Ein Steinwurf, der Leben ändert
Am Anfang steht der Wurf von Kieselsteinen: Als im Spätsommer 2011 eine ältere Dame in Yogakleidung den republikanischen Präsidentschaftsanwärter Packer in einem Park in Chicago mit Kieselsteinen bewirft, konstruieren die Medien schnell ein gefährliches Attentat. Die Frau wird als die "Packer-Attackerin" bekannt. Erste Meldungen erscheinen im Internet, das Fernsehen unterbricht die Nachrichten und verkündet "Terror in Chicago", eine Schlagzeile lautet: "Radikale 68erin attackiert Gouverneur Packer!" Schon bald wird die Angreiferin mit…mehr
Ein Steinwurf, der Leben ändert
Am Anfang steht der Wurf von Kieselsteinen: Als im Spätsommer 2011 eine ältere Dame in Yogakleidung den republikanischen Präsidentschaftsanwärter Packer in einem Park in Chicago mit Kieselsteinen bewirft, konstruieren die Medien schnell ein gefährliches Attentat. Die Frau wird als die "Packer-Attackerin" bekannt. Erste Meldungen erscheinen im Internet, das Fernsehen unterbricht die Nachrichten und verkündet "Terror in Chicago", eine Schlagzeile lautet: "Radikale 68erin attackiert Gouverneur Packer!" Schon bald wird die Angreiferin mit al-Qaida in Verbindung gebracht und soll nach den Terrorgesetzen angeklagt werden. Der Name der Frau: Faye Anderson-Andresen.
Ein Anruf der Kanzlei Rogers & Rogers, spezialisiert auf politisch motivierte Straftaten, wird kurz darauf das Leben von Literaturprofessor Samuel Anderson von einem Moment auf den anderen verändern. Der Anwalt teilt ihm mit, dass es sich bei der Angreiferin um seine Mutter Faye handelt, die Samuel seit mehr als 20 Jahren, seitdem sie ihn und seinen Vater Ende der 1980er-Jahre verlassen hat, nicht mehr gesehen und gesprochen hat. Anderson soll sich nun als Leumundszeuge für ihre Integrität verbürgen, bittet ihn der Anwalt, und begründen, warum die Mutter es nicht verdient hat, ins Gefängnis zu gehen. Eine absurde Bitte?
Sicher, einerseits hält der junge Englischdozent dieses Ansinnen zunächst für abwegig, andererseits bietet sich ihm auch eine Chance, sein persönliches Lebenstrauma zu klären und Faye endlich zu fragen, warum sie die Familie verlassen hat - und so auch sein eigenes Leben, in dem er festgefahren ist, zu ändern. Denn Anderson steckt in einer Schaffenskrise: Vor zehn Jahren als vielversprechender Nachwuchsautor gefeiert und mit einem hoch dotierten Vorschuss für einen Roman ausgestattet, lenkt er sich heute von seinem eigenen Versagen - den versprochenen Roman hat er noch nicht einmal angefangen - ab, indem er bis zu 40 Stunden die Woche in der Fantasiewelt des Computerspiels "World of Elfscape" Orks jagt. Und während er sich mit jungen Studenten im Unialltag plagt, drehen sich all seine Gedanken um Bethany, die Zwillingsschwester eines Schulfreunds, eine berühmte Violinistin, die für ihn unerreichbar scheint.
Als der Verlag Druck macht und den Vorschuss zurückfordert, fasst Anderson einen Entschluss: Er will eine Sensationsgeschichte über die "Packer-Attackerin" schreiben, Bestsellerautor werden und sich so an der Mutter rächen. Und so macht er sich auf die Suche nach Faye und recherchiert die Lücken der eigenen Familiengeschichte.
In seinem ersten Roman "Geister" entspinnt Nathan Hill auf mehr als 800 Seiten eine mitreißende Geschichte, die über die Mutter-Sohn-Beziehung hinausgeht, ihren Ausgang in den Studentenunruhen 1968 in Chicago nimmt und mit der Occupy-Wall-Street-Bewegung im Jahr 2011 endet. Dabei spiegelt sich in der Familiengeschichte von Faye und Samuel amerikanische Zeitgeschichte der vergangenen Jahrzehnte und gar Jahrhunderte. Ohne den Leser zu verwirren, springt die Romanhandlung zwischen den verschiedenen Zeit- und Handlungssträngen. Episoden über norwegische Mythologie stehen neben Kapiteln über die eigene Welt der Onlinespieler neben Porträts von Soldaten im Irak neben Rückblenden in die vergangenen Jahrzehnte. Darüber hinaus kann man den Roman auch als Kommentar zur zeitgenössischen amerikanischen Politik lesen, die Ähnlichkeit von Gouverneur Packer mit Donald Trump ist offensichtlich.
Extrem unterhaltsam ist der Handlungsstrang, der im akademischen Betrieb spielt. Während Anderson mit der Studentin Laura Pottsdam darüber streitet, ob und warum sie bei einem Hamlet-Aufsatz geschummelt hat, läuft er selbst Gefahr, selbst falsch zu spielen. Dabei geht es in "Geister" immer wieder um die Frage, auf welcher Grundlage Menschen Entscheidungen treffen: Warum hat Faye damals ihre Familie verlassen? Warum will Samuel sich an der Mutter rächen? Warum betrügt Laura Pottsdam? Nathan Hill ist mit diesem Roman ein großer Wurf gelungen, der Kritiker und Leser in den USA gleichermaßen begeistert und ihm Vergleiche mit den ganz großen zeitgenössischen Schriftstellern eingebracht hat.