Philip Roth
Audio-CD
Nemesis
Vollständige Lesung. 382 Min.
Übersetzung: Gunsteren, Dirk van; Gesprochen von Schönfeld, Joachim
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Newark 1944. In der Stadt bricht eine schreckliche Polioepidemie aus. Die meisten Betroffenen sind Kinder, denen Lähmung oder gar der Tod droht. Bucky, ein junger Sportlehrer, bewahrt die Ruhe, während in den Familien Panik herrscht. Als er seine Freundin Marcia in ein Kinderferienlager begleitet, scheint der Fluch der Seuche in der idyllischen Landschaft gebannt. Doch wenige Tage nach Buckys Ankunft erkranken auch hier zwei Jungen an Polio und ihn beschleicht ein schrecklicher Verdacht ...
Philip Roth wurde 1933 in Newark, New Jersey, geboren. Für sein Werk wurde er mit allen bedeutenden amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Jahre 2001 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Goldmedaille für Belletristik, die alle sechs Jahre für das Gesamtwerk eines Autors verliehen wird. 2006 wurde Philiph Roth mit dem "Pen/Nabokov-Preis" ausgezeichnet, 2007 erhielt er den "Saul-Bellow-Preis" des Schriftsteller-Verbands, 2009 den "Welt"-Literaturpreis und 2011 wurde er mit dem "Man Booker International Prize" ausgezeichnet. Im Jahr 2012 wurde ihm der Prinz-von-Asturien-Preis in der Kategorie Literatur verliehen.
Dirk van Gunsteren, geb. 1953 in Düsseldorf, ist ein deutscher literarischer Übersetzer aus dem Englischen und Niederländischen und freiberuflicher Redakteur. Van Gunsteren wuchs in Duisburg auf, seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Holländer. Nach mehreren Aufenthalten in Indien und in den USA studierte er in München Amerikanistik. Seit 1984 ist er als Übersetzer insbesondere aus dem Englischen tätig. Van Gunsteren lebt in München. 2007 erhielt van Gunsteren den 'Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis' für seine Übersetzung angelsächsischer Literatur.
Joachim Schönfeld ist nach Theaterjahren in Weimar und Berlin heute überwiegend in Film- und Fernsehproduktionen zu sehen. Zudem hat er sich als Autor, Regisseur und Hörbuchsprecher etabliert.
Dirk van Gunsteren, geb. 1953 in Düsseldorf, ist ein deutscher literarischer Übersetzer aus dem Englischen und Niederländischen und freiberuflicher Redakteur. Van Gunsteren wuchs in Duisburg auf, seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Holländer. Nach mehreren Aufenthalten in Indien und in den USA studierte er in München Amerikanistik. Seit 1984 ist er als Übersetzer insbesondere aus dem Englischen tätig. Van Gunsteren lebt in München. 2007 erhielt van Gunsteren den 'Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis' für seine Übersetzung angelsächsischer Literatur.
Joachim Schönfeld ist nach Theaterjahren in Weimar und Berlin heute überwiegend in Film- und Fernsehproduktionen zu sehen. Zudem hat er sich als Autor, Regisseur und Hörbuchsprecher etabliert.
© Nancy Crampton
Produktdetails
- Verlag: Dhv Der Hörverlag
- Anzahl: 6 Audio CDs
- Gesamtlaufzeit: 382 Min.
- Erscheinungstermin: 11. Februar 2011
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783867177108
- Artikelnr.: 32577624
Herstellerkennzeichnung
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Die schwarze Ader unseres Schicksals
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte
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Roosevelt in heiligem Zorn die gesamte Anlage auf und baute sie zu einem Rehabilitationszentrum für Opfer der Kinderlähmung aus. Von solchen Millionärsmanövern, die Rettung und Rache in einem sind, kann ein Durchschnittsmensch wie Philip Roths Held Eugene "Bucky" Cantor nur träumen.
