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Woher kommt die große Wut im Osten? Fremdenfeindlichkeit und Hass auf »den Staat«: Verlieren wir den Osten Deutschlands? Das Buch sucht Antworten auf das Warum der Radikalisierung, ohne die aktuell bestimmende Opfererzählung nach 1989 zu bedienen. Es erzählt von den Schweigegeboten nach dem Ende der NS-Zeit, der Geschichtsklitterung der DDR und den politischen Umschreibungen nach der deutschen Einheit. Verdrängung und Verleugnung prägen die Gesellschaft bis ins Private hinein, wie die Autorin mit der eigenen Familiengeschichte eindrucksvoll erzählt.
»Ein wirklich grandioses Buch. Kein Wort
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Produktbeschreibung
Woher kommt die große Wut im Osten?
Fremdenfeindlichkeit und Hass auf »den Staat«: Verlieren wir den Osten Deutschlands? Das Buch sucht Antworten auf das Warum der Radikalisierung, ohne die aktuell bestimmende Opfererzählung nach 1989 zu bedienen. Es erzählt von den Schweigegeboten nach dem Ende der NS-Zeit, der Geschichtsklitterung der DDR und den politischen Umschreibungen nach der deutschen Einheit. Verdrängung und Verleugnung prägen die Gesellschaft bis ins Private hinein, wie die Autorin mit der eigenen Familiengeschichte eindrucksvoll erzählt.

»Ein wirklich grandioses Buch. Kein Wort zu viel und jeder einzelne Satz ein Volltreffer. Eins der wichtigsten Bücher des Jahres.«
Markus Lanz, ZDF - Markus Lanz, 26.02.2019

Seit 2015 haben sich die politischen Koordinaten unseres Landes stark verändert - insbesondere im Osten Deutschlands. Was hat die breite Zustimmung zu Pegida, AfD und rechtsextremem Gedankengut möglich gemacht? Ines Geipel folgt den politischen Mythenbildungen des neu gegründeten DDR-Staates, seinen Schweigegeboten, Lügen und seinem Angstsystem, das alles ideologisch Unpassende harsch attackierte. Seriöse Vergangenheitsbewältigung konnte unter diesen Umständen nicht stattfinden. Vielmehr wurde eine gezielte Vergessenspolitik wirksam, die sich auch in den Familien spiegelte - paradigmatisch sichtbar in der Familiengeschichte der Autorin. Gemeinsam mit ihrem Bruder, den sie in seinen letzten Lebenswochen begleitete, steigt Ines Geipel in die »Krypta der Familie« hinab.
Verdrängtes und Verleugnetes in der Familie korrespondiert mit dem kollektiven Gedächtnisverlust. Die Spuren führen zu unserer nationalen Krise in Deutschland.

»Das Buch "Umkämpfte Zone" hat mich sehr beeindruckt - durch die Fülle treffender Beobachtungen und scharfsinniger Analysen [...]. Insbesondere die Ausführung zum Buchenwald-Mythos, zur AfD und zur Blockade des ostdeutschen Wegs in eine Verantwortungsgesellschaft finde ich treffend. Undwie recht Ines Geipel hat: "50 Jahre Diktatur-Welt kann mit Pampern, Regionalismus und Rückzug aus dem Politischen nicht bewältigt werden"!«
Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a. D.

»Geipel aber verknüpft die eigene Familiengeschichte so gekonnt und
kühl mit der Geschichte der DDR, wechselt derart einleuchtend zwischen
intimen Mikro- und historischen Makrokosmos hin und her, dass daraus ein
beeindruckendes Buch über die jahrzehntelange Mehrfachvergletscherung
einer Gesellschaft wurde.«
Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 01.03.2019

