor im Fokus steht. Denn "Einer von den Guten" ist tatsächlich mehr Psychogramm als Kriminalroman. Auch "Sommer bei Nacht" und "Am roten Strand" mäanderten schon deutlich über die Genregrenzen hinaus, mit dem dritten Band treibt Wagner dieses Spiel auf die Spitze.

Die Dialoge, die teilweise nur aus Fragmenten bestehen, sind herausragend. Vor allem die Gespräche zwischen Ben und seinem besten Freund Ludwig Landmann, den wir schon in den ersten Büchern als eine Art Ziehvater des pädophilen Ermittlers kennengelernt haben, sind von fast unglaublicher Intensität. In jedem Satz, in jedem kleinsten Wort steckt so viel mehr als das Gesagte. Ein weiterer Pluspunkt ist die Multiperspektivität, die diesmal durch die Figur des Adrian bereichert wird. Der einsame rumänische Junge, der von seinem Vater dazu genötigt wird, sich zu prostituieren, ist Wagner hervorragend gelungen. Die Schwierigkeit, dass Adrian fast kein Deutsch spricht, umgeht der Autor, indem er sich tief in die Gedankengänge des Kindes hineinversetzt. Dabei vermeidet er die Gefahr des Klischees, den Jungen lediglich als Opfer zu präsentieren. Denn mit der Freundschaft zu der 14-jährigen Vera erfährt Adrian auch Momente des Glücks - und die Leserschaft eine zärtliche kindliche Liebe, die als eine Art Gegenpol zu den oftmals schwer zu ertragenden Szenen rund um Ben Neven wirken.

Erstaunlich ist die Feinfühligkeit Wagners auch mit Blick auf seine Hauptfigur. Spätestens mit diesem Band dürfte sich die Mehrheit der Leser:innen einig sein: Ben ist keiner mehr von den Guten. Dafür macht er sich in mehrfacher Hinsicht zu schuldig. Dennoch verurteilt Wagner ihn nicht. Das macht Ben ohnehin schon selbst. Man spürt in diesen Szenen oder auch in dem Moment, in dem Ben einen Therapeuten aufsucht, wie intensiv und differenziert sich Jan Costin Wagner mit dem Thema Pädophilie auseinandergesetzt haben muss. Das ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich und mutig, denn zweifelsohne wird dieser Band die Leserschaft noch mehr spalten als die ebenfalls schon kontroversen Vorgänger-Romane.

Mit "Einer von den Guten" bestätigt Jan Costin Wagner, dass die Reihe um Ben Neven die derzeit wohl aufregendste in der deutschsprachigen Kriminalliteratur ist. Die Ereignisse am Ende des Buches lassen darauf hoffen, dass es einen vierten Band geben wird. Den Leser:innen sollte bewusst sein, dass sie sich auf eine beklemmende Lektüre einlassen. Eine Lektüre, die sie beschäftigen und verfolgen wird. Doch dafür werden sie belohnt. Mit einer intensiven und beeindruckenden Geschichte. Und mit unvergesslichen Charakteren. Denn manchmal ist Literatur einfach schmerzhaft.

Bewertung vom 24.08.2023
Karnstedt verschwindet
Häusser, Alexander

Karnstedt verschwindet


ausgezeichnet

Als Simon erfährt, dass ausgerechnet er den Nachlass seines verschwundenen Jugendfreundes Karnstedt verwalten soll, kann er das zunächst gar nicht recht glauben. Immerhin hatte er seit mehr als 20 Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu diesem. Dabei waren sie einst die besten Freunde: der haarlose Karnstedt und der schmächtige Simon - zwei Außenseiter, die nur gemeinsam den zahlreichen Gemeinheiten ihrer Mitschüler:innen entkamen. Doch wie kam es überhaupt zum Ende dieser Freundschaft? Und was soll Simon jetzt auf diesem verlassenen Bauernhof in Dänemark? Darüber schreibt Alexander Häusser in seinem bewegenden Roman "Karnstedt verschwindet".