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein düsteres Meisterwerk ... eine spannende, bewegende und minuziös recherchierte Geschichte. Einmal mehr bewundert man die Souveränität dieses geborenen Erzählers: sein Gespür für Melodie und Rhythmus, seine lebendigen Dialoge, seinen Blick für das sprechende Detail, seine Gabe, eine Szene in knappen Worten so vor uns hinzustellen, dass wir sie mit allen Sinnen wahrnehmen." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 30.01.11 "Ein gallebitteres, hoffnungsloses Buch, ein Buch, das einen fassungslos und trotzdem auf eigenartige Weise belebt zurücklässt. "Nemesis" ist ein Meisterwerk und Roth ist ein Meister nicht nur im Schreiben, sondern im Kampf mit dem - abwesenden - Gott." Peter Michalzik, Frankfurter Rundschau, 07.02.11 "Mit diesem Werk
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vollendet Roth eine Tetralogie kürzerer Romane, in denen er die Summe seiner Themen und seines Könnens zieht, meisterhaft alles, was ihn als Schriftsteller ausmacht, zusammenführt und konzentriert." Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 17.02.11 "Es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes." Markus Gasser, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.11 "Bewegend, radikal, meisterhaft: Der neue Roman von Philip Roth geht unter die Haut. ... Der Held Bucky Cantor erscheint uns als Opfer einer unbegreiflichen Tragödie, die niemanden, der diesen finsteren, wahrhaft großartigen Roman liest, unberührt lässt. Auch wenn es allmählich langweilig wird, Philip Roth zu loben: Er ist der Größte. Was ja nun inzwischen jeder weiß, mit Ausnahme der schwedischen Akademie." Ulrich Greiner, Die Zeit, 10.02.11 "Die Handlung setzt ein im Sommer 1944: In Europa und Asien tobt der Zweite Weltkrieg, im amerikanischen Newark eine Polioepidemie. Roths Held ist ein junger Sportlehrer, ein moderner Hiob, der sich in diesem raffiniert erzählten Roman fragt, wie Gott es zulassen kann, dass kleine Kinder sterben, dass unser Leben von sinnlosen Krankheiten, Verlusten und Qualen bestimmt ist, dass Unschuldige leiden und wir schuldlos Leid zufügen. "Nemesis" ist ein tröstendes Buch in einer trostlosen Welt - Weltliteratur." Denis Scheck, ARD druckfrisch, 27.02.11
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"Souverän und intensiv interpretiert Joachim Schönfeld die beklemmende Geschichte (...)"
Bucky Cantor ist im Jahr 1944 erst 23 Jahre alt und kommt als Sportlehrer direkt vom College, als er die Aufsicht über den Sportplatz einer Highschool während der Sommerferien in Newark übernimmt. Als es in der Stadt zu einer Polioepidemie kommt, versucht er Ruhe zu verbreiten, auch …
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Bucky Cantor ist im Jahr 1944 erst 23 Jahre alt und kommt als Sportlehrer direkt vom College, als er die Aufsicht über den Sportplatz einer Highschool während der Sommerferien in Newark übernimmt. Als es in der Stadt zu einer Polioepidemie kommt, versucht er Ruhe zu verbreiten, auch noch als einer seiner Lieblingsschüler zu Tode kommt. Als weitere Schüler sterben und er von Eltern beschimpft wird, das Rennen in der Hitze hätte die Polioepidemie ausgelöst, verlässt er Newark und fährt zu seiner Verlobten Marcia, die als Lehrerin in einem Sommercamp in Indian Hill arbeitet. Als es auch dort zu einem Fall von Polio kommt, bricht Buckys heile Welt endgültig auseinander.
Philip Roth benennt seinen Roman nach der griechischen Rachegöttin „Nemesis“ und so hadert auch die Hauptfigur Bucky Cantor in diesem bewegenden Roman immer wieder mit seinem Gott, der neben dem Zweiten Weltkrieg auch noch die Kinderlähmung in die Welt gebracht hat. Was Bucky als bösen Willen seines Gottes ansieht, bezeichnet der Erzähler aber als „Tyrannei der Umstände“ in die Bucky verwickelt wird und die sein Leben prägen. Der Roman ist bis in die kleinen Details wunderbar geschrieben und das Schicksal von Bucky, dessen Leben durch sein starkes Pflicht- und Verantwortungsgefühl vorgezeichnet scheint, lässt einen als Leser betroffen und traurig zurück.
Eine bewegende Geschichte, die einen auch nach dem Lesen des Buches noch gefangen hält und zum Nachdenken bringt.
