Zeruya Shalev
Audio-CD
Nicht ich
Zeruya Shalevs literarisches Debüt. 307 Min.. CD Standard Audio Format.Lesung.Ungekürzte Ausgabe
Übersetzung: Birkenhauer, Anne;Gesprochen: Schrader, Maria
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Skandalumwittert: das Romandebüt der Starautorin - bewegend gelesen von Maria SchraderWir wissen nicht, was der Erzählerin in diesem halben Jahr wirklich geschah. Die junge Frau, die noch nicht einmal ihren Namen verrät, tischt uns eine Geschichte nach der anderen auf. Nur eins scheint klar: Sie hat Mann und Tochter für ihren Geliebten verlassen und nun zerbricht sie daran. Der Spiegel, den sie sich erzählend vorhält, scheint in Stücke gesprungen und in jeder Scherbe schillert eine andere Version. Trauer, Verlassenheit, Angst und Wut lassen sie die Welt als Apokalypse des Schmerzes erle...
Skandalumwittert: das Romandebüt der Starautorin - bewegend gelesen von Maria Schrader
Wir wissen nicht, was der Erzählerin in diesem halben Jahr wirklich geschah. Die junge Frau, die noch nicht einmal ihren Namen verrät, tischt uns eine Geschichte nach der anderen auf. Nur eins scheint klar: Sie hat Mann und Tochter für ihren Geliebten verlassen und nun zerbricht sie daran. Der Spiegel, den sie sich erzählend vorhält, scheint in Stücke gesprungen und in jeder Scherbe schillert eine andere Version. Trauer, Verlassenheit, Angst und Wut lassen sie die Welt als Apokalypse des Schmerzes erleben ... Als dieser provokante wie hochliterarische Klagegesang erschien, rief er in Israel wütende Empörung hervor. Erst jetzt, fast 30 Jahre später, scheint endlich die Zeit reif für dieses frühe literarische Meisterwerk einer Weltautorin.
»Erst als ich 'Schicksal', meinen 7. Roman, geschrieben hatte, wagte ich, mein Debüt wieder zu lesen. Endlich spürte ich die Bereitschaft, ihn als Teil von mir anzunehmen, auch wenn er nicht ich ist.« Zeruya Shalev
Wir wissen nicht, was der Erzählerin in diesem halben Jahr wirklich geschah. Die junge Frau, die noch nicht einmal ihren Namen verrät, tischt uns eine Geschichte nach der anderen auf. Nur eins scheint klar: Sie hat Mann und Tochter für ihren Geliebten verlassen und nun zerbricht sie daran. Der Spiegel, den sie sich erzählend vorhält, scheint in Stücke gesprungen und in jeder Scherbe schillert eine andere Version. Trauer, Verlassenheit, Angst und Wut lassen sie die Welt als Apokalypse des Schmerzes erleben ... Als dieser provokante wie hochliterarische Klagegesang erschien, rief er in Israel wütende Empörung hervor. Erst jetzt, fast 30 Jahre später, scheint endlich die Zeit reif für dieses frühe literarische Meisterwerk einer Weltautorin.
»Erst als ich 'Schicksal', meinen 7. Roman, geschrieben hatte, wagte ich, mein Debüt wieder zu lesen. Endlich spürte ich die Bereitschaft, ihn als Teil von mir anzunehmen, auch wenn er nicht ich ist.« Zeruya Shalev
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Jerusalem. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe - 'Liebesleben', 'Mann und Frau', 'Späte Familie' - wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zeruya Shalev gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Maria Schrader, vielfach ausgezeichnete Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin, bekannt aus 'Aimée und Jaguar', war seit den 1990er Jahren in zahlreichen Filmproduktionen zu sehen. 2010 erhielt sie den Deutschen Hörbuchpreis für ihre Interpretation von Andrew Sean Greers 'Geschichte einer Ehe'. Von Zeruya Shalev las sie u. a. 'Liebesleben' ein und führte bei der Verfilmung 2007 erstmals selbst Regie. 2020 wurde sie für ihre Leistung als Regisseurin mit dem Emmy Award ausgezeichnet.

