Christoph Hein
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Trutz
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In seiner Chronik der Lebensläufe zweier Familien bündelt Christoph Hein die vergebliche Hoffnung auf eine Existenz in Freiheit. Ihm ist ein Jahrhundertroman gelungen: ein Jahrhundert umgreifend, ein Jahrhundert widerspiegelnd, ein Jahrhundert verstehbar zu machen und nachzuerleben.»In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.« Mit diesem Satz beginnt eine Recherche über zwei Männer, über den Schriftstellers Rainer Trutz und Waldemar Gejm, einen Professor für Mathematik und Linguistik an der Lomonossow-Universität, der seit Jahren ein neues Forschun...
In seiner Chronik der Lebensläufe zweier Familien bündelt Christoph Hein die vergebliche Hoffnung auf eine Existenz in Freiheit. Ihm ist ein Jahrhundertroman gelungen: ein Jahrhundert umgreifend, ein Jahrhundert widerspiegelnd, ein Jahrhundert verstehbar zu machen und nachzuerleben.
»In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.« Mit diesem Satz beginnt eine Recherche über zwei Männer, über den Schriftstellers Rainer Trutz und Waldemar Gejm, einen Professor für Mathematik und Linguistik an der Lomonossow-Universität, der seit Jahren ein neues Forschungsgebiet entwickelt: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung. Doch der Nationalsozialismus in gleicher Weise wie der Stalinismus werden Trutz wie Gejm sehr bald zum Verhängnis: Der Deutsche, aus Nazideutschland geflohen, wird in einem sowjetischen Arbeitslager erschlagen. Die Umschwünge der Politik des Genossen Stalin führen im Falle Gejm zur Deportation mit anschließendem Tod. Nur die beiden Söhne, Maykl Trutz und Rem Gejm, überleben und begegnen sich Jahrzehnte später, im wiederhergestellten Deutschland und machen fast dieselben Erfahrungen wie ihre Väter ...
»In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.« Mit diesem Satz beginnt eine Recherche über zwei Männer, über den Schriftstellers Rainer Trutz und Waldemar Gejm, einen Professor für Mathematik und Linguistik an der Lomonossow-Universität, der seit Jahren ein neues Forschungsgebiet entwickelt: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung. Doch der Nationalsozialismus in gleicher Weise wie der Stalinismus werden Trutz wie Gejm sehr bald zum Verhängnis: Der Deutsche, aus Nazideutschland geflohen, wird in einem sowjetischen Arbeitslager erschlagen. Die Umschwünge der Politik des Genossen Stalin führen im Falle Gejm zur Deportation mit anschließendem Tod. Nur die beiden Söhne, Maykl Trutz und Rem Gejm, überleben und begegnen sich Jahrzehnte später, im wiederhergestellten Deutschland und machen fast dieselben Erfahrungen wie ihre Väter ...
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel -Bestseller.
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© Heike Steinweg / Suhrkamp Verlag
Produktdetails
- suhrkamp taschenbuch 4864
- Verlag: Suhrkamp
- Artikelnr. des Verlages: ST 4864
- Seitenzahl: 476
- Erscheinungstermin: 16. April 2018
- Deutsch
- Abmessung: 188mm x 116mm x 30mm
- Gewicht: 328g
- ISBN-13: 9783518468647
- ISBN-10: 3518468642
- Artikelnr.: 49453706
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
»Dieser Roman sollte Pflichtlektüre in Schulen und so zu einer Flaschenpost der Aufklärung werden ... « Carsten Otte taz. die tageszeitung 20170628
Als Stalin selbst zur Feder griff
So viele patente Mädel! Christoph Hein verfolgt in seinem Roman "Trutz" ein deutsches Familienschicksal durchs zwanzigste Jahrhundert