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Ein Roman aus dem Klischee-Baukasten
Als hoch gepriesener US-amerikanischer Schriftsteller liefert Philip Roth mit «Nemesis» seinen, wie er selbst beteuert hat, letzten Roman ab. Die Idee dazu kam ihm durch eine Freundin, die Filmschauspielerin Mia Farrow, die als junges Mädchen …
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Ein Roman aus dem Klischee-Baukasten
Als hoch gepriesener US-amerikanischer Schriftsteller liefert Philip Roth mit «Nemesis» seinen, wie er selbst beteuert hat, letzten Roman ab. Die Idee dazu kam ihm durch eine Freundin, die Filmschauspielerin Mia Farrow, die als junges Mädchen an Kinderlähmung erkrankt war. Aber auch die Lektüre von «Die Pest», dem grandiosem Roman von Albert Camus, hat ihn wohl inspiriert. Schon lange als nobelpreiswürdig angesehen, ist ihm, wie auch vielen seiner erfolgreichen nordamerikanischer Kollegen, diese höchste Ehrung bisher versagt geblieben, und zwar wegen der Trivialität ihrer Literatur, so der pauschale Vorbehalt der Jury. Ist diese Kritik denn zutreffend, fragen wir uns.
Die Rachegöttin Nemesis dient dem Miesepeter aus New Jersey, wie der Autor wegen seiner eher trübsinnig machenden Romane mal genannt wurde, als aussagekräftiger Titel für seine düstere Geschichte einer Polio-Epidemie, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, als man der heimtückischen Krankheit also noch weitgehend hilflos gegenüberstand. Durch eine raffinierte Konstruktion in drei Kapiteln gelingt es Roth, seiner eher langweiligen Story eine gewisse Dramatik zu verleihen, die vermutlich manche Leser zu fesseln vermag. Arnie Mesnikoff, der Ich-Erzähler und überzeugte Atheist, steht dabei in krassem Gegensatz zur jüdischen Hauptfigur Bucky Cantor, einem blitzsauberen, hehren Sportmenschen, der leibhaftige Idealtypus des American Hero. Beide erkranken an Poliomyelitis, gehen aber, wie man in einer Art Showdown erst ganz am Ende der Geschichte erfährt, völlig unterschiedlich mit ihrem Schicksal um
Warum lässt Gott uns leiden, warum lässt er grausame Kriege zu, warum überzieht er uns mit solch verheerenden Epidemien? Alles Fragen, an denen sich die Theologen aller Religionen seit Jahrhunderten abarbeiten, ohne auch nur ansatzweise eine überzeugende Antwort zu finden. An genau dieser Frage scheitert auch der gläubige Romanheld, der nicht nur mit seinem Schicksal hadert, sondern, schlimmer noch, an seinen Selbstzweifeln leidet und sich eine Mitschuld an der Ausbreitung der Epidemie einredet. Was für den lebensklugen Ich-Erzähler die Tyrannei der Umstände ist, aus denen man pragmatisch das Beste machen muss, das ist für den vor lauter Moral- und Ehrgefühlen geradezu mystisch überhöhten Helden die pure Theodizee. Er steht der unheilvollen Melange von Schicksalsschlägen und nicht verifizierbaren Selbstvorwürfen jedenfalls völlig ratlos gegenüber.
Ein Abgrund des Trivialen tut sich auf in diesem Roman, Klischees im Übermaß jedenfalls, vom kriminellen Vater, im Kindbett gestorbener Mutter, wahren Gutmenschen als Großeltern, makellosem Doktor als Schwiegervater, bösen Italienern und guten Juden, idyllischem Indianercamp, selbstlosem Liebesverzicht bis hin zum göttergleichen Speerwerfer, der uns am Ende des Buches vorgeführt wird. Hollywood lässt grüßen! Schade eigentlich, denn der Stoff gäbe einiges her, erinnert in seiner Tragik ja durchaus an griechische Dramen. Erzählt ist diese holzschnittartige Geschichte von Idealen, Moral, Verantwortung, Vorurteilen, Schuld und Sühne in einer einfachen, knappen, humorlosen Sprache ohne Raffinesse und Esprit. Lesevergnügen sieht anders aus! Und was die künstlerische Qualität solcher literarischen Produkte anbelangt, hat das Nobelkomitee wohl ausgesprochen weise geurteilt.
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