Cemile Sahin
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TAXI
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Eine Mutter, ihr verschollener Sohn und einer, der ihn ersetzen soll, stehen im Zentrum des Debüts der Künstlerin Cemile Sahin, dem ersten im Korbinian Verlag erscheinendem Roman.»TAXI« ist ein in Form und Inhalt gleichermaßen beeindruckender und filmischer Ride hinein in die Lebenswelt Kriegs-gebeutelter Menschen, die versuchen die Deutungshoheit über das eigene Leben und die eigene Erzählung zu behalten. Durch den bewussten Verzicht auf eine eindeutige Verortung der geschilderten Realität in das Weltgeschehen macht »TAXI« klar: was diese Geschichte erzählt könnte jeden treffen un...
Eine Mutter, ihr verschollener Sohn und einer, der ihn ersetzen soll, stehen im Zentrum des Debüts der Künstlerin Cemile Sahin, dem ersten im Korbinian Verlag erscheinendem Roman.»TAXI« ist ein in Form und Inhalt gleichermaßen beeindruckender und filmischer Ride hinein in die Lebenswelt Kriegs-gebeutelter Menschen, die versuchen die Deutungshoheit über das eigene Leben und die eigene Erzählung zu behalten. Durch den bewussten Verzicht auf eine eindeutige Verortung der geschilderten Realität in das Weltgeschehen macht »TAXI« klar: was diese Geschichte erzählt könnte jeden treffen und passiert zwangsläufig überall dort, wo Krieg herrscht.»TAXI« ist ein Roman, der einen spüren lässt, wie es ist eine Mutter zu sein, die ihren Sohn im Krieg verliert. Frau Kaplan, so der Name der Mutter, fängt im Angesicht dieses Verlustes, den sie nicht akzeptieren kann, an ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen.»TAXI« stellt die Frage, was von Obrigkeiten aufgesetzte Narrative mit den Menschen und ihrem Verhalten machen und inwieweit diese ihr Leben bestimmen. Frau Kaplan beschließt kein Opfer dieser ihr aufgepfropften Erzählung zu sein.
Produktdetails
- Verlag: Korbinian
- Artikelnr. des Verlages: 80941480
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 220
- Erscheinungstermin: 1. Oktober 2019
- Deutsch
- Abmessung: 188mm x 122mm x 21mm
- Gewicht: 262g
- ISBN-13: 9783982122014
- ISBN-10: 3982122015
- Artikelnr.: 57542955
Herstellerkennzeichnung
Korbinian Verlag
Ritterstraße 2
10969 Berlin
korbinian@korbinian-verlag.de
Die Wiederholung
Kein richtiges Leben im falschen Film: In Cemile Sahins Debütroman "Taxi" wird Trauerarbeit zum Rollenspiel
Der Bachmannpreis gilt als wichtigste Auszeichnung für junge deutschsprachige Literatur. Versagt seiner Jury die kritische Stimme, dann bedeutet dies einiges. Zuletzt passierte das 2019, nachdem die Leipziger Schriftstellerin Ronya Othmann in Klagenfurt einen Text über den Genozid an den Jesiden vorgestellt hatte. Einige Jurymitglieder sahen sich angesichts der Erzählung von den Greueltaten des "Islamischen Staates" ihrer Urteilsfähigkeit beraubt. Wie lässt sich, fragte einer, denn überhaupt angemessen über Unsagbares, über unvorstellbare Grausamkeiten, über einen Krieg
Kein richtiges Leben im falschen Film: In Cemile Sahins Debütroman "Taxi" wird Trauerarbeit zum Rollenspiel
Der Bachmannpreis gilt als wichtigste Auszeichnung für junge deutschsprachige Literatur. Versagt seiner Jury die kritische Stimme, dann bedeutet dies einiges. Zuletzt passierte das 2019, nachdem die Leipziger Schriftstellerin Ronya Othmann in Klagenfurt einen Text über den Genozid an den Jesiden vorgestellt hatte. Einige Jurymitglieder sahen sich angesichts der Erzählung von den Greueltaten des "Islamischen Staates" ihrer Urteilsfähigkeit beraubt. Wie lässt sich, fragte einer, denn überhaupt angemessen über Unsagbares, über unvorstellbare Grausamkeiten, über einen Krieg
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sprechen?
Wäre es nicht eine zeitliche Unmöglichkeit, ließe sich behaupten, Cemile Sahins Debüt "Taxi", der erste Roman im Korbinian Verlag, der vor einigen Jahren angetreten war, den Literaturbetrieb umzukrempeln, sei eine Antwort auf die ratlose Jurydiskussion in Klagenfurt. Der Roman stellt die Frage nach der Erzählbarkeit des Grauens vom Kopf auf die Füße. Er zeigt: Das Sprechen über den Krieg kann nur unzulängliche Annäherung sein. Aber auch das Schweigen ist keine Option.
"Taxi" ist ein auf Pointe geschriebener Episodenroman im Stil einer Netflix-Serie: aufgeregt, rasant und hinsichtlich der Verortung in Raum und Zeit so offen wie gegenwärtig. Die Hauptfigur Rosa Kaplan kommt aus einem Land, von dem heute nur die Fahne übrig geblieben ist und dessen Krieg sie zwei Söhne gekostet hat. Den ersten im Säuglingsalter, als ihr Haus bombardiert wurde, den zweiten, Polat, im Erwachsenenalter als Soldat. Seit seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde, gilt er als vermisst, nach zehn Jahren erklärte man wider den mütterlichen Willen seinen Tod. Das leere Grab, das die Trauer erleichtern soll, besucht Rosa aus Prinzip nie.
In der gleichen Stadt lebt Rosas Spiegelfigur. Ein namenloser junger Mann, der seine Eltern zum letzten Mal sah, als sie mit einem Lkw abgeholt wurden. Der Namenlose gehört einer Jugend an, die im Krieg aufgewachsen ist und von der es im Roman heißt, dass für sie das Leben von Anfang an verbraucht war. Seine emotionale Amplitude ist so gering wie seine existentielle Ortlosigkeit groß. Weil er dazu dem verschollenen Sohn ähnlich sieht, wird er von Rosa auserkoren, die Hauptrolle in einer Serie zu spielen, die sie sich in den grausamen Jahren mütterlicher Entbehrung ausgedacht hat. Es ist eine Serie über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der eine Amnesie erlitten hatte, nicht biblisch, sondern mythologisch, inspiriert von Pathos und Katharsis. Warum das alles? Man hört nicht auf, Mutter zu sein, auch wenn man keinen Sohn mehr hat, heißt es über Rosa, und dies ist einer der in diesem Roman zahlreichen Sätze, die mit den Abgründen des Verlusts so nonchalant umgehen, als gäbe es keine Hierarchie der Schrecklichkeiten.
Der Namenlose begibt sich in Rosas Hände, nicht als Ersatz, sondern als Reinkarnation des verlorenen Sohnes. In monatelangen zermürbenden Rollenspielen verinnerlicht er die Eigenschaften Polats. Über lange Kapitel hinweg schildert der Roman die allmähliche Auflösung der einen und die Wiederauferstehung der anderen Existenz, wobei der Rollenspieler sich ganz der Skriptschreiberin Rosa überlässt: "ich wurde gefunden und ich gehe mit", "ich bin da, um ihre Lücke zur Geschichte zu schließen". Was wie Altruismus daherkommt, ist tatsächlich eine mimetische Vermeidungsstrategie. In der Rolle Polats darf er den Krieg vergessen. Der Rollentausch, der irgendwo zwischen Gabe und Diebstahl changiert, vereint zwei Hälften: "eine Frau ohne Sohn. Und ein Mann ohne Mutter". Pathologischer noch: "Mutter hat kein Gewissen mehr, weil sie ihr Kind verloren hat, und deshalb braucht sie mich, damit ich ihr Gewissen ersetze."
Auch Rosas Intention ist doppelbödig. Das Rollenspiel geht mit einem traumatischen Wiederholungszwang des Verlusts einher. Sie leidet darunter, dass der neue den alten Sohn nicht vollständig ersetzen kann, dass ihr Schmerz niemals absolute Heilung erfahren wird, und treibt deshalb das Rollenspiel wahnhaft an seine Grenzen. Ein Beispiel: Damit das Gesicht des neuen dem des alten Polat noch ähnlicher wird, bricht sie seine Nase mit einem Baseballschläger. Kann plastischer erzählt werden, wie hässlich sich ein Verlust schmerzend in die Psyche einfügen kann?
Aber die Lücke lässt sich nicht schließen. In dem Moment, in dem Rosas Theater der Beschwörung einer heilen Gegenwart beginnt, zeigt es schon Risse. Der erste auserwählte Zuschauer, der Postbote, wusste nichts von einem verschwundenen Sohn, die Nachbarin stellt skeptische Fragen, und die Verlobte erkennt die Kopie sofort. Wir bleiben eben "an die Geschichte genäht", sagt Schauspieler-Polat über sich und seine Mutter, und dies ist der zweite Grund, warum die Serie, ja das ganze Rollenspiel scheitern wird: Die Kriegserinnerungen der beiden sind gespenstisch anwesend, überblenden immer wieder den so herbeigesehnten Alltag. Das serielle, stark durchkonstruierte Formprinzip des Romans ähnelt dabei dem Charakter der schlechten Lüge: So wie die Serie von Anfang an auf das Finale konditioniert ist, erwartet man mit jeder Seite das Ereignis, das dem Rollenspiel endlich ein Ende bereitet.
"Taxi" ist ein Roman über den brennenden Wunsch, einen Verlust zu kompensieren, und darüber, dass auch Fiktion kaum Linderung verspricht. Sahins großes Talent liegt darin, Schmerz und Verlust überzeugend in die Körper ihrer Figuren zu legen. Meisterhaft vereint sie in ihnen Vergangenheit und Gegenwart in einer Koexistenz der Trauer, auch wenn die durchgehende Referenz auf eine Fernsehserie, die hollywoodreifen Szenenwechsel und das mitunter zu schnelle Erzähltempo streckenweise stark forciert wirken.
Wie man hört, plant Cemile Sahin, die eigentlich bildende Künstlerin ist, nach dem großen Erfolg von "Taxi" bereits im Herbst ihren zweiten Roman zu veröffentlichen. Mit mehr narrativer Lässigkeit und ohne die für viele Debütromane typische Tendenz zur Leistungsschau, aber der gleichen moralischen Sensibilität in der Figurenzeichnung könnte dabei etwas Großes herauskommen.
MIRYAM SCHELLBACH
Cemile Sahin: "Taxi".
Roman.
Korbinian Verlag, Berlin 2019. 220 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wäre es nicht eine zeitliche Unmöglichkeit, ließe sich behaupten, Cemile Sahins Debüt "Taxi", der erste Roman im Korbinian Verlag, der vor einigen Jahren angetreten war, den Literaturbetrieb umzukrempeln, sei eine Antwort auf die ratlose Jurydiskussion in Klagenfurt. Der Roman stellt die Frage nach der Erzählbarkeit des Grauens vom Kopf auf die Füße. Er zeigt: Das Sprechen über den Krieg kann nur unzulängliche Annäherung sein. Aber auch das Schweigen ist keine Option.
"Taxi" ist ein auf Pointe geschriebener Episodenroman im Stil einer Netflix-Serie: aufgeregt, rasant und hinsichtlich der Verortung in Raum und Zeit so offen wie gegenwärtig. Die Hauptfigur Rosa Kaplan kommt aus einem Land, von dem heute nur die Fahne übrig geblieben ist und dessen Krieg sie zwei Söhne gekostet hat. Den ersten im Säuglingsalter, als ihr Haus bombardiert wurde, den zweiten, Polat, im Erwachsenenalter als Soldat. Seit seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde, gilt er als vermisst, nach zehn Jahren erklärte man wider den mütterlichen Willen seinen Tod. Das leere Grab, das die Trauer erleichtern soll, besucht Rosa aus Prinzip nie.
In der gleichen Stadt lebt Rosas Spiegelfigur. Ein namenloser junger Mann, der seine Eltern zum letzten Mal sah, als sie mit einem Lkw abgeholt wurden. Der Namenlose gehört einer Jugend an, die im Krieg aufgewachsen ist und von der es im Roman heißt, dass für sie das Leben von Anfang an verbraucht war. Seine emotionale Amplitude ist so gering wie seine existentielle Ortlosigkeit groß. Weil er dazu dem verschollenen Sohn ähnlich sieht, wird er von Rosa auserkoren, die Hauptrolle in einer Serie zu spielen, die sie sich in den grausamen Jahren mütterlicher Entbehrung ausgedacht hat. Es ist eine Serie über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der eine Amnesie erlitten hatte, nicht biblisch, sondern mythologisch, inspiriert von Pathos und Katharsis. Warum das alles? Man hört nicht auf, Mutter zu sein, auch wenn man keinen Sohn mehr hat, heißt es über Rosa, und dies ist einer der in diesem Roman zahlreichen Sätze, die mit den Abgründen des Verlusts so nonchalant umgehen, als gäbe es keine Hierarchie der Schrecklichkeiten.
Der Namenlose begibt sich in Rosas Hände, nicht als Ersatz, sondern als Reinkarnation des verlorenen Sohnes. In monatelangen zermürbenden Rollenspielen verinnerlicht er die Eigenschaften Polats. Über lange Kapitel hinweg schildert der Roman die allmähliche Auflösung der einen und die Wiederauferstehung der anderen Existenz, wobei der Rollenspieler sich ganz der Skriptschreiberin Rosa überlässt: "ich wurde gefunden und ich gehe mit", "ich bin da, um ihre Lücke zur Geschichte zu schließen". Was wie Altruismus daherkommt, ist tatsächlich eine mimetische Vermeidungsstrategie. In der Rolle Polats darf er den Krieg vergessen. Der Rollentausch, der irgendwo zwischen Gabe und Diebstahl changiert, vereint zwei Hälften: "eine Frau ohne Sohn. Und ein Mann ohne Mutter". Pathologischer noch: "Mutter hat kein Gewissen mehr, weil sie ihr Kind verloren hat, und deshalb braucht sie mich, damit ich ihr Gewissen ersetze."
Auch Rosas Intention ist doppelbödig. Das Rollenspiel geht mit einem traumatischen Wiederholungszwang des Verlusts einher. Sie leidet darunter, dass der neue den alten Sohn nicht vollständig ersetzen kann, dass ihr Schmerz niemals absolute Heilung erfahren wird, und treibt deshalb das Rollenspiel wahnhaft an seine Grenzen. Ein Beispiel: Damit das Gesicht des neuen dem des alten Polat noch ähnlicher wird, bricht sie seine Nase mit einem Baseballschläger. Kann plastischer erzählt werden, wie hässlich sich ein Verlust schmerzend in die Psyche einfügen kann?
Aber die Lücke lässt sich nicht schließen. In dem Moment, in dem Rosas Theater der Beschwörung einer heilen Gegenwart beginnt, zeigt es schon Risse. Der erste auserwählte Zuschauer, der Postbote, wusste nichts von einem verschwundenen Sohn, die Nachbarin stellt skeptische Fragen, und die Verlobte erkennt die Kopie sofort. Wir bleiben eben "an die Geschichte genäht", sagt Schauspieler-Polat über sich und seine Mutter, und dies ist der zweite Grund, warum die Serie, ja das ganze Rollenspiel scheitern wird: Die Kriegserinnerungen der beiden sind gespenstisch anwesend, überblenden immer wieder den so herbeigesehnten Alltag. Das serielle, stark durchkonstruierte Formprinzip des Romans ähnelt dabei dem Charakter der schlechten Lüge: So wie die Serie von Anfang an auf das Finale konditioniert ist, erwartet man mit jeder Seite das Ereignis, das dem Rollenspiel endlich ein Ende bereitet.
"Taxi" ist ein Roman über den brennenden Wunsch, einen Verlust zu kompensieren, und darüber, dass auch Fiktion kaum Linderung verspricht. Sahins großes Talent liegt darin, Schmerz und Verlust überzeugend in die Körper ihrer Figuren zu legen. Meisterhaft vereint sie in ihnen Vergangenheit und Gegenwart in einer Koexistenz der Trauer, auch wenn die durchgehende Referenz auf eine Fernsehserie, die hollywoodreifen Szenenwechsel und das mitunter zu schnelle Erzähltempo streckenweise stark forciert wirken.
Wie man hört, plant Cemile Sahin, die eigentlich bildende Künstlerin ist, nach dem großen Erfolg von "Taxi" bereits im Herbst ihren zweiten Roman zu veröffentlichen. Mit mehr narrativer Lässigkeit und ohne die für viele Debütromane typische Tendenz zur Leistungsschau, aber der gleichen moralischen Sensibilität in der Figurenzeichnung könnte dabei etwas Großes herauskommen.
MIRYAM SCHELLBACH
Cemile Sahin: "Taxi".
Roman.
Korbinian Verlag, Berlin 2019. 220 S., br., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensentin Emeli Glaser hat beim Lesen verstanden, dass Cemile Sahins Debütroman gerade zu Recht überall gefeiert wird: Einerseits fand sie die Geschichte über eine Frau, die das Verschwinden ihres Sohns im Krieg nicht akzeptiert und deshalb mit einem Doppelgänger seine Rückkehr inszeniert, rasend komisch, andererseits scheint in der irrwitzigen Farce auch die Tragik derjenigen durch, die durch Kriege traumatisiert wurden, erklärt sie. Glaser hofft, dass sie nicht allzu lange auf eine Verfilmung warten muss, schließlich eignet sich der Roman dank seiner filmischen Erzählweise bestens dafür, wie sie versichert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Mann lebt ein gleichförmiges Dasein, man könnte die Uhr nach seinen Routinen stellen, bis eines Tages selbige unterbrochen wird. Eine unbekannte Frau scheint ihn zu beobachten und verfolgen, seit Wochen schon. Als sie ihm erklärt, weshalb sie das tut, kann er es nicht glauben: sie …
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Ein Mann lebt ein gleichförmiges Dasein, man könnte die Uhr nach seinen Routinen stellen, bis eines Tages selbige unterbrochen wird. Eine unbekannte Frau scheint ihn zu beobachten und verfolgen, seit Wochen schon. Als sie ihm erklärt, weshalb sie das tut, kann er es nicht glauben: sie will, dass er zurückkommt, dass ihr Kind endlich wieder bei ihr ist. Doch das ist nicht seine Mutter, sondern eine Fremde, die offenbar den Verlust ihres Sohnes Polat nicht verwunden hat, der als Soldat im Krieg gefallen und mit Ehren beerdigt wurde, auch wenn man seinen Leichnam nicht gefunden hat. Er lässt sich darauf ein, wird Polat Kaplan, der verschollene Sohn. Über Monate üben sie heimlich die neue Rolle, ein exaktes Drehbuch hat die Mutter verfasst, eine genaue Vorstellung davon hat sie, wie sie Polat ihren Nachbarn präsentieren wird. Was als skurriler Spleen beginnt, übernimmt jedoch zusehends die Realität und bald lassen sich beide nicht mehr trennen.
Cemile Sahins Debütroman ist zunächst eine Herausforderung an den Leser. Man merkt, dass die studierte Künstlerin eigenwillig arbeitet und sich von Konventionen nicht aufhalten lässt. Man muss sich daher in den Text einlesen und sich auf ihn einlassen, dann jedoch entfaltet er sein Potenzial.
Sie greift dabei interessante und auch brisante Themen auf. Weder Land noch Ort sind genau definiert, es herrscht Krieg, das Militär verfügt über große Macht und kann Geschichte nach eigenem Gutdünken schreiben. Die Emotionen und Bedürfnisse einer Mutter dürfen dabei nicht stören. Wenn jene die Realität nach eigenen Vorstellungen modellieren können, warum dann nicht auch die trauernde Mutter? Es bleibt offen, ob dies ein verzweifelter Akt einer psychisch schwer gebeutelten Frau ist oder ob sie nicht eher Mauern eingerissen hat, die ohnehin schon am Bröckeln war.
Wenn es Reality-TV gibt, wieso sollte es dann nicht auch das Gegenstück, quasi gespielte Wirklichkeit geben? Was als moderner Gedanke anmutet, ist sozilogisch betrachtet eigentlich ein alter Hut, Erving Goffmans "Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“ stammt immerhin aus den 1950ern und postulierte damals schon, dass wir, in Interaktion mit anderen und wenn wir uns beobachtet fühlen, immer versuchen, ein bestimmtes Bild von uns zu präsentieren und unser Selbst wird erst durch das geschaffen, was die anderen in uns sehen. Der Roman geht einfach nur einen Schritt weiter und bald schon findet die Verschmelzung der beiden Ichs statt und sie werden immer schwerer voneinander zu trennen.
Fiktion und Metafiktion und doch: am Ende kann nichts das Leid, das durch Krieg erschaffen wird, lindern. Eine eigenwillige Autorin, die sich leicht zwischen Genres und bekannten Formen bewegt und diese überzeugend neu komponiert.
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Broschiertes Buch
Ein mutiges Buch über Identitäten und Verlusten
Taxi ist ein unkonventioneller Roman. Ein Mann übernimmt eine Rolle. Er mimt den im Krieg verschollen Sohn, dessen Platz er bei der Mutter einnimmt. Rosa Palot hat ihn engagiert und die Kapiteln entsprechen Episoden einer Serie, die …
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Ein mutiges Buch über Identitäten und Verlusten
Taxi ist ein unkonventioneller Roman. Ein Mann übernimmt eine Rolle. Er mimt den im Krieg verschollen Sohn, dessen Platz er bei der Mutter einnimmt. Rosa Palot hat ihn engagiert und die Kapiteln entsprechen Episoden einer Serie, die im realen Leben stattfindet. Ein Leben wie im Film.
Der Schauspieler geht in seiner Rolle ganz und gar auf und scheint bald keine eigene Identität mehr zu haben. Akzeptiert wird er überraschenderweise auch von Palots Freundin Esra.
Neben dem absurden Humor kennzeichnet den Roman auch eine außergewöhnliche Härte, die sich aus den Themen Krieg, Mord und Folter ergibt.
Cemile Sahin schreibt ihren Debütroman über ein Experiment, das sich auch sprachlich überträgt.
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