Autorenporträt
Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2019

Vergletschert
Schweigen, Lügen, Angst, Gewalt: Ines Geipel schreibt die Geschichte der DDR als ein Drama
der jahrzehntelangen Schuldverdrängung. Ihr Buch könnte der aktuellen Debatte gut bekommen
VON ALEX RÜHLE
Am 6. Dezember 2017 bekommt Ines Geipel einen Anruf von ihrem Bruder Robby: Ihm bleibe nicht mehr viel Zeit. Ob sie kommen könne. Als sie wenig später auf der Dresdner Palliativstation eintrifft, erklärt er ihr: Glioblastom, 4. Stufe, „der Herrndorf-Tumor“. Die beiden haben einander zu dem Zeitpunkt fünf Jahre nicht gesehen, man versteht anfangs nicht, wie das sein kann, schließlich, so spürt man, waren sie einander nicht nur zufällige Geschwister, sondern Lebensverbündete, die in der Kindheit gemeinsam Gewaltexzessen ihres Vaters ausgesetzt waren. „Wir waren uns ein Versteck. Was nicht greifbar sein sollte, was wir sichern mussten, brachten wir beim anderen unter.“ Jetzt, auf dem Totenbett, sagt Robby, sie solle „darüber schreiben“. Am 6. Januar 2018 ist er gestorben, und Ines Geipel stand da mit dem Auftrag ihres Bruders.
„Darüber schreiben“. Schon in der Formulierung deutet sich Robby Geipels eigenes Verhältnis zur Vergangenheit an. Er kann das, was beschrieben werden soll, selbst nicht benennen. Seiner sechs Jahre älteren Schwester gegenüber hat er sich oft als Verdränger bezeichnet und nannte sein Lebenskonzept in glücklicheren, gesunden Tagen: „sich positiv verleugnen“.
Die Autorin Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, schrieb dagegen schon in ihrem Buch „Generation Mauer“ (2014) ihrer Alterskohorte die Rolle der „Entschweiger“ zu, die die Lügen und Tabus der eigenen Eltern zur Sprache bringen müssten, um dadurch die gefährliche transgenerationale Strahlkraft des Schweigens zu bannen.
Im Grunde kommt Geipel selbst dieser Aufgabe des „Entschweigens“ schon seit 20 Jahren nach: 1999 brachte sie die Texte von vier Autorinnen ans Tageslicht, die in den frühen Jahren der DDR zensiert und verfolgt wurden. Sie gründete das Archiv „Unterdrückte Literatur in der DDR“, in dessen Rahmen sie die „Verschwiegene Bibliothek“ herausgibt. Anderen Opfern des DDR-Systems gab die ehemalige Hochleistungssportlerin zwar keine Stimme in der Öffentlichkeit, aber eine Möglichkeit, erstmals irgendwo zur Sprache zu bringen, was ihnen angetan wurde: Die von Geipel mitgegründete Doping-Opfer-Hilfe betreut und berät über 2000 Opfer des sportlichen Zwangsdopingsystems der DDR.
Jetzt also holt sie das, was in ihrer eigenen Familie beschwiegen und vertuscht wurde, noch einmal ans Licht. Das könnte privatistisches Zeug für eine Familienaufstellung werden. Geipel aber verknüpft die eigene Familiengeschichte so gekonnt und kühl mit der Geschichte der DDR, wechselt derart einleuchtend zwischen intimem Mikro- und historischem Makrokosmos hin und her, dass daraus ein beeindruckendes Buch über die jahrzehntelange Mehrfachvergletscherung einer Gesellschaft wurde.
Ihre Kernthese: Das toxische Schweigen, das bei ihr zu hause über die SS-Vergangenheit der beiden Großväter genauso gelegt wurde wie über die Stasi-Tätigkeit des Vaters, korreliert mit dem aggressiven Angstsystem, den Schweigegeboten und Lügen, auf denen die DDR ihren Staat aufbaute und auf die der Osten später mit einem kollektiven Gedächtnisverlust reagierte.
Ihr Großvater kam im September 1941 als SS-Mann nach Riga, ab Ende November wurden im Wald von Rumbula 27 500 Juden erschossen. Der Großvater orderte aus dem Ghetto „zur Auffüllung meiner Dienstwohnung“ Betten, Tische, Schränke und verdiente hervorragend. Nach dem Krieg sprach er nie mehr ein Wort über diese Zeit des Gemetzels, sondern war nur ein armer kranker Mann, schließlich litt er seither an einer „Unverdaulichkeit“.
Geipel schließt das Bild des verstummten, magenkranken Großvaters mit dem Buchenwaldmythos kurz, der so heroischen wie verlogenen Gründungserzählung der DDR: Innerhalb der Hierarchie des Konzentrationslagers hatten kommunistische Insassen ein Binnenregime aufgebaut, sie wurden als mächtige Kapos zu Mördern – was sie später zu erpressbaren Komplizen des Ulbricht-Regimes machte, das nach außen hin freilich die Heldengeschichte von den edlen, kommunistischen Opfern des Naziterrors konstruierte. Viele Jugendliche mussten ab 1953 ihren Jugendweiheschwur in Buchenwald leisten, ausgerechnet an dem Ort, so Geipel, „an dem sich rote und braune Gewaltwelten so nah gekommen waren“ wie wohl nirgends sonst in Deutschland.