Die Erstausgabe des Werks erschien bereits 2007, nun ist die überarbeitete Ausgabe bei Pendragon veröffentlicht worden. Eine kluge Entscheidung des Verlags mit dem freundlichen kleinen Drachen, denn "Karnstedt verschwindet" ist zeitlos gut. Auf gerade einmal 220 Seiten gelingt es Häusser, eine Vielzahl aktueller Themen wie Individualität, Homosexualität, Freundschaft und Verrat so passend miteinander zu verknüpfen, dass der Roman nicht einmal ansatzweise überfrachtet wirkt.

Liest man ein Buch mit einem Figurennamen im Titel, erwartet man zweifelsfrei, einen besonderen Charakter kennenzulernen. Man denke nur an Douglas Stuarts "Shuggie Bain" oder Eva Romans Coming-of-Age-Wunder "Pax". Und diese Erwartungen werden auch bei "Karnstedt verschwindet" nicht enttäuscht. Besagter Titelheld entpuppt sich nicht nur wegen seines komplett haarlosen Körpers als exzentrisch, sondern setzt auch durch sein Verhalten Akzente. Karnstedt hat schon im Jugendalter erheblichen Einfluss auf Simons Leben, nun greift er durch sein Verschwinden und das Benennen Simons als Nachlassverwalter erneut massiv ein. "Karnstedt hat mit seinem Auftrag mein Leben unterbrochen. Er hat einen Staudamm im Fluss der Zeit errichtet, Gott gespielt, wie damals", lässt Häusser Simon sagen. Mit diesem Satz sollte man bereits ein Gespür bekommen, für die leise, aber umso eindringlichere Erzählart des Autors.

In der Folge gelingt es Häusser, drei unterschiedliche Erzählstränge parallel verlaufen lassen, ohne die Gefahr, dass man sich als Leser:in darin verfangen könnte. Denn tatsächlich differieren sie nicht nur in der Perspektive, sondern auch im Tonfall komplett. Während in Dänemark Ich-Erzähler Simon versucht, einen Überblick über das von Karnstedt hinterlassene Chaos zu bekommen, wirft ein allwissender Erzähler einen Blick auf die letzten Schultage der beiden Protagonisten vor dem Abitur. Garniert wird das Ganze mit einem kleinen Ausflug ins Genre des Abenteuerromans, wenn Simon Karnstedts Anwalt dessen letzte Aufzeichnungen vorliest. Während die Jugendfreundschaft typische Merkmale des Coming-of-Age-Romans wie Sexualität und Entwicklung aufweist, verströmt die Dänemark-Episode zeitweise gar ein gewisses Mystery-Flair. Denn der verschwundene Karnstedt scheint im wahrsten Sinne des Wortes allgengenwärtig zu sein.

Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist die Figurenzeichnung - übrigens auch dank der Überarbeitungen, die erstmals in dieser neuen Ausgabe so erscheinen. Nicht nur Karnstedt überzeugt in seiner Darstellung, auch Simon und die anderen wichtigen Nebenfiguren wie der Lieblingsfeind der beiden - Tischlersohn Tummer - weisen zahlreiche Grautöne auf. Jede einzelne Figur begeht schwerwiegende Fehler, aber keine von ihnen kann man am Ende des Romans komplett verurteilen. Das liegt auch an der Empathie, die Alexander Häusser seinen Charakteren entgegenbringt.

Und so werden im höchst überraschenden und wahrlich dramatischen Finale alle drei Erzählstränge kongenial miteinander verbunden. Ein Finale, das nicht nur durch einen sich ständig steigernden Spannungsbogen überzeugt, sondern mich ungemein bewegt und aufgewühlt hat. Ein Finale, das bisweilen sogar an eine antike Tragödie erinnern mag.

"Karnstedt verschwindet" ist ein eindrucksvoll stiller, doch umso intensiverer Roman, der durch seine Konstruktion, die Sprache, die Atmosphäre und die Figuren gleichermaßen zu punkten weiß. Ein unbedingt lesenswertes und wuchtiges Statement für die Individualität.