Der Erzähler dieses Romans ist ein Schriftsteller, der sich nach einer zufälligen Begegnung entschließt, einen Roman zu schreiben, den er eigentlich gar nicht geplant hatte. Er ist allwissend, weil er fleißig die Archive studiert hat. Er hält sich weitgehend im Hintergrund und ist namenlos; wir dürfen ihn aber getrost Christoph Hein nennen. Was Christoph Hein mit seinem neuen Roman vorhatte, wird schnell ersichtlich, und es steht auch im Klappentext: einen "Höllenritt durch das 20. Jahrhundert", und zwar durch "den Blick auf zwei Familien", eine
So viele patente Mädel! Christoph Hein verfolgt in seinem Roman "Trutz" ein deutsches Familienschicksal durchs zwanzigste Jahrhundert
Der Erzähler dieses Romans ist ein Schriftsteller, der sich nach einer zufälligen Begegnung entschließt, einen Roman zu schreiben, den er eigentlich gar nicht geplant hatte. Er ist allwissend, weil er fleißig die Archive studiert hat. Er hält sich weitgehend im Hintergrund und ist namenlos; wir dürfen ihn aber getrost Christoph Hein nennen. Was Christoph Hein mit seinem neuen Roman vorhatte, wird schnell ersichtlich, und es steht auch im Klappentext: einen "Höllenritt durch das 20. Jahrhundert", und zwar durch "den Blick auf zwei Familien", eine
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deutsche und eine russische, die "ein Gesamtpanorama dieser extremistischen Jahrzehnte" ergeben. Dieses Vorhaben ist als Roman aus verschiedenen Gründen weitgehend gescheitert. Am ehesten ist noch der Panoramablick gelungen, was nicht weiter verwunderlich ist, weil ihn schon die vorliegenden Geschichtsbücher liefern. Das Ende der Weimarer Republik, die sogenannte Machtergreifung, die Schrecken und Verbrechen des Stalinismus inklusive der Moskauer Prozesse und der Deportationen zur Zwangsarbeit, die Kämpfe in der frühen DDR und die der Nachwendezeit - das alles wird getreulich und zuweilen schulbuchhaft rekapituliert, aber es wird nur selten wirklich erzählt.
Die Geschichte beginnt mit dem Werdegang des Rainer Trutz, Sohn eines mecklenburgischen Bauern, der mit neunzehn sein Zuhause verlässt und nach Berlin geht, um dort eine literarische Karriere zu machen, sicher auch angeregt durch seinen Deutschlehrer, der die künstlerischen Interessen seines Schützlings erkannt und gefördert hat. Dieser Junge gehört also nicht aufs Dorf, sondern, man lese: "Er brauchte die Stadt, die Großstadt mit ihrem wilden und anregenden Leben, die beständige Erregung, die Hast und Eile der Großstädter, die sprunghafte, pulsierende Betriebsamkeit, die Lust am Überschreiten von Grenzen, Grenzen der Moral, des Anstands, der bürgerlichen Sitten." So sprunghaft, pulsierend und klischeebeladen geht es zumindest im ersten Teil des Romans auch weiter.
Trutz, der in Berlin mangels Arbeit schon unterzugehen droht, wird von Lilija, einer sowjetischen Botschaftsangehörigen - Abteilung Kultur, genauer Film -, angefahren, die sich danach rührend um ihn kümmert. Gegen diesen Dea-ex-Machina-Effekt ist eigentlich nichts einzuwenden, zumal die Botschaftsangehörige, eine Lettin, nicht auch gleich noch seine Geliebte wird. Das wird vielmehr Gudrun Becker, eine Gewerkschaftsmitarbeiterin und zugleich Angehörige eines Paul-Tillich-Kreises, eine christliche Sozialistin also. Nach einem missratenen Theaterstück schreibt Rainer Trutz dann einen gelungenen Roman, den ein Verleger unter anderem deshalb schätzt und kauft, weil er nicht mehr als 150 Seiten hat. In dem geht es um die Auswirkungen der Zeitläufte "auf den kleinen Mann", dem Publikum gefällt das offensichtlich, und Trutz kommt auf die Erfolgsspur, darf sogar für die "Weltbühne" schreiben. Was wichtig und was beunruhigend ist in diesen Jahren, wird entweder im Schnellverfahren rekapituliert - "die Folgen des Wirtschaftschaos und der Reparationsforderungen der Siegermächte" - oder in Dialogen besprochen, in denen Sätze fallen wie dieser: "Ich lese gerade die Briefe Voltaires, du weißt, des großen Franzosen."
Für die Darstellung der zwanzig Jahre, die auf 1933 folgen, bringt Christoph Hein phasenweise größere schriftstellerische Geduld und Genauigkeit auf. Familie Trutz ist nach Moskau emigriert, nun kommt die Familie Gejm ins Spiel, deren Oberhaupt Sprachwissenschaft und Mathematik an der Moskauer Universität lehrt. Sein einziges Interesse ist die Mnemonik, die Herausbildung einer Gedächtnistechnik, die im Idealfall dazu führen soll, dass man nie mehr irgendetwas vergisst. So wird es dann später bei Trutz' Sohn Maykl, der schon als Kind zusammen mit dem Sohn des Professors diese Schulung durchmacht, auch der Fall sein. Von Politik wie vom praktischen Leben versteht der Professor nicht die Bohne, wie überhaupt die Männer in diesem Roman mehrheitlich tumbe Toren zu sein scheinen, ihre Frauen dagegen die politischen Zeichen besser zu lesen und das praktische Leben besser zu bewältigen verstehen: patente Mädels sie alle. Rainer Trutz arbeitet derweil beim U-Bahn-Bau, seine Frau in einer Schokoladenfabrik. Den Kontakt zwischen den beiden Familien hat natürlich Lilija hergestellt.
Um es kurz zu machen: Die Verhältnisse ändern sich; am Ende ist Professor Gejm die Zielscheibe eines zentralen Artikels in der "Prawda", der eventuell von Stalin selbst geschrieben wurde. Die Familie Trutz wird Opfer anderer Intrigen, alle werden deportiert und sterben letztlich an der Zwangsarbeit oder, wie Rainer Trutz, schon am Tag seiner Ankunft im Lager an der Gewalt durch einen Kapo. In diesen Passagen ist Hein am stärksten und genauesten. Der plötzliche Tod des Rainer Trutz zum Beispiel trifft den Leser, der sonst fast alles in diesem Roman vorhersehen kann, bevor es erzählt wird, völlig unvorbereitet.
Von der Familie Trutz überlebt nur Maykl, der 1952, er ist jetzt achtzehn, in die DDR ausreisen darf und dort als Archivar arbeitet. Er entdeckt auf diesem Weg einen alten Nazi in der SED-Führung, lernt in Wien kurz Simon Wiesenthal kennen - in diesem Roman dürfen viele berühmte Namen ein kurzes Gastspiel geben -, erleidet dann durch Pech und eigenes Ungeschick einen Karriereknick. Mit den Frauen hat er, bis auf die letzte, kein Glück. Es gibt dann einen Tigersprung über mehrere Jahrzehnte hinweg bis zur Wende, und Maykls Ungeschick setzt sich auch danach fort. Am Ende sieht er seinen Kindheitsfreund Rem wieder, der in Moskau als Armeedolmetscher Karriere gemacht hat und lange Zeit nicht ausreisen durfte. Da sie sich 48 Jahre nicht gesehen haben, tauschen sie im Gespräch miteinander noch einmal all das aus, was wir Leser schon wissen, wobei sie sich fröhlich-melancholisch mit Wodka besaufen. Der Roman endet tatsächlich mit der bekannten Liedzeile "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist".
Heins Roman scheitert, neben etlichen sprachlichen Unglücksfällen, vor allem an der Position des Erzählers und dessen mangelnder Erzählökonomie. Er weiß zu viel und möchte uns das auch alles erzählen. Das meiste von dem wissen wir aber schon sehr lange. Und manches davon, etwa, was es hieß, als "Verräter" in einem Stalinschen Gefängnis zu sitzen, hat man anderswo bereits sehr viel eindrucksvoller gelesen, zum Beispiel in Koestlers "Sonnenfinsternis". Dass das Erzählte unbestreitbar über weite Strecken spannend ist, liegt nicht am Erzähler, sondern an der Wucht der Geschichte. Die hat in diesem Fall die Literatur besiegt.
JOCHEN SCHIMMANG
Christoph Hein: "Trutz". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 477 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichte beginnt mit dem Werdegang des Rainer Trutz, Sohn eines mecklenburgischen Bauern, der mit neunzehn sein Zuhause verlässt und nach Berlin geht, um dort eine literarische Karriere zu machen, sicher auch angeregt durch seinen Deutschlehrer, der die künstlerischen Interessen seines Schützlings erkannt und gefördert hat. Dieser Junge gehört also nicht aufs Dorf, sondern, man lese: "Er brauchte die Stadt, die Großstadt mit ihrem wilden und anregenden Leben, die beständige Erregung, die Hast und Eile der Großstädter, die sprunghafte, pulsierende Betriebsamkeit, die Lust am Überschreiten von Grenzen, Grenzen der Moral, des Anstands, der bürgerlichen Sitten." So sprunghaft, pulsierend und klischeebeladen geht es zumindest im ersten Teil des Romans auch weiter.
Trutz, der in Berlin mangels Arbeit schon unterzugehen droht, wird von Lilija, einer sowjetischen Botschaftsangehörigen - Abteilung Kultur, genauer Film -, angefahren, die sich danach rührend um ihn kümmert. Gegen diesen Dea-ex-Machina-Effekt ist eigentlich nichts einzuwenden, zumal die Botschaftsangehörige, eine Lettin, nicht auch gleich noch seine Geliebte wird. Das wird vielmehr Gudrun Becker, eine Gewerkschaftsmitarbeiterin und zugleich Angehörige eines Paul-Tillich-Kreises, eine christliche Sozialistin also. Nach einem missratenen Theaterstück schreibt Rainer Trutz dann einen gelungenen Roman, den ein Verleger unter anderem deshalb schätzt und kauft, weil er nicht mehr als 150 Seiten hat. In dem geht es um die Auswirkungen der Zeitläufte "auf den kleinen Mann", dem Publikum gefällt das offensichtlich, und Trutz kommt auf die Erfolgsspur, darf sogar für die "Weltbühne" schreiben. Was wichtig und was beunruhigend ist in diesen Jahren, wird entweder im Schnellverfahren rekapituliert - "die Folgen des Wirtschaftschaos und der Reparationsforderungen der Siegermächte" - oder in Dialogen besprochen, in denen Sätze fallen wie dieser: "Ich lese gerade die Briefe Voltaires, du weißt, des großen Franzosen."
Für die Darstellung der zwanzig Jahre, die auf 1933 folgen, bringt Christoph Hein phasenweise größere schriftstellerische Geduld und Genauigkeit auf. Familie Trutz ist nach Moskau emigriert, nun kommt die Familie Gejm ins Spiel, deren Oberhaupt Sprachwissenschaft und Mathematik an der Moskauer Universität lehrt. Sein einziges Interesse ist die Mnemonik, die Herausbildung einer Gedächtnistechnik, die im Idealfall dazu führen soll, dass man nie mehr irgendetwas vergisst. So wird es dann später bei Trutz' Sohn Maykl, der schon als Kind zusammen mit dem Sohn des Professors diese Schulung durchmacht, auch der Fall sein. Von Politik wie vom praktischen Leben versteht der Professor nicht die Bohne, wie überhaupt die Männer in diesem Roman mehrheitlich tumbe Toren zu sein scheinen, ihre Frauen dagegen die politischen Zeichen besser zu lesen und das praktische Leben besser zu bewältigen verstehen: patente Mädels sie alle. Rainer Trutz arbeitet derweil beim U-Bahn-Bau, seine Frau in einer Schokoladenfabrik. Den Kontakt zwischen den beiden Familien hat natürlich Lilija hergestellt.
Um es kurz zu machen: Die Verhältnisse ändern sich; am Ende ist Professor Gejm die Zielscheibe eines zentralen Artikels in der "Prawda", der eventuell von Stalin selbst geschrieben wurde. Die Familie Trutz wird Opfer anderer Intrigen, alle werden deportiert und sterben letztlich an der Zwangsarbeit oder, wie Rainer Trutz, schon am Tag seiner Ankunft im Lager an der Gewalt durch einen Kapo. In diesen Passagen ist Hein am stärksten und genauesten. Der plötzliche Tod des Rainer Trutz zum Beispiel trifft den Leser, der sonst fast alles in diesem Roman vorhersehen kann, bevor es erzählt wird, völlig unvorbereitet.
Von der Familie Trutz überlebt nur Maykl, der 1952, er ist jetzt achtzehn, in die DDR ausreisen darf und dort als Archivar arbeitet. Er entdeckt auf diesem Weg einen alten Nazi in der SED-Führung, lernt in Wien kurz Simon Wiesenthal kennen - in diesem Roman dürfen viele berühmte Namen ein kurzes Gastspiel geben -, erleidet dann durch Pech und eigenes Ungeschick einen Karriereknick. Mit den Frauen hat er, bis auf die letzte, kein Glück. Es gibt dann einen Tigersprung über mehrere Jahrzehnte hinweg bis zur Wende, und Maykls Ungeschick setzt sich auch danach fort. Am Ende sieht er seinen Kindheitsfreund Rem wieder, der in Moskau als Armeedolmetscher Karriere gemacht hat und lange Zeit nicht ausreisen durfte. Da sie sich 48 Jahre nicht gesehen haben, tauschen sie im Gespräch miteinander noch einmal all das aus, was wir Leser schon wissen, wobei sie sich fröhlich-melancholisch mit Wodka besaufen. Der Roman endet tatsächlich mit der bekannten Liedzeile "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist".
Heins Roman scheitert, neben etlichen sprachlichen Unglücksfällen, vor allem an der Position des Erzählers und dessen mangelnder Erzählökonomie. Er weiß zu viel und möchte uns das auch alles erzählen. Das meiste von dem wissen wir aber schon sehr lange. Und manches davon, etwa, was es hieß, als "Verräter" in einem Stalinschen Gefängnis zu sitzen, hat man anderswo bereits sehr viel eindrucksvoller gelesen, zum Beispiel in Koestlers "Sonnenfinsternis". Dass das Erzählte unbestreitbar über weite Strecken spannend ist, liegt nicht am Erzähler, sondern an der Wucht der Geschichte. Die hat in diesem Fall die Literatur besiegt.
JOCHEN SCHIMMANG
Christoph Hein: "Trutz". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 477 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Christoph Heins "literarische Klarheit" wird in seinem neuen Roman "zur Rache an den ideologisch verdrehten Folterknechten" des Stalinismus, begeistert sich Rezensent Carsten Otte. Mehr Lob als Otte über diesem Autor und seinem Roman ausschüttet, ist wahrlich kaum vorstellbar. Klar und direkt, im Tonfall eines Chronisten, erzählt er vom Mnemotechniker Maykl Trutz, der nicht vergessen kann und dafür immer wieder bezahlen muss, lesen wir, dabei gelingt dem Autor ein breites historisches Panorama der europäischen Gewaltregime des 20. Jahrhunderts, der Lügen und Verbrechen, des Verschweigens und Schweigendmachens. Höchste Zeit, dass Hein endlich den lange verdienten Büchner-Preis oder Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, so der enthusiastische Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Meisterwerk.
Sehr unterhaltsam und leicht lesbar, dabei überaus kenntnisreich schildert Christoph Hein deutsche (und russische) Geschichte von unten, als Familien- und Freundschaftsgeschichte. Sein Ton ist geadezu westernhaft lakonisch, was die Bitterkeit der Schicksale ganz besonders …
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Ein Meisterwerk.
Sehr unterhaltsam und leicht lesbar, dabei überaus kenntnisreich schildert Christoph Hein deutsche (und russische) Geschichte von unten, als Familien- und Freundschaftsgeschichte. Sein Ton ist geadezu westernhaft lakonisch, was die Bitterkeit der Schicksale ganz besonders unterstreicht. Der Leser erfährt hautnah, wie es sich für den rechtschaffenen Normalbürger anfühlt, wenn Kriminelle an der Macht sind, die mittels irgend eines perfiden Glaubens (ganz gleich ob links oder rechts oder sonstwie bigott) andere gnadenlos terrorisieren. Hört diese Geschichte jemals auf? fragt sich der Leser am Ende. Hein lässt es offen.
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Gebundenes Buch
Der mit Preisen üppig dekorierte Schriftsteller Christoph Hein erzählt in seinem Roman «Trutz», wie zwei Familien in Deutschland und Russland ins Mahlwerk der Geschichte geraten. Im Vorwort erfahren wir: «In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine …
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Der mit Preisen üppig dekorierte Schriftsteller Christoph Hein erzählt in seinem Roman «Trutz», wie zwei Familien in Deutschland und Russland ins Mahlwerk der Geschichte geraten. Im Vorwort erfahren wir: «In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit». Bei einem Vortrag nämlich trifft er zufällig auf Maykl Trutz, der ganz offensichtlich ein phänomenales Gedächtnis hat und aus dem Stehgreif mit seinen gezielten Fragen die Rednerin arg in Verlegenheit bringt. Von dem verblüfften Ich-Erzähler angesprochen, woher er denn seine Detailkenntnisse habe, erklärt er: «Ich habe es irgendwann einmal gelesen. Und was ich gelesen habe, weiß ich. Und wenn ich es aufgeschrieben habe, weiß ich es für alle Zeiten». Von ihm stammt die Geschichte, die hier erzählt wird, und ihm hat der Autor sein Epos auch gewidmet.
Die Mnemonik, die Kunst des Gedächtnistrainings also, zieht sich wie ein roter Faden durch den Plot, der von der Weimarer Republik bis ins neue Jahrtausend hinein insbesondere die verheerenden Auswirkungen der durch die Nazis und Stalin, aber auch durch die SED errichteten Diktaturen am Beispiel seiner Protagonisten verdeutlicht. Da ist zunächst Maykls Vater Rainer, der nach der Schule aus seinem kleinen Dorf nach Berlin geht, um dort als Schriftsteller sein Glück zu versuchen. Er schreibt eine kritische Rezension für die «Weltbühne» über die Reise einer Gruppe von Schriftstellern durch die Sowjetunion und hat mit einem kleinen Roman seinen ersten Erfolg, bis plötzlich im «Stahlhelm», dem Kampfblatt der Nazis, eine bösartige Kritik erscheint, der sich alle anderen Zeitschriften geflissentlich anschließen, - er ist als Autor damit vernichtet. Mit seiner Lebensgefährtin, die einer christlichen Gewerkschaft angehört und ebenfalls unter politischen Druck gerät, emigriert er schließlich nach Moskau. Sie bauen sich dort unter großen Mühen ein bescheidenes Leben auf und bekommen 1934 einen Sohn, Maykl.
Bei einer Weihnachtsfeier mit ihrer russischen Freundin lernen sie Waldemar Gejm kennen, Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft, der als Pionier der Mnemonik in Russland erfolgreiche Studien betreibt. Selbst sein kleiner Sohn Rem und Maykl werden darin einbezogen, als sie zwei Jahre alt sind, beide machen begeistert mit, die Knirpse profitierten deutlich erkennbar von dem neuartigen Gedächtnistraining. Bis plötzlich beide Familien Opfer der stalinschen Säuberungen werden und man sie unter völlig unhaltbaren Anschuldigungen zur Zwangsarbeit im Osten verurteilt, die beide Elternpaare letztendlich nicht überleben. Auch in der DDR leidet der später nach Deutschland zurückgekehrte Maykl erneut unter politischer Willkür, er trifft Rem schließlich erst nach 48 Jahren wieder, als beide schon pensioniert sind.
Dramaturgisch geschickt erzählt Hein in drei Teilen seine ebenso spannende wie bewegende Geschichte von der oft abstrusen politischen Willkür dieses für das Menschsein eher katastrophalen, rückschrittlichen Jahrhunderts. Wobei er sich einer geradezu «zweckdienlichen», schnörkellos klaren Sprache bedient, die besonders in den lebensechten Dialogen überzeugt. Auch die Verstrickung der beiden Familienschicksale ist glaubwürdig dargestellt. Allerdings hat man all das, wovon berichtet wird, schon anderswo gelesen, sieht man mal von der Mnemonik ab, und es wird leider auch so manches Klischee bemüht. Zuweilen stellt sich - auch durch einige unnötige Wiederholungen - Langeweile ein bei den detailverliebten, aber eben auch ausufernden Schilderungen. Ironie mithin, weil Maykls Verleger im Roman ihn ermahnt, nicht mehr als 150 Seiten zu schreiben bei seinem zweiten Romanprojekt, - Hein selbst braucht 477, Suhrkamp ist da deutlich großzügiger. Und das Couplet «Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist» am Ende von Rems Trauerfeier, das auch den letzten Satz des Romans bildet, den Maykl da vor sich hinträllert, ist geradezu unglaublich kitschig. Schade!
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