© Heike Steinweg
Produktdetails
- Verlag: Osterwoldaudio
- Anzahl: 4 Audio CDs
- Gesamtlaufzeit: 307 Min.
- Erscheinungstermin: 2. Januar 2024
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783869525990
- Artikelnr.: 67729071
Herstellerkennzeichnung
OSTERWOLDaudio
Paul- Nevermann-Platz 5
22765 Hamburg
info@hoerbuch-hamburg.de
Frappierend zeitlos
Nach dreißig Jahren erscheint
Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich" endlich auf Deutsch. Es ist ihr wichtigstes Buch geblieben.
Zu Beginn überreicht die Erzählerin in Zeruya Shalevs Roman "Nicht ich" dem Ex-Mann ihre Gebärmutter, dazu Schwangerschaftskleidung und gute Ratschläge. "Schon immer wollte ich stillen, und noch mehr wollte ich Kinder kriegen", freut er sich, und in seinem Bauch beginnt es zu wachsen. Ein Krebsgeschwür, so lautet der lakonische Kommentar der Erzählerin (Thomas Mann lässt grüßen). Angesteckt vom Ex-Geliebten, dessen Sterben die erste ihrer Beobachtungsetappen ist, schleppt die Erzählerin kahlköpfig und im Krankenhauskittel den literarischen Schatten der
Nach dreißig Jahren erscheint
Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich" endlich auf Deutsch. Es ist ihr wichtigstes Buch geblieben.
Zu Beginn überreicht die Erzählerin in Zeruya Shalevs Roman "Nicht ich" dem Ex-Mann ihre Gebärmutter, dazu Schwangerschaftskleidung und gute Ratschläge. "Schon immer wollte ich stillen, und noch mehr wollte ich Kinder kriegen", freut er sich, und in seinem Bauch beginnt es zu wachsen. Ein Krebsgeschwür, so lautet der lakonische Kommentar der Erzählerin (Thomas Mann lässt grüßen). Angesteckt vom Ex-Geliebten, dessen Sterben die erste ihrer Beobachtungsetappen ist, schleppt die Erzählerin kahlköpfig und im Krankenhauskittel den literarischen Schatten der
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Aids-Epidemie mit sich - in Gestalt einer sexuell übertragenen Krebsinfektion, die den Zeugungsorganen kurz vor dem Exodus ein auswucherndes Eigenleben beschert. Einen Geliebten gibt es auch, doch der ist der Erzählerin keine große Hilfe, denn seit sie geschieden ist, schläft er nur noch. Die Männer ihres Lebens vereinigen sich zu chorischen "Moralpredigten: Warum gibst du dich nicht hin? Warum kannst du nicht lieben? Warum kannst du dich nicht freuen? Was schämst du dich deiner Liebe?" Und auf jeden Schritt verfolgt sie das Bild eines kleinen Mädchens in weißen und bunten Kleidchen, Spangen und Schleifen in den sorgsam vom Vater frisierten Locken. Mal wurde es von Soldaten entführt, dann wieder wohnt es als "neue Geliebte" zusammen mit dem Ex-Mann im "Tempel" der ehemals gemeinsamen, nun aschebedeckten Wohnung, während die Erzählerin mit ihrem Geliebten im "Schrottmuseum" das Spiel spielt, wer sich am längsten von seinen Kindern trennen kann.
Die Erzählerin, so kristallisiert sich langsam heraus, hat die Familie verlassen. Der Skandal daran ist: nicht aus Liebe! Denn "Ficken hab' ich gemocht, aber Sex hab' ich gehasst". Buchstäblich im Vorübergehen brauchte sie den Energiekick, um einen erschöpfenden Alltag zu bewältigen. "Einmal zum Beispiel war der Geliebte nicht in seinem Zimmer, als ich kam, und ich versuchte, ohne diesen Fick weiterzugehen, und wurde schließlich am Eingang des Kindergartens ohnmächtig." Waren Fürsorge und Verzicht vergeblich, wenn auf verstörende Weise nicht einmal mehr klar ist, ob das Mädchen - ein Geschöpf zwischen "Venus" und "Virus", Göttin und Zwerg, Puppe und Totgeburt - je existierte?
Mit ihren prismatisch gebrochenen Geschichten verweigert die Erzählerin zugleich erzählerische wie psychologisch-psychoanalytische Kausalität. "Wenn ihr alles glaubt, was ich bisher erzählt habe, irrt ihr euch." Die mit ihrer Kleinfamilie Gescheiterte ruft zur Begründung übliche Mama-Papa-Kind- Stereotype auf und dekonstruiert sie, indem sie sich selbst als Un-Mutter anklagt und zugleich den eigenen Eltern wegen Lieblosigkeit den Prozess macht. Der Vater mutiert über ihrer Anklage zur Kuckucksuhr, doch der Mutter empfiehlt die Erzählerin, statt eines Psychologen "den Uhrmacher" zu holen.
Statt Erklärungen zu liefern, spiralt sich daraus in skurrilen, drastischen, komischen, fast nie vorhersehbaren Bildern und immer neuen Verschränkungen ein Lamento auf zur DNA des Verlusts. Darin werden Metaphern zu Geschichtsfragmenten, die feuerwerksartig als Bilder aufsteigen, explodieren und verpuffend bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie verleihen dem schwer fasslichen, doch hochgradig stimmigen Text eine musikalische Faktur, die mit ratloser Klarheit Erklärungen zweiter Ordnung liefert. Etwa wenn die Erzählerin mit Spielzeug einen winterlichen Kreisverkehr bepflanzt und sich in diesem Trauergarten einschneien lässt, um später auf der Suche nach der Tochter in eine an Tarkowskis spätsowjetischen Science-Fiction-Film "Stalker" gemahnende Kibbuz-Landschaft der verwaisten selbstmordenden Mütter zu gelangen.
Kaum zu glauben, dass dieser Text schon dreißig Jahre alt ist. Der Ruf drastischer Sexdarstellungen eilt ihm voraus - zu Unrecht. Nicht selten entlarvt ein größerer zeitlicher Abstand selbst emanzipatorische Sexualitätsdarstellungen als sexistisch, weil die Autorinnen den Sexismus ihrer Zeit verinnerlicht hatten. Hier nicht, denn es gibt keinen Punkt, von dem aus die Schilderungen pornographisch konsumierbar würden. Daher erstaunen die "aggressiven" (so Shalev) Reaktionen bei Erscheinen des Romans 1993 kaum. Sex dient der Erzählerin zur Energiegewinnung in der fremdbestimmten Tretmühle des Funktionierens. Angetrieben vom Verlangen, der eigenen Taubheit nur irgendeine Empfindung entgegenzusetzen, wird Sex die Alternative zum Ritzen heutiger Teenagerinnen.
Die frappierende Zeitlosigkeit von "Nicht ich" mag auch daran liegen, dass der jüdisch-israelische Feminismus dem deutschen um Jahrzehnte voraus ist. Vielleicht trifft er auch deshalb zielsicher auf viele heutige Dilemmata zu, weil sich in jüdischen Gesellschaften beim Thema Mutter- und Elternschaft anstelle der christlichen Binarität aus weiblich, weich, mütterlich auf der einen und männlich, hart, nestflüchtig auf der anderen Seite die Geschlechtsvorstellungen schon länger durchkreuzen und umschlingen. Wer einmal mit einem Kleinkind den Schabbat in einem israelischen Hotel verbrachte, bekommt eine Ahnung davon, was Kinder in Israel bedeuten.
Braut und Bräutigam - wie in Zeruya Shalevs Roman träumt in jiddischen Liedern schon das Baby in der Wiege oder zumindest seine davorsitzende Mutter davon, und am Ende des Romans stillt die Mutter des Ex-Mannes ihren Sohn im Hochzeitsanzug. Das zeigt den Druck auf Frauen, aber auch, wie fundamental anders patriarchale Mühlen mahlen, wenn im mütterlichen Ex-Gatten Gebärneid und neuer Mann zusammenfließen. Er ist es, der das Mädchen anzieht, frisiert und in den Kindergarten bringt, während die schlechte Mutter im Bett liegt, bis selbst das Kind sagt: "Mama, steh auf."
Vom familiären Kinderwunsch fühlte sie sich vergewaltigt, da sie selbst noch pubertär empfand. Das unter eigentümlich eifersüchtigen Bedingungen geborene Mädchen wird zur Wiedergeburt einer ewigen mütterlich-töchterlichen Fehlentwicklung. Als Kern des Lebens der Erzählerin sind Anwesenheit und Fehlen des Mädchens dasselbe Problem. Da es sie ehedem bis zur vollständigen Verdrängung des mütterlichen Ichs ausfüllte, bleibt mit dem Verschwinden nur noch deren Nicht-Ich übrig. Treffender ist das unlösbare Dilemma der Mutterschaft vielleicht nie beschrieben worden. Heute ist "Regretting Motherhood" einer der meistdiskutierten und meistmissverstandenen Begriffe für dieses psychologische Paradoxon. Als Orna Donath es vor knapp zehn Jahren als Studie mit israelischen Frauen vorstellte, war Zeruya Shalevs literarische Formulierung bereits mehr als zwanzig Jahre in der Welt. "Regretting Motherhood" gilt mittlerweile als internationales Phänomen.
Die Erzählerin ist ausdrücklich das Nicht-Ich der Autorin, die vor dreißig Jahren vor dem Kindergarten ihrer Tochter wartend die ersten Sätze dieses Romans auf Rückseiten eines von ihr lektorierten Manuskripts schrieb. In ihrem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung ruft Shalev mit dieser Entstehungsgeschichte die Subjekttheorie des deutschen Idealismus auf. Als Setzung des Ichs umfasst das Nicht-Ich bei Johann Gottlieb Fichte die Gesamtheit der räumlichen Welt inklusive des empirischen Selbst. Nicht-Ich wird damit als künstlerische Setzung lesbar, um das Dilemma des eigenen Seins begreifbar zu machen und damit als Voraussetzung des Autorin-Werdens.
Gegenüber dieser komplexen Hinführung mag die romantische Konventionalität der Ich-Werdung überraschen, mit der der Roman am Ende das Unlösbare kappt. Das ändert jedoch nichts daran, dass mit "Nicht ich" Shalevs nun endlich wichtigstes Werk in deutscher Sprache vorliegt. TINA HARTMANN
Zeruya Shalev: "Nicht ich". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erzählerin, so kristallisiert sich langsam heraus, hat die Familie verlassen. Der Skandal daran ist: nicht aus Liebe! Denn "Ficken hab' ich gemocht, aber Sex hab' ich gehasst". Buchstäblich im Vorübergehen brauchte sie den Energiekick, um einen erschöpfenden Alltag zu bewältigen. "Einmal zum Beispiel war der Geliebte nicht in seinem Zimmer, als ich kam, und ich versuchte, ohne diesen Fick weiterzugehen, und wurde schließlich am Eingang des Kindergartens ohnmächtig." Waren Fürsorge und Verzicht vergeblich, wenn auf verstörende Weise nicht einmal mehr klar ist, ob das Mädchen - ein Geschöpf zwischen "Venus" und "Virus", Göttin und Zwerg, Puppe und Totgeburt - je existierte?
Mit ihren prismatisch gebrochenen Geschichten verweigert die Erzählerin zugleich erzählerische wie psychologisch-psychoanalytische Kausalität. "Wenn ihr alles glaubt, was ich bisher erzählt habe, irrt ihr euch." Die mit ihrer Kleinfamilie Gescheiterte ruft zur Begründung übliche Mama-Papa-Kind- Stereotype auf und dekonstruiert sie, indem sie sich selbst als Un-Mutter anklagt und zugleich den eigenen Eltern wegen Lieblosigkeit den Prozess macht. Der Vater mutiert über ihrer Anklage zur Kuckucksuhr, doch der Mutter empfiehlt die Erzählerin, statt eines Psychologen "den Uhrmacher" zu holen.
Statt Erklärungen zu liefern, spiralt sich daraus in skurrilen, drastischen, komischen, fast nie vorhersehbaren Bildern und immer neuen Verschränkungen ein Lamento auf zur DNA des Verlusts. Darin werden Metaphern zu Geschichtsfragmenten, die feuerwerksartig als Bilder aufsteigen, explodieren und verpuffend bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie verleihen dem schwer fasslichen, doch hochgradig stimmigen Text eine musikalische Faktur, die mit ratloser Klarheit Erklärungen zweiter Ordnung liefert. Etwa wenn die Erzählerin mit Spielzeug einen winterlichen Kreisverkehr bepflanzt und sich in diesem Trauergarten einschneien lässt, um später auf der Suche nach der Tochter in eine an Tarkowskis spätsowjetischen Science-Fiction-Film "Stalker" gemahnende Kibbuz-Landschaft der verwaisten selbstmordenden Mütter zu gelangen.
Kaum zu glauben, dass dieser Text schon dreißig Jahre alt ist. Der Ruf drastischer Sexdarstellungen eilt ihm voraus - zu Unrecht. Nicht selten entlarvt ein größerer zeitlicher Abstand selbst emanzipatorische Sexualitätsdarstellungen als sexistisch, weil die Autorinnen den Sexismus ihrer Zeit verinnerlicht hatten. Hier nicht, denn es gibt keinen Punkt, von dem aus die Schilderungen pornographisch konsumierbar würden. Daher erstaunen die "aggressiven" (so Shalev) Reaktionen bei Erscheinen des Romans 1993 kaum. Sex dient der Erzählerin zur Energiegewinnung in der fremdbestimmten Tretmühle des Funktionierens. Angetrieben vom Verlangen, der eigenen Taubheit nur irgendeine Empfindung entgegenzusetzen, wird Sex die Alternative zum Ritzen heutiger Teenagerinnen.
Die frappierende Zeitlosigkeit von "Nicht ich" mag auch daran liegen, dass der jüdisch-israelische Feminismus dem deutschen um Jahrzehnte voraus ist. Vielleicht trifft er auch deshalb zielsicher auf viele heutige Dilemmata zu, weil sich in jüdischen Gesellschaften beim Thema Mutter- und Elternschaft anstelle der christlichen Binarität aus weiblich, weich, mütterlich auf der einen und männlich, hart, nestflüchtig auf der anderen Seite die Geschlechtsvorstellungen schon länger durchkreuzen und umschlingen. Wer einmal mit einem Kleinkind den Schabbat in einem israelischen Hotel verbrachte, bekommt eine Ahnung davon, was Kinder in Israel bedeuten.
Braut und Bräutigam - wie in Zeruya Shalevs Roman träumt in jiddischen Liedern schon das Baby in der Wiege oder zumindest seine davorsitzende Mutter davon, und am Ende des Romans stillt die Mutter des Ex-Mannes ihren Sohn im Hochzeitsanzug. Das zeigt den Druck auf Frauen, aber auch, wie fundamental anders patriarchale Mühlen mahlen, wenn im mütterlichen Ex-Gatten Gebärneid und neuer Mann zusammenfließen. Er ist es, der das Mädchen anzieht, frisiert und in den Kindergarten bringt, während die schlechte Mutter im Bett liegt, bis selbst das Kind sagt: "Mama, steh auf."
Vom familiären Kinderwunsch fühlte sie sich vergewaltigt, da sie selbst noch pubertär empfand. Das unter eigentümlich eifersüchtigen Bedingungen geborene Mädchen wird zur Wiedergeburt einer ewigen mütterlich-töchterlichen Fehlentwicklung. Als Kern des Lebens der Erzählerin sind Anwesenheit und Fehlen des Mädchens dasselbe Problem. Da es sie ehedem bis zur vollständigen Verdrängung des mütterlichen Ichs ausfüllte, bleibt mit dem Verschwinden nur noch deren Nicht-Ich übrig. Treffender ist das unlösbare Dilemma der Mutterschaft vielleicht nie beschrieben worden. Heute ist "Regretting Motherhood" einer der meistdiskutierten und meistmissverstandenen Begriffe für dieses psychologische Paradoxon. Als Orna Donath es vor knapp zehn Jahren als Studie mit israelischen Frauen vorstellte, war Zeruya Shalevs literarische Formulierung bereits mehr als zwanzig Jahre in der Welt. "Regretting Motherhood" gilt mittlerweile als internationales Phänomen.
Die Erzählerin ist ausdrücklich das Nicht-Ich der Autorin, die vor dreißig Jahren vor dem Kindergarten ihrer Tochter wartend die ersten Sätze dieses Romans auf Rückseiten eines von ihr lektorierten Manuskripts schrieb. In ihrem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung ruft Shalev mit dieser Entstehungsgeschichte die Subjekttheorie des deutschen Idealismus auf. Als Setzung des Ichs umfasst das Nicht-Ich bei Johann Gottlieb Fichte die Gesamtheit der räumlichen Welt inklusive des empirischen Selbst. Nicht-Ich wird damit als künstlerische Setzung lesbar, um das Dilemma des eigenen Seins begreifbar zu machen und damit als Voraussetzung des Autorin-Werdens.
Gegenüber dieser komplexen Hinführung mag die romantische Konventionalität der Ich-Werdung überraschen, mit der der Roman am Ende das Unlösbare kappt. Das ändert jedoch nichts daran, dass mit "Nicht ich" Shalevs nun endlich wichtigstes Werk in deutscher Sprache vorliegt. TINA HARTMANN
Zeruya Shalev: "Nicht ich". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Zeruya Shalevs erster Roman 'Nicht ich' ist eines der kühnsten Werke der postmodernen israelischen Literatur. Man könnte ihn als die Urquelle ihrer gesamten Erzählkunst bezeichnen.« Avner Holtzman
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Skurril, unerbittlich, zeitlos: so lobt Rezensentin Tina Hartmann Zeruya Shalevs Debütroman, der nach dreißig Jahren "endlich" auf Deutsch erschienen ist. Shalev erzählt von einer Frau, deren Lebensweg von Geburt an vorgezeichnet ist: zunächst braves Mädchen, später Ehefrau und auf jeden Fall Mutter. Diesem Schicksal versucht Shalevs Protagonistin durch sexuelle Abenteuer zu entkommen. Hartmann gefällt vor allem der vehemente Ton von Shalves Roman. Darstellungen von Sexualität liefen oft Gefahr, selbst sexistisch zu werden, selbst wenn Sex als Ausweg aus familiärer Unterdrückung gesehen werde. Nicht bei Shalev, meint die Rezensentin. Hier sei keine Sexszene "pornografisch
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konsumierbar", denn Sex dient vor allem zur Bewältigung des Alltags. Die drastischen Sexdarstellungen, der dezidiert feministische Grundton der Erzählung - Shalev war ihrer Zeit weit voraus. Und doch erkennt Hartmann auch ein Manko von Shalevs Debüt: In Anlehnung an die Philosophie des deutschen Idealismus bediene sich die Autorin einer Nicht-Ich-Erzählerin, um gleichzeitig eine allgemeine Geschichte und ihre eigene Geschichte mit all ihren Dilemmata und ihrem Weg zur Autorin erzählen zu können. Auch wenn die Rezensentin überrascht ist, wie die "romantische Konventionalität" der Selbstfindung "am Ende das Unlösbare kappt", schmälert das ihrer Meinung nach nicht die Relevanz des Textes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Gebundenes Buch
Zeruya Shalevs Debütroman, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint und ein Vorwort der Autorin enthält, ist sprachlich anders als ihre späteren Romane. Doch einige bekannte Motive ihrer anderen Bücher gibt es doch.
Eine Frau verlässt Mann und 5jährige Tochter …
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Zeruya Shalevs Debütroman, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint und ein Vorwort der Autorin enthält, ist sprachlich anders als ihre späteren Romane. Doch einige bekannte Motive ihrer anderen Bücher gibt es doch.
Eine Frau verlässt Mann und 5jährige Tochter für ihren Geliebten.
Doch damit kommt sie nicht klar. Sie isoliert sich selbst und beklagt ihren Zustand. Sie leidet. Ihr gehen sogar die Haare aus.
Diesen Bewusstseinszustand macht Zeruya Shalev mit Mitteln des magischen Realismus deutlich. Das hat mich nach anfänglicher Skepsis doch überzeugt.
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Gebundenes Buch
»Am nächsten Tag lag ich mit geschlossenen Augen im Bett... Manchmal liege ich bis zum Abend so da, manchmal bis zum nächsten Morgen. Ich habe nicht die Kraft, die Augen aufzumachen.« |30
Mit geschlossen Augen verfängt sich eine Frau in Traumsequenzen, die den Wunsch …
Mehr
»Am nächsten Tag lag ich mit geschlossenen Augen im Bett... Manchmal liege ich bis zum Abend so da, manchmal bis zum nächsten Morgen. Ich habe nicht die Kraft, die Augen aufzumachen.« |30
Mit geschlossen Augen verfängt sich eine Frau in Traumsequenzen, die den Wunsch umkreisen auszubrechen. Oder ist sie schon gefallen? Befreit? Sie hat ihren Mann und ihre Tochter für eine neue Liebe verlassen. Oder ist die Tochter entführt? Eine Puppe? Hat sie eine neue Mama, selbst gewählt? Wartet die Tochter auf die Frau oder dreht sich »Nicht ich« um verschobene regressive Versorgungswünsche der Frau selbst? Liebhaber eins ist auch verlassen, nun gibt es einen neuen, ihre Haare fallen aus, sie pflanzt Teddybären, der Heiler verstummt nach seinem Rat, ihre Gebärmutter in den Exmann zu operieren, der wird vielleicht schwanger, auf jeden Fall dick, die Eltern versperren den Weg in die Regression, der Tod flirtet mit ihr, der Geheimdienst bleibt kühl und alles scheint darauf zu warten, dass die Figur wieder rund läuft oder reifen wird, zurück zur Tochter kehrt, ihre Haare und die Lächerlichkeit der Liebe erkennt.
Klingt schräg? Ist es. Vor dreißig Jahren debütierte die inzwischen etablierte israelische Autorin Shalev mit »Nicht ich«, einem assoziativen, Symbolgeladenen, strömenden Text, der im Titel auch mit den Worten Dazwischen, Flucht oder Übergänge hätte spielen können. Entgegen der konventionellen Form ihrer nachfolgenden Romane, steckt »Nicht ich« im Übergang von surrealer Lyrik in Prosa, flieht durch Gedankenstöme und Szenen und zerfällt immer wieder. Die brennende Intensität ihrer Figuren, die immer etwas an Anna Karenina erinnern, aber weder romantischem Kitsch noch Unterwerfung verfallen oder tragisch sterben, ist in »Nicht ich« pur, wenn auch fragmentiert. Die im Verlauf ihres Werkes immer expliziter ins Textbewusstsein drängenden Andeutungen auf eine permanente Bedrohung in Israel, bleibt im Debüt fast verborgen.
Träume und traumartig strömende Texte überwinden Zensur in Unschärfen. »Nicht ich« fließt durch sexuell explizite, komische, provokante Szenen, driftet in eine Biederkeit und unterwandert dann wieder gesellschaftliche Erwartungen und Regeln. Der dargebotene Bewusstseinsstrom bietet viel Stoff für psychoanalytisch und religionsgeschichtlich interessierte Leser:innen, auch liest sich »Nicht ich« anschlussfähig an aktuelle Diskurse zu Frauenbildern und Mutterschaft. Ist es nicht auch heute ein Tabubruch, dass einer Mutter der Kontakt zu ihrer Tochter abhanden kommt, dass sie ihren Mann betrügt, sich in Liebhaber stürzt, weitertreibt, ihre Eltern anklagt, und eins der Symbole der Weiblichkeit, ihre Haare, verliert?
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Dennoch ist »Nicht Ich« ein unvollkommener Text, der trotz der erneuten Überarbeitung für die Neuerscheinung und Übersetzung unfertig erscheint. Er ist nur 200 Seiten lang, schafft es aber trotzdem, den Faden zu verlieren in seiner Mitte, um sich dann wieder zu fangen und den Bogen zu schließen. Dass er bei Ersterscheinung 1993 von der männlich dominierten Literaturkritik Israels gemischt aufgenommen wurde und bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurde, obwohl Shalev Bestsellerautorin ist, hat wahrscheinlich nicht nur mit der Form, der traumartig fragmentierten Erzählart und den provokanten Inhalten zu tun.
Doch gerade diese Unvollkommenheit verbunden mit bestechlicher Intensität und Humor macht »Nicht ich« lesenswert.
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