Bewertung vom 22.08.2023
Zwielicht 17
Blackwood, Algernon

Zwielicht 17


sehr gut

Ob klassische Schauergeschichte, zeitgenössisches Psychogramm eines Serienkillers oder modernster Science Fiction-Horror - das deutsche Horrormagazin "Zwielicht" liefert in seiner 17. Ausgabe eine umfassende und bunte Mischung aus deutscher und internationaler Genre-Literatur.

Dabei sticht zunächst das wirklich sensationelle Cover des Schweizers Björn Ian Craig ins Auge. Mit einer gehörigen Portion Retrocharme spielt es so gruselig mit den Urängsten eines Kindes, wie es zuletzt vielleicht Blind Guardian in ihrem denkwürdigen Video zu "Mr. Sandman" gelang. Oder der genialen TV-Verfilmung von "Stephen Kings Es", gegen die der zweiteilige Kino-Blockbuster "Es" von Andrés Muschietti trotz modernster Special Effects nicht einmal ansatzweise anstinken konnte.

Mit Christian Blums "Arsénique" gelingt dem Zwielicht dann auch ein gelungener Einstieg mit einem Ausflug ins Metal-Genre. Zwar nicht zu den bereits angesprochenen Blinden Gardinen, dafür aber zur charismatischen Titelheldin, die ihren mehrstimmigen Gesang auf ganz eigene Art und Weise einzusetzen vermag. Insgesamt warten auf die Leserschaft 15 Geschichten, die sich sowohl stilistisch, als auch thematisch stark voneinander unterscheiden. Dass es bei einer solch umfassenden Anthologie dabei auch recht deutliche Qualitätsunterschiede gibt, scheint unvermeidlich. Während beispielsweise Algernon Blackwoods "Traumpfade" von 1911 auch sprachlich traumwandlerisch sicher daherkommen, verlieren sich einige wenige zeitgenössische Geschichten in einem Wust aus Genreklischees und Groschenroman-Flair. Zum Glück bilden letztere die eindeutige Minderheit.

Das größte Verdienst des Magazins ist ohnehin die unermüdliche und unglaublich liebevolle Recherche, mit der eher vergessene Autor:innen wie eben Blackwood, Arthur Machen oder Maurice Level wieder ins Zwielicht gerückt werden. Auf dem dazugehörigen Blog der Herausgeber Michael Schmidt und Achim Hildebrand finden sich nicht nur schier unfassbar umfangreiche Übersichten zu den genannten Schrifsteller:innen, sondern auch äußerst informative Interviews mit den Übersetzer:innen oder Autor:innen der Anthologie. Ein Blick auf defms.blogspot.com lohnt sich als Ergänzung zur Lektüre also ungemein. Dort wird man nicht nur feststellen, dass mittlerweile sogar schon "Zwielicht 18" erschienen ist, sondern dass es auch diverse Sonderveröffentlichungen - wie eben zu Algernon Blackwood - gibt.

Etwas irreführend ist in meinen Augen übrigens die Bezeichnung "Horrormagazin", denn "Zwielicht 17" kommt eher wie eine klassische Anthologie daher. Zwar gibt es am Ende der 15 Stories noch zwei Artikel mit Bezug zum Horrorgenre, doch auch hier hält sich der Einsatz von Bildern stark in Grenzen. Da sich der Titel aber in mittlerweile 18 Ausgaben bewährt hat, wird er wahrscheinlich nur noch Neueinsteiger:innen wie mich überraschen.

Insgesamt bietet "Zwielicht 17" über seine 280 Seiten eine unterhaltsame und gruselige Atmosphäre, die man mit wenigen Ausnahmen durchaus am Stück genießen kann. Für diejenigen Leser:innen, die dem klassischen Horrorgenre in den letzten Jahren vielleicht abhanden gekommen sind, empfehle ich vor allem die Geschichten, die sich nicht um Genregrenzen scheren und dabei sowohl sprachlich, als auch inhaltlich überraschen. Hier seien als Lesetipps neben den mehrfach erwähnten "Traumpfaden" von Algernon Blackwood vor allem auch Arthur Machens "Folter" von 1924, Maurice Levels "Babel" von 1910 und von den zeitgenössischen Geschichten Torsten Scheibs "Ein besonderes Näschen" zu empfehlen.

Bewertung vom 14.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Als die 22-jährige Alex gegen Ende des Sommers von ihrem reichen und viel älteren Liebhaber Simon vor die Tür gesetzt wird, scheint ihr bisheriges Leben vorbei zu sein. Nach ihrer Zeit als Escortgirl schien Simon wie die Chance auf einen Neuanfang - und wie der Eintritt in die Welt der Reichen und Schönen in den Hamptons. Doch nach mehreren Fehlern der jungen Frau ist die gemeinsame Zeit abgelaufen. Während Alex sich irgendwie durchschlagen muss, rückt der Tag näher, auf den sie all ihre Hoffnungen setzt: der Labour Day, an dem Simon eine große Party schmeißen möchte. Alex muss auf diese Party kommen, um mit Simon Versöhnung zu feiern - koste es, was es wolle...

"Die Einladung" ist nach "The Girls" der zweite Roman der Kalifornierin Emma Cline, der jetzt in der deutschen Übersetzung von Monika Baark bei Hanser erschienen ist. Ihm dürfte eine ebenso große Aufmerksamkeit und Kontroverse gewiss sein wie dem Debüt. Denn "Die Einladung" ist alles andere als ein Wohlfühl- oder Sommerroman mit einer liebenswerten Hauptfigur.

Vielmehr ist Alex eine klassische Antiheldin. Sie lügt, stiehlt und nutzt ihre Mitmenschen ganz nach ihrem Belieben aus, um an ihr Ziel zu gelangen. Und trotzdem gelingt es Emma Cline verblüffenderweise, dass man eine Art Komplizenschaft mit ihr eingeht. Man hofft nämlich, dass Alex mit all diesen Dingen durchkommt, bangt mit ihr, dass ihr erneuter Fehltritt keine Konsequenzen haben wird. Vornehmlich erreicht Cline dies mit ihrem einnehmenden und flüssigen Schreibstil. Man folgt dieser jungen Frau auf Schritt und Tritt. Am Ende wird Cline sie kein einziges Mal aus den Augen gelassen haben. Selbst vergangene Momente werden aus der Gegenwart heraus erzählt, so dass die Erzählstimme ins unliterarische Plusquamperfekt wechselt, nur um die gegenwärtige Alex nicht allein stehen zu lassen. Dabei erzeugt die Autorin nicht besonders viel Empathie für ihre Hauptfigur und bringt ihr selbst auch keine entgegen. Auch der eher nüchterne Stil trägt zu diesem Empfinden bei. Umso erstaunlicher, dass trotzdem diese Bindung zur Protagonistin erreicht wird.

Alex' Geschichte ist im Grunde eine tieftraurige, auch wenn wir über ihre weiter zurückliegende Vergangenheit kaum etwas erfahren. Sie wirkt wie eine verlorene Seele, irrt heimatlos umher wie ein Geist, als den sie sich selbst manchmal bezeichnet. Und in der Tat erinnert "Die Einladung" in gewissen Momenten an eine abgebrühtere Variante des genialen David Lowery-Films "A Ghost Story", in dem ein Gespenst sich ein Bettlaken umlegt, um zumindest für das Publikum sichtbar zu sein. Auch Alex bleibt über weite Strecken des Romans unsichtbar bishin zur kompletten Selbstaufgabe ihrer Identität. Sie ordnet sich unter, um zu gefallen, setzt in den unpassendsten Momenten ein Lächeln auf. Nur in ganz wenigen Momenten schimmert die echte Alex durch die glatte Oberfläche: Immer dann, wenn Alex im Pool oder im Meer schwimmen geht, scheint sie ganz bei und für sich zu sein.

Durch den immer wieder aufblitzenden subtilen Humor ist "Die Einladung" zudem auch eine Gesellschaftskritik. Die Scheinwelt der Reichen und Schönen besticht durch ihre Oberflächlichkeit, durch die Ausgrenzung der Menschen, die nicht dazugehören können oder wollen. Das ist zwar nicht neu, doch wie Emma Cline ihre Protagonistin als Wandlerin zwischen den Welten - da ist wieder das Geistmotiv - einsetzt, gibt dem Roman etwas zutiefst Eigenständiges.

Clever ist auch, wie lässig Cline die Spannung aufbaut. Erst nach und nach erzählt sie, wie Alex eigentlich in diese offenbar ausweglose Situation hineingeraten konnte. Dazu bedarf es nicht vieler Worte, manchmal reicht ein einfaches Auflegen von Alex' Gesprächspartnern am Telefon.

Möchte man etwas an dem Roman kritisieren, ist es vielleicht die fehlende Entwicklung der Protagonistin in der zweiten Hälfte. Trotz diverser Rückschläge bleibt Alex mit Ausnahme der Wasserszenen eigentlich immer gleich. Vielleicht passt das aber eben auch umso besser zu einer Figur, die ihre Identität ohnehin schon nahezu aufgegeben hat. Sprachlich schien mir zudem die Übersetzung an der einen oder anderen Stelle etwas zu knirschen.

Insgesamt ist "Die Einladung" aber ein sehr überzeugender und hochaktueller Roman, denn die Scheinwelt der Reichen und Schönen lässt sich sehr gut auch auf die Sozialen Medien und ihre Auswirkungen auf Kinder und junge Leute übertragen. Zudem ist er mehr als eine schnöde Gesellschaftskritik, weil er mit Blick auf Alex als verlorenes Individuum psychologisch subtil, aber dennoch tief in die Seele seiner Hauptfigur hineinschaut, ohne mit ihr zu fühlen, aber auch ohne sie zu verurteilen. Um es auf die Leserschaft zu übertragen: Man bangt mit Alex und man ärgert sich über sie, aber sie lässt einen nie kalt. Das ist das Hauptverdienst von Emma Cline.

Bewertung vom 01.08.2023
Sommerwasser
Moss, Sarah

Sommerwasser


sehr gut

Da ist Justine, die morgens um 5 Uhr aufsteht, um sich den Kopf freizulaufen und um sich zumindest mal ein wenig von ihrem Mann Steve zu entfernen. Da sind Lola und Jack, zwei gelangweilte Kinder, deren depressive Mutter viel zu sehr mit sich und ihrem Unglück beschäftigt ist, um sich um die beiden zu kümmern. Da ist Alex, ein pubertierender Jugendlicher, dem die Eltern peinlich sind und der sich trotz des schlechten Wetters lieber mit dem Kajak aufmacht, um ganz allein bei sich zu sein. Und da sind der pensionierte Arzt David und seine Frau Mary, deren Demenz immer offensichtlicher wird. Sie alle eint dieses völlig verkorkste Wetter an einem schottischen See, die Langeweile in ihrer jeweiligen Hütte und der Ärger über die fremde Familie, in deren Haus abends immer und immer wieder laute Musik lärmt. Und sie alle sind die Hauptfiguren in Sarah Moss' neuen Roman "Sommerwasser", der in der deutschen Übersetzung von Nicole Seifert jüngst im Unionsverlag erschienen ist.

Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Denn eigentlich sind alle genannten Personen und der Rest des umfangreichen Ensembles nur Nebenfiguren. Protagonist ist zweifelsohne das Wasser, oder besser gesagt der Regen. Unaufhörlich prasselt er auf den schottischen See und die dazugehörige Natur hernieder. Wer also beim Titel des Romans an einen beschaulichen Sommerurlaubs-Roman denkt, der sei gewarnt. Denn hinter dem Wasservorhang befindet sich der ein oder andere menschliche Abgrund.

EIn großer Vorzug des Romans ist, wie nah sich die Autorin an ihre Charaktere heranwagt. Moss nimmt die Leser:innen mit in die Köpfe der Figuren und zeigt mit großer Präzision die Gedankengänge auf, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Stark beispielsweise, wie intensiv man den Fluchtwunsch der Läuferin Justine fast am eigenen Leib spürt oder wie verworren und gleichzeitig äußerst realistisch einen die Gedankengänge der demenzkranken Mary berühren. Andererseits gibt es das Pärchen Josh und Milly, dessen Hauptanliegen ein gemeinsamer Orgasmus zu sein scheint und das doch eher ein wenig belanglos oder gar überflüssig erscheint.

Sprachlich setzt Sarah Moss immer wieder auch auf poetische Vergleiche, die ihr besonders gut gelingen, wenn sie in kleinen Zwischenstücken die Auswirkungen des Regens auf die Natur und ihre Bewohner beschreibt. In den zwischenmenschlichen Beziehungen wirken die Sprachspiele manchmal ein wenig aufgesetzt und zünden dementsprechend nicht immer. Als störend habe ich vor allem zu Beginn die fehlenden Anführungszeichen in der direkten Rede empfunden, denen außer einem gewissen Manierismus keine Funktion zukommt. Außerordentlich originell ist das übrigens auch nicht, weil man es mittlerweile schon ziemlich häufig gelesen hat.

Während das erste Drittel des Buches im wahrsten Sinne des Wortes auf der Handlungsebene ein wenig dahinplätschert, gewinnt es mit einem plötzlichen Spannungsbogen mit zunehmender Dauer immer mehr hinzu. Konkret geht es um das Mädchen Violetta, welches in der Hütte wohnt, die die anderen Bewohner:innen als störend empfinden. Was als Spiel beginnt, endet für das Kind in einer außerordentlichen Bedrohung. Klug spielt Sarah Moss hier mit politischen und gesellschaftlichen Themen wie der Angst vor dem Fremden, aber auch dem Brexit und konkretem Rassismus. Während die einzelnen Perspektiven zuvor noch recht beliebig wirkten, erhalten sie außerdem mit zunehmender Dauer ihre jeweilige Berechtigung.

Und so nähert sich "Sommerwasser" seinem dramatischen Höhepunkt, einem wahrlich überraschenden und in jeder Hinsicht spektakulären Finale, still und heimlich, aber mit immer größer werdender Intensität.

"Sommerwasser" von Sarah Moss ist ein leiser, atmosphärischer Episodenroman, der zwar nicht über seine gesamten 180 Seiten gleichermaßen überzeugt, die Leserschaft aber dafür ungläubig staunend und berührt mit seinem sehr gelungenen Finale und der zuvor aufgebauten Spannung zurücklässt. Ein Roman, der gerade wegen des vermeintlich schlechten Wetters andererseits zudem große Lust macht: auf den Regen, aber auch auf weitere Werke von Sarah Moss.

Bewertung vom 18.07.2023
Das Summen unter der Haut
Lohse, Stephan

Das Summen unter der Haut


ausgezeichnet

Hamburg, 1977: Die Sommerferien stehen bevor, und der 14-jährige Julle verbringt seine freie Zeit am liebsten im Freibad. Neuerdings ist das Ganze sogar noch ein bisschen aufregender, denn für seinen neuen Klassenkameraden Axel empfindet Julle mehr als nur Freundschaft. Als die beiden im nahen Wald eine abgebrannte Hütte mit dubiosen Röntgen-Aufnahmen finden, weckt dies in den Jungen den Abenteuergeist. Wer war jener ominöse Karl Siebert, von dem diese Aufnahmen stammen?

Stephan Lohses Romane waren für mich bislang eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Mit seinem Debüt "Ein fauler Gott" aus dem Jahre 2017 traf er mitten in mein Herz. Das Buch ist neben Florian Knöpplers "Kronsnest" wahrscheinlich der schönste deutschsprachige Coming-of-Age-Roman des 21. Jahrhunderts und zählt bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern aller Zeiten. Umso ernüchterter war ich vom 2020er-Nachfolger "Johanns Bruder", bei dem in meinen Augen überhaupt nichts zusammenpasste. Mit dem jüngst im Insel Verlag erschienenen "Das Summen unter der Haut" behält der Hamburger Autor seinen Drei-Jahres-Rhythmus bei - und macht glücklicherweise einen großen Schritt zurück in Richtung des melancholischen Entwicklungsromans.

Denn, so viel sei vorweggenommen, "Das Summen unter der Haut" ist ein sehr gelungener Roman geworden. Und das, obwohl er gleich im ersten Satz mit einem der vielleicht hässlichsten Wörter der deutschen Sprache beginnt: Brustwarzen. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat von Maik Klingenberg, womit der Leserschaft gleich die Richtung vorgegeben wird. Denn das Motto der "Tschick"-Hauptfigur ist nicht die einzige Verbeugung vor dem modernen Klassiker von Wolfgang Herrndorf.

Ich-Erzähler Julle ist ein liebenswerter Protagonist, der sich seiner Homosexualität erstaunlich früh bewusst ist. In nahezu jedem Satz spürt man die große Empathie des Schriftstellers für seine Hauptfigur. Vielleicht liegt es an dieser Empathie, dass Julle es trotz seiner "Andersartigkeit" erstaunlich leicht hat. Seiner älteren Schwester gegenüber hat er sich bereits geoutet, ein versehentliches Verplappern in einer Notsituation hat für ihn keine negativen Folgen. Die Freundschaft zu Axel verläuft - trotz der Gefühle Julles - reibungslos. Womit wir bei einem der Vorzüge des Romans wären, der sich bei näherer Betrachtung jedoch als Schwäche entpuppt. "Das Summen unter der Haut" ist ein Wohlfühlbuch. Fernab jeder Art von Zynismus mit nur wenigen Konflikten, die sich erstaunlich schnell in Luft auflösen. Das ist einerseits schön und vielleicht genau das Richtige für eine Sommerlektüre. Andererseits fehlen dem Buch dadurch ein paar Ecken und Kanten. Fast fühlt man sich ein wenig eingelullt. 1977, als die 14-Jährigen noch Queen hörten, ihre meiste Zeit draußen verbrachten. Als man sich gegenseitig Mixtapes schenkte oder selbstklebende Fotoalben. Ja, als 14-Jährige sich noch als Kinder bezeichneten - und sogar Kinder waren. Die pure Nostalgie, ohne jedoch kitschig zu sein. Höchstens ein bisschen glatt. Früher war zwar alles anders. Aber auch einfacher?

Das ist Kritik auf hohem Niveau, denn "Das Summen unter der Haut" ist so liebevoll, dass man Autor und Buch kaum böse sein kann. Gleichzeitig freut man sich über die zahlreichen Verneigungen vor Klassikern der Coming-of-Age-Literatur. Der Roman beginnt ausgerechnet in einem Freibad, womit Stephan Lohse vielleicht selbst voller Nostalgie auf sein eigenes Debüt zurückschaut. Es wird in Kapitel 19 eine weitere Freibadszene geben, die den romantischen Höhepunkt des Romans darstellt. Es gibt eine Tankstellenszene krimineller Natur, die vielleicht nicht ganz so verwegen endet wie in Herrndorfs "Tschick". Und wer denkt nicht an Stephen Kings "Die Leiche" (aka "Stand By Me"), wenn Julle und Axel in der verbrannten Hütte Karls Röntgenbilder betrachten - und dabei Angst haben, den verbrannten Karl selbst zu finden?

Zudem ist der Roman ein Mutmach-Buch, das gerade junge Leser:innen ansprechen sollte und vielleicht auch deshalb in weiten Strecken an einen sehr guten Jugendroman erinnert. Es füllt eine Nische, denn queere Literatur für sehr junge homosexuelle Kinder und Jugendliche gibt es auch heute noch viel zu wenig. Wahrscheinlich wäre ich 1988 komplett ausgeflippt, wenn ich Julles Satz auf Seite 30 hätte lesen dürfen: "Ich wusste schon mit elf, dass ich schwul bin." Das ist hinreißend und hätte mir und vermutlich einer ganzen Generation unvorstellbar gut getan. Insofern ist Julle ein Vorbild. Und seine Liebe zu Axel übrigens absolut verständlich und nachvollziehbar, denn diese Figur ist in ihrer Mischung aus Witz, Güte und Vernunft vielleicht schon ein wenig zu perfekt.

Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist zweifellos das Finale. Während zuvor ein überwiegend heiterer Tonfall vorherrscht, den Stephan Lohse mit feinem Humor zeichnet, schlägt die Melancholie auf den letzten Seiten gnadenlos zu - und lässt offene Fragen und wirbelnde Emotionen zurück.