Die NS-Geschichte wurde mit der DDR-Gründung für erledigt erklärt und in den Westen abgeschoben. So konnte der Antisemitismus im Binnenklima des Ostens wuchern. Geipel zitiert interne Untersuchungen, in denen ab 1947 die Zahlen über antisemitische Übergriffe, Schmierereien, Vandalismus gesammelt wurden und die in ihrer Massierung so beunruhigend waren, dass sie jedes Mal sofort in irgendwelchen Schubladen verschwanden. Es ist geradezu bizarr, wie dann viel später, in den Endjahren des Regimes, die versprengte, linke Punkszene kriminalisiert und zerrieben, die grassierende Skinheadkultur aber ignoriert oder sogar geduldet wurde. Auffallend oft, so Geipel, waren Skins Kinder von Stasi-Mitarbeitern, die dann Straftaten der eigenen Söhne deckten. „Die Alten attestierten der Nachhut Arbeitsdisziplin und fanden es beruhigend, dass ‚die Mehrheit der Skinheads dem Wehrdienst nicht ablehnend gegenübersteht. Sie vertreten die Auffassung, dass militärische Ausbildung zum ‚Deutschtum‘ gehöre‘, mutmaßte ein Stasi-Oberst.“
Geipels Vater, offiziell Musikpädagoge und Direktor des Dresdner Pionierpalasts, hatte eine Spezialausbildung als Stasiagent durchlaufen, er gehörte der Hauptabteilung IV an, deren Mitarbeiter im Westen Republikflüchtlinge bespitzelten und Morde vorbereiteten. Er wurde von seinen Stasivorgesetzten in internen Papieren dafür gelobt, dass er bei seinen Einsätzen „keinerlei Hemmungen“ habe. Die Gewalt, die er nach innen in die Familie weitergab, deutet Geipel nur in einer horrorfilmähnlichen Momentaufnahme an – ein dunkler Flur, in dem beide Kinder stundenlang liegen, nachdem sie fachmännisch misshandelt wurden, der Vater, der sich zwischen seinen Attacken wortlos ins Wohnzimmer setzt, „um gründlich Zeitung zu lesen“.
Geipel betont, dass ihre Familiengeschichte eine extreme ist. Gleichzeitig weiß sie durch ihre intimen Gespräche mit Hunderten von Dopingopfern, dass Gewalterfahrungen im Sport wie in den Familien omnipräsent waren. Es geht ihr nie um die vorwurfsvolle Auswalzung des eigenen Schicksals. Ihre Biografie dient als Spiegel und als Gegenerzählung zu all den aktuellen Entlastungserzählungen, den restaurativen Weißt-Du-noch-Rotkäppchensekt-Idyllen genauso wie den wutgetränkten Geschichten vom armen Osten als Opfer der Globalisierung, der Wende oder zuletzt der Flüchtlingspolitik.
Man kann einiges kritisieren an diesem Buch. Das Kapitel über den Amoklauf von Erfurt hätte man streichen können. Und manche psychoanalytische Theorie wird so schlagwortartig kurz angerissen, dass man damit als Leser recht alleingelassen wird. Auch hätte das Lektorat einige seltsam schiefe Vergleich und Metaphern rausnehmen können, die wahrscheinlich dem enormen Schreibtempo geschuldet sind. Aber das sind fast stilistische Beckmessereien, gemessen an der inhaltlichen Relevanz dieses Buches, das sich selbst als Gesprächsanfang sieht in einem Jahr, in dem die AfD mit Hass- und Opferrhetorik in drei ostdeutsche Wahlkämpfe zieht: „Der Osten braucht einen guten, inneren Ort, ein eigenes Narrativ, er braucht die öffentliche Anerkennung seiner Schmerzgeschichte, er braucht Differenzierung, und seine Erfahrungen müssen nach draußen, in den politischen Raum, in die Bildung, vor allem aber an den Familientisch.“
Wie schwer das ist, kann man an Geipels eigener Familie sehen. Der Vater hat nie ein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung geäußert. Geipels Mutter verteidigt ihre Kindheitszeit inmitten der Rigaer Holocaustszenerie bis heute „wie eine Krypta“ und nennt diese Zeit im Gemetzel „unsere glücklichsten Jahre“. Die Gewalt des Vaters ihrer eigenen Kinder hat sie immer ausgeblendet. Und Robby, der Bruder, der, anders als seine Schwester, nie wegkam aus Dresden? Er war Opfer und blieb doch Mitglied des familiären Schweigepakts. Als er bei der Beerdigung die Stasizeit und die Misshandlungen des Vaters schönfärbte – „Er sagt, dass er als Leiter eines großen Kollektivs viel Verantwortung übernommen hätte und auch für geheimnisvollere Aufgaben vorgesehen war“ – kommt es zum Bruch zwischen den beiden Geschwistern, die doch bis dahin jeweils der wichtigste Mensch im Leben des anderen waren. Geipel weiß am Ende, dass ihr Bruder sich erst bei ihr gemeldet hat, als er sicher war, dass es zu spät sein würde, um die Dinge noch wirklich zu besprechen.
Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 277 Seiten, 20 Euro.
Auf Angstsystem und Lügen
reagierte der Osten mit
kollektivem Gedächtnisverlust
Es braucht die Anerkennung
der Schmerzgeschichten,
es braucht Differenzierung
Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Foto: AFP/Getty Images
Ost-Berlin, 1973. Guck mal, war doch schön, die Farben, die Flöten. Eben nicht. Ines Geipel schreibt auch gegen die Folklorisierung an.
Foto: Peter Probst
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2019

Einfach keine Antwort geben?

Das Buch zur Debatte: Ines Geipel verknüpft ihre Familiengeschichte mit der Geschichte der DDR und des wiedervereinigten Deutschlands und führt so den Nachweis, dass Schweigen Gewalt hervorbringt.

Familien können fatal sein, wenn man in der falschen groß wird. Ines Geipel hat an der ihren besonders schwer zu tragen, sie ist ein extremer Fall. Davon erzählt sie auch in ihrem neuen Buch, in dem es - wie der Untertitel deutlich macht - zunächst um ihren jüngeren Bruder, danach um den Osten und den dort grassierenden Hass geht. Der 1967 geborene Robert, durchgehend "Robby" genannt, war Kunstlehrer. Nachdem er im Dezember 2017 seine Schwester anruft, fährt sie von Berlin nach Dresden und besucht ihn jeden Tag, bis ihn der Gehirntumor vier Wochen später besiegt.

Fünf Jahre hatten sich die einst eng verbundenen Geschwister vor diesem Anruf nicht mehr gesehen, hatten sich endgültig auseinandergelebt entlang der Frage: Wie hältst du es mit der Familiengeschichte? Man kann mit dem eigenen Seelenleben und dem Schweigen der Eltern so umgehen, wie es Robby tat - Deckel zu und nie wieder öffnen. Ines, die sieben Jahre ältere Schwester, hatte da den Deckel längst aufgemacht, hatte sich durch diese verstörende Geschichte gearbeitet und seit den späten neunziger Jahren diverse Bücher über Doping, den Amoklauf in Erfurt, unterdrückte DDR-Schriftsteller und den Alltag im SED-Regime geschrieben, dazu Romane und Gedichte. In "Umkämpfte Zone" verknüpft sie mehrere Erzählstränge, die sich auch sprachlich unterscheiden. Lyrisch, intim, verletzlich, wenn es um Robby geht, nüchtern und analytisch, wenn die Familiengeschichte als Mosaikstein der Geschichte beider Deutschlands und des schließlich wiedervereinten Landes untersucht wird.

Die Ausgangslage ist düster. Beide Großväter der Autorin waren SS-Mitglieder, die eine Großmutter blieb lebenslang eine Verehrerin von Hitler, die andere verlor den Halt, weil ihr Mann nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam. Der Großvater mütterlicherseits, Otto Grunert, lebte als hoher Funktionär zu der Zeit in Riga, als dort Zehntausende Juden ermordet wurden; nach dem Krieg hatte er zwar ein massives Magenproblem, gab aber an, durchgehend in Dresden gelebt zu haben. Die Episode Riga wurde einfach gestrichen.

Der Vater, ein Musikpädagoge, leitet in Dresden die Pionierschule und lebt mit seiner Familie im Nobelviertel Weißer Hirsch. In einer zweiten Existenz ist er Terroragent der Stasi mit Expertise zum Töten. Mit acht falschen Identitäten ausgestattet, spioniert er in Westdeutschland, ein "Mann ohne Hemmungen", wie seine Ausbilder zufrieden attestieren. Die Enthemmung machte auch vor den Kindern nicht halt, die körperliche und seelische Misshandlung durch den Vater hat System. Die Mutter, die "inständigste Schweigerin", sieht dieser "Kindheit im Terror" taten- und kommentarlos zu.

Als sie vierzehn ist, kommt die Autorin ins Internat Wickersdorf, eine rote Kaderschule, entdeckt dort das Laufen für sich, wird schließlich - noch unter dem Namen Ines Schmidt - zu einer Weltklassesprinterin. Als sie beginnt, einen Republikfluchtplan zu schmieden, kontert das Ministerium für Staatssicherheit mit Bespitzelung und sogenannten Zersetzungsmaßnahmen. Bei einer Blinddarm-Operation wird auf Anordnung der Stasi die Bauchmuskulatur der Sportlerin durchtrennt. Karriereende. In Jena studiert sie Germanistik, im Sommer 1989 reist Geipel über Ungarn in den Westen, landet in Darmstadt, studiert dort Philosophie. Seit 2001 unterrichtet sie Deutsche Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Ihre Eltern sieht sie erst 1995 wieder. Aber nichts ist wieder gut, wie die Mutter meint, die Entfremdung ist tiefgehend. Die enge Bindung an Robby hält.

Vor fünf Jahren hat Ines Geipel mit dem Buch "Generation Mauer" ihre Altersgenossen, die Generation der Kriegsenkel, aufgefordert, sich endlich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Zu diesem Themenkomplex sind in der Nachfolge von Sabine Bodes Erkundungen zuletzt zahlreiche Titel erschienen, die sich mit dem Phänomen der transgenerationalen Übertragung von Traumata beschäftigen. Wie politisch das Private immer ist, wird in Geipels Fall extrem deutlich. Um das Modewort zu verwenden - das Schweigen der (Groß-)Eltern war "toxisch", die nicht aufgearbeitete nationalsozialistische Diktatur fand in der kommunistischen einen lückenlosen Nachfolger.

Das ist eine der spannendsten Episoden, wie Geipel diesen Systemwechsel beschreibt. Wie die von Stalin an der kurzen Leine gehaltenen "Moskau-Kommunisten" aus dem Konzentrationslager Buchenwald ein Mahnmal des antifaschistischen Widerstands formten, obwohl sie dort selbst fleißig gemordet hatten. "Es dürfte keinen Ort in Deutschland geben, an dem sich rote und braune Gewalt-Welten so nah gekommen waren und nach 1945 derart kategorisch wieder voneinander getrennt wurden", schreibt die Autorin. Und weiter: "Die Bevölkerung schwieg über den Nationalsozialismus, die aus Moskau Zurückgekehrten schwiegen über den sowjetischen Terror." Und die Frauen schwenkten erst Fähnchen für Hitler, dann jubelten sie Walter Ulbricht zu. Millionen "desolater Kriegsseelen" blieben unversorgt. Freud habe es nie bis in die DDR geschafft, bilanziert Geipel.

Geradezu unheimlich liest sich das Kapitel über die antisemitischen Traditionslinien, die bis in die Gegenwart wirken. Hatten vor der Judenvernichtung im Osten Deutschlands 85 000 Juden gelebt, waren es Mitte der siebziger Jahre nur noch gut siebenhundert. Die sich damals formierende Neo-Nazi-Szene, schreibt Geipel, musste "fast ohne dort lebende Juden" auskommen. Auf der anderen Seite der Mauer: ein überheblicher Westen als Leitmarke und dessen "bizarre Rolle" beim Aufbau einer "Sonderdemokratie" nach 1989. Schließlich die Flüchtlingskrise und Merkels Satz "Wir schaffen das", der Geipels ostdeutschen Freundeskreis "aufgelöst" hat.

Angesichts der Opferbilanz der DDR konnte nur eine "Schmerzgeschichte" herauskommen. Und doch gehe es jetzt darum, "noch einmal zu fragen, was Widerstand in einer Diktatur mit seinen Protagonisten macht, was die Akkuratesse der Brutalität des System bedeutet hat, was Zersetzung und Isolation sind und was sie verursacht haben." Den Nebel der Doppeldiktatur aufzureißen, die falschen Rollenbilder abzulegen, dazu möchte Ines Geipel einen Beitrag leisten, und sie tut das in ziemlich radikaler Subjektivität. Da ist viel Trauerarbeit um den Bruder im Spiel, und die gewinnt gelegentlich zu sehr die Oberhand, aber das ist nachrangig. Was hier verhandelt wird, macht das Buch - dreißig Jahre nach dem Mauerfall, bevorstehende Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, inmitten einer Debatte, die gerade in dieser Zeitung geführt wird - unbedingt lesenswert.

HANNES HINTERMEIER

Ines Geipel: "Umkämpfte Zone". Mein Bruder,

der Osten und der Hass.

Klett-Cotta Verlag,

Stuttgart 2019.

277 S., geb., 20.- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Was hier verhandelt wird, macht das Buch - dreißig Jahre nach dem Mauerfall, bevorstehende Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, inmitten einer Debatte, die gerade in dieser Zeitung geführt wird - unbedingt lesenswert.« Hannes Hintermeier, FAZ, 20.07.2019 Hannes Hintermeier FAZ